Donnerstag, 22. Dezember 2011

Hugo Distler - Die Weihnachtsgeschichte

Kurz vor den Feiertagen möchte ich hier noch ein kleines aber feines weihnachtliches Musikstück vorstellen:

Es handelt sich um das Chorwerk "Die Weihnachtsgeschichte", das Hugo Distler (1908-42) im Jahr 1933 komponiert hat und das im Dezember desselben Jahres in Lübeck (wo Distler von 1931 bis 1937 als Kantor tätig war) uraufgeführt wurde.

Die Weihnachtsgeschichte op. 10 für vierstimmigen gemischten Chor a cappella und vier Vorsänger, wie Distlers Komposition mit vollständigem Titel heißt, ist eine wunderbar besinnliche Komposition, die ganz auf den sonst oft weihnachtsüblichen Pomp und Lärm verzichtet und stattdessen ausschließlich auf die Wirkung und Kraft der menschlichen Stimme setzt.

In diesem ca. 40-minütigen Chorwerk werden mehrere Episoden der bekannten Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas- und dem Matthäusevangelium von einem Erzähler (zu Bachs Zeiten hätte dieser den Titel Evangelist erhalten) vorgetragen - hinzu kommen noch die der Geburt vorangehende Verkündigung des Engels an Maria sowie deren Besuch bei ihrer Cousine Elisabeth und zum Schluss noch die Begegnung des greisen Simeon mit dem neugeborenen Jesus im Tempel zu Jerusalem.

Eingerahmt werden diese erzählerischen Abschnitte (in denen - ganz nach der Tradition - der Chor den Part der Hirten, Engel und Weisen aus dem Morgenland und die Solostimmen die Worte der Einzelpersonen der Geschichte übernehmen) von zwei längeren, motettenartigen Chorsätzen. Während der Rest der Weihnachtsgeschichte so knapp und einfach wie möglich gehalten ist, wird Distlers Komposition zum Ein- und Ausklang etwas ausführlicher, wenn er hier die Bibelworte "Das Volk, so im Finstern wandelt" (aus Jesaja Kapitel 9) und zum Abschluss "Also hat Gott die Welt geliebt" (aus dem Johannesevangelium Kapitel 3) in seinem unverkennbaren Stil gestaltet - mit interessanten rhythmischen Passagen und Vokalauszierungen sowie mitunter unerwarteten harmonischen Wendungen, das Ganze aber immer sehr textverständlich und transparent!

Charakteristisch für Distler ist sein Anspruch an eine gewisse Einfachheit im Ausdruck (die deswegen nicht plump oder einfallslos daherkommen muss - darin liegt ja gerade die Raffinesse!) und die größtmögliche Tauglichkeit seiner Musik für die liturgische Praxis im Gottesdienst, was den Verzicht auf jeglichen unnötigen aufführungstechnischen Aufwand für seine geistlichen Chorwerke erklärt.

Zwischen die einzelnen Episoden der Weihnachtsgeschichte (auch die Solisten singen völlig ohne jede Instrumentalbegleitung) fügt Distler quasi als gliederndes und verbindendes Element immer wieder Strophen des bekannten Weihnachtslieds "Es ist ein Ros entsprungen" ein, die er sehr kunstvoll jedes Mal in neuem Stimmsatz erklingen lässt. An der Stelle, wo die Alt-Solistin Marias Lobgesang "Meine Seele erhebt den Herrn" (das Magnificat) erklingen lässt, kombiniert Distler diesen sogar mit einer gleichzeitig vom Chor vorgetragenen weiteren Liedstrophe - ausgesprochen raffiniert!

Ich mag Distlers Weihnachtsgeschichte auch deswegen so gern, weil man beim Zuhören wirklich zur Ruhe kommt und der eigentlich in- und auswendig bekannten Weihnachtserzählung jedes Mal aufs Neue wieder konzentriert lauscht - ich mag diese besinnliche, leichte und zugleich freudig-erwartungsvolle Stimmung, die von dieser Musik ausgeht und kann mich ihrer Wirkung nicht entziehen!
Distler wurde bei der Konzeption und Komposition seiner Weihnachtsgeschichte hörbar von ähnlichen Kompositionen von Heinrich Schütz (1585-1672) inspiriert (man vergleiche Distlers Werk nur einmal mit der "Historia der Geburt Christi"!), dessen Musik er sehr schätzte und bewunderte.

Live muss das Ganze bestimmt eine noch unmittelbarere Wirkung entfalten, leider - zumindest habe ich diesen Eindruck - wird Distlers Weihnachtsgeschichte offenbar nicht allzu häufig aufgeführt, dabei spräche die Tatsache, dass man für eine Aufführung weder Orgel oder Orchester noch gewaltige Chormassen benötigt, eigentlich für eine größere Verbreitung dieses Werks. Also muss man sich wohl mit den auch nicht gerade zahlreich vorhandenen CD-Aufnahmen behelfen.

Ich besitze eine Einspielung dieses Werks aus dem Jahr 1979 mit dem Leipziger Thomanerchor unter der Leitung seines damaligen Kantors Hans-Joachim Rotzsch, der mit seinem angenehm zu hörenden Tenor auch die Solistenrolle des Erzählers übernommen hat.


Die Akustik (Aufnahmeort war die Leipziger Paul-Gerhardt-Kirche) ist gut - eine gelungene Mischung aus leichtem Hall (der ein natürliches Raumgefühl vermittelt), ohne im Gegenzug an Transparenz und der Durchhörbarkeit einzelner Stimmen zu verlieren.

Auf diesem Wege wünsche ich allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs ein paar schöne und hoffentlich auch musikalische Weihnachtstage!

Freitag, 16. Dezember 2011

Weihnachtsoper - es muss nicht immer "Hänsel und Gretel" sein

In der Vorweihnachtszeit gehören Opern wie Humperdincks "Hänsel und Gretel" oder auch Mozarts "Zauberflöte" offenbar zu den unverzichtbaren Bestandteilen der Spielpläne unserer Opernhäuser. Sicher - gerade Märchenopern sind natürlich zu dieser Jahreszeit eine hübsche Zutat für weihnachtliche Stimmung (vor allem natürlich, wenn es für viele Kinder das erste Mal ist, dass sie eine Opernaufführung besuchen - so was prägt schon sehr!), aber warum greift man nicht gleich auf Opern zurück, die eine Weihnachtsgeschichte zum Inhalt haben?

Ja - auch so was gibt es!
Das Problem ist nur, dass diese (zugegeben nicht besonders zahlreichen) Opern viel zu selten einmal auf irgendeinem Spielplan auftauchen, dabei sollte man meinen, dass es sich gerade bei solchen Werken um ähnlich unsterbliche Klassiker handelt, wie bei den musikalischen oder filmischen "Christmas-Evergreens" à la "White Christmas" oder "Der kleine Lord", die einem ja auch jedes Jahr wieder unaufhaltsam aus diversen Lautsprechern entgegenschallen bzw. unausweichlich im TV-Programm auftauchen.

Aber weit gefehlt - "richtige" Weihnachtsopern sind und bleiben absolute Raritäten auf unseren Opernbühnen (es ist ja auch viel bequemer und einfacher, stattdessen jedes Jahr die immer gleiche "Hänsel und Gretel"-Inszenierung wieder neu aus den Archiven hervorzukramen…)

Daher möchte ich heute die Gelegenheit nutzen, eine originelle kleine Weihnachtsoper vorzustellen, die in diesem Jahr genau 60 Jahre alt wird:

Es handelt sich um "Amahl and the Night Visitors" (Amahl und die nächtlichen Besucher) von Gian Carlo Menotti (1911-2007), ein italienisch-amerikanischer Komponist, der in diesem Jahr (am 7. Juli) 100 Jahre alt geworden wäre und damit auch zu den zahlreichen Jubilaren dieses Jahres gehört, die in Anbetracht der Tatsache, dass der alles überstrahlende Franz Liszt in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag beging, nicht weiter beachtet und gewürdigt wurden…

Menotti, der schon in jungen Jahren in die USA übersiedelte, dort selbst später als Lehrer tätig war, ist dort durch seine Opern bekannt geworden. Zumindest im nicht englischsprachigen Europa erreichte er nie die Popularität, die er in seiner Wahlheimat erlangen konnte, was wohl auch daran liegt, dass er kompositorisch eine eher konservative Linie verfolgte (ausgehend vom Stil Puccinis und seiner Zeitgenossen) und damit aus Sicht der hiesigen Avantgarde künstlerisch sowieso nicht ernst zu nehmen war. In der Regel schrieb er die Libretti seiner Opern selber und war auch für seinen Lebensgefährten, den amerikanischen Komponisten Samuel Barber (1910-81) als Librettist tätig. Auch als Regisseur und Leiter von ihm gegründeter Festspiele (in Italien, den USA und Australien) war Menotti aktiv.

Amahl and the Night Visitors ist nicht irgendeine Oper - dieser knapp 50-minütige Einakter ist die erste Oper, die speziell für das Fernsehen produziert wurde: Am 24.12.1951 wurde sie in den New Yorker NBC-Studios uraufgeführt und dabei live im Fernsehen ausgestrahlt (was für die damalige Zeit - auch in den USA - nun wirklich noch nicht so selbstverständlich war)!

Dem Uraufführungstermin entsprechend handelt sich bei Amahl and the Night Visitors um eine nicht zuletzt auch für Kinder geeignete Weihnachtsoper - also quasi eine unschlagbare Kombination, die auch dazu beigetragen hat, dass diese Oper über viele Jahre in Amerika wie in Großbritannien zur Weihnachtszeit sehr beliebt war - sie ist neben zahlreichen Theateraufführungen auch mehrfach neu fürs Fernsehen produziert worden.

Für die Kinder im Publikum bietet sich mit der Titelrolle des Jungen Amahl eine Identifikationsfigur, da sie für einen Knabensopran konzipiert ist und somit (anders als z. B. Humperdincks Hänsel) von einem "echten" Jungen gespielt und gesungen wird (hierbei handelt es sich wahrscheinlich neben Werken wie Brittens Oper "The turn of the screw" um eine der wenigen Opern, in denen ein Knabensopran eine Hauptrolle übernimmt).

Schade ist, dass diese Oper hierzulande nicht gerade oft aufgeführt wurde (um es jetzt mal vorsichtig zu formulieren) - ich bin nicht mal sicher, ob es überhaupt eine deutsche Textfassung gibt, was ja für ein Kinderpublikum schon wichtig wäre, auch wenn die englische Originalfassung von Amahl and the Night Visitors durchaus gut zu verstehen ist, zumal ja die szenische Aktion hinzukommt.

Worum geht es?
Der kleine Amahl lebt mit seiner Mutter zur Zeit der Geburt Christi im Orient. Er war Hirtenjunge, bis seine Mutter erst die Schafe und zuletzt auch die Ziege aus Geldnot verkaufen musste, jetzt befürchtet sie, dass sie und ihr kleiner Sohn bald betteln gehen müssen. Amahl ist gehbehindert und benutzt zur Fortbewegung eine Krücke, die er mit geschickten Händen selbst gebaut hat. Da er aufgrund seiner Behinderung nicht wirklich mit den anderen Kindern herumtollen kann, ist er oft alleine und hat eine blühende Fantasie entwickelt, was seine Mutter häufiger nervt, wenn er ihr wieder einmal irgendwas vorgeflunkert hat.

Eines Abends hat sie Schwierigkeiten, Amahl ins Haus zu rufen - der Junge will unbedingt draußen bleiben und auf ihre Frage, was es denn da so Spannendes zu sehen gebe, erzählt er ihr von einem großen Stern mit einem feurigen Schweif, der am Himmel stehe. Die Mutter regt sich wieder einmal auf und fragt sich verzweifelt, was sie mit dem Jungen noch anstellen soll, der ständig so hanebüchene Geschichten wie diese von sich gibt.

Als es wenig später an der Tür der kleinen Hütte klopft und Amahl nachsieht, wer um diese Zeit noch Einlass begehrt, erzählt er seiner Mutter auf deren Nachfrage ganz aufgeregt, es stünde ein König vor der Tür. Nach einem erneuten Verzweiflungsausbruch der Mutter klopft es wieder und Amahl kommt mit der Nachricht zu seiner Mutter, er habe sich geirrt, es stehe gar kein König vor der Tür. Die Mutter lobt Amahl, weil er offenbar nun doch bei der Wahrheit bleiben wolle und gerät erneut in Zorn, nachdem Amahl ihr mitgeteilt hat dass nicht ein, sondern gleich zwei Könige vor der Tür stünden. Man ahnt es bereits: Das Spiel wiederholt sich nun natürlich noch einmal und ist recht amüsant vom Komponisten und Textdichter gestaltet worden.

Nachdem nun die Mutter wütend selber zur Tür geht, muss sie überrascht feststellen, dass ihr Amahl, ganz wie er es versprochen hatte, doch die Wahrheit gesagt hatte: Ganze drei prächtig gewandete Könige nebst Gefolge betreten würdevoll die Hütte und bitten um die Gelegenheit, sich ein wenig am Feuer wärmen und rasten zu dürfen.
Die Mutter eilt aufgeregt davon, um Feuerholz zu holen und Amahl, dem sie zuvor noch eingeschärft hat, sich ja zu benehmen, befragt nun kindlich-direkt und ohne jede Scheu die exotischen Gäste, ob sie denn wirklich Könige seien.

Menotti hat König Kaspar (der Tenor des Trios) als einen offensichtlich greisen und ziemlich schwerhörigen Mann gezeichnet, der, als Amahl ihn befragt, ständig "Hä?" ruft und der dann schließlich von seinen wundertätigen Edelsteinen erzählt, die er stets auf Reisen in einem Kasten mit sich führt.

Auch diese Szene finde ich sehr originell - überhaupt lässt sich die ganze Oper gut anhören, die Musik ist abwechslungsreich und gelegentlich mit exotischen Anklängen angereichert (z. B. beim Auftritt der drei Könige). Menotti setzt neben einem Streichensemble eine Harfe, Oboen (bzw. ein Englischhorn für das erwähnte "exotische Ambiente") und ein Klavier ein (letzteres findet häufig in den Dialogszenen Verwendung).

Es gibt auch eine kleine Tanzszene in dieser Oper - Amahls Mutter hat die Hirten aus ihrer Nachbarschaft gebeten, zur Unterhaltung der königlichen Gäste zu tanzen. Auch diese Nummer beschwört eine orientalische Atmosphäre herauf, nicht zuletzt durch den Einsatz des erwähnten Englischhorns.

Der Rest der Handlung ist schnell erzählt:
Die Könige erzählen ihren Gastgebern, dass sie auf der Reise zu einem mächtigen, neugeborenen Königskind seien - ein großer Stern mit flammendem Schweif zeige ihnen den Weg (worauf Amahl seiner Mutter ein nüchternes "What did I tell you?" zuflüstert…). Man präsentiert die kostbaren Geschenke, die man diesem Kind darbringen wolle und Amahls Mutter erliegt schließlich der Versuchung - nachdem sich alle zur Nachtruhe zurückgezogen haben - etwas von dem Gold für sich und ihren Sohn zu stehlen, was aber augenblicklich von einem der königlichen Pagen entdeckt wird, der natürlich sofort die Könige herbeiruft.

Amahl versucht, seine Mutter zu schützen, indem er sich selber als den vermeintlichen Dieb ausgibt, worauf König Melchior voller Mitleid, da er natürlich längst die Notlage seiner Gastgeber erkannt hat, anbietet, sie mögen das Gold doch behalten, das Königskind benötige sicher nicht so viele wertvolle Geschenke, da es mit Sicherheit bereits genug kostbare Dinge besitze.

Amahls Mutter hat die Geschichte des neugeborenen Kindes jedoch gerührt und sie möchte das ihr angebotene Gold nun doch lieber nicht mehr annehmen, woraufhin Amahl anbietet, dem Kind seine selbstgemachte Krücke als Geschenk darzubringen, man könne ja nicht wissen, ob es diese nicht eventuell gut gebrauchen könne. Und als Amahl nun seine Krücke den Königen aushändigt, stellt er plötzlich überrascht fest, dass er problemlos ohne sie gehen, laufen und springen kann - ein Wunder ist geschehen!

Amahl möchte nun selber dem Kind für seine wundersame Heilung danken und bittet seine Mutter, ihn mit den Königen ziehen zu lassen. Diese versprechen, gut auf ihn aufzupassen und auf dem Rückweg sicher wieder abzuliefern und Amahls Mutter erkennt, dass sie ihren Jungen ziehen lassen muss. Nach einer kurzen Abschiedsszene zwischen Mutter und Sohn ziehen Amahl, die drei Könige und ihr Gefolge weiter dem Stern von Bethlehem hinterher.

Ein schönes Stück, eine originelle Geschichte, abwechslungsreiche Musik - ich kann diese Oper nur jedem empfehlen, der sich für Weihnachtsmusik abseits der ausgetretenen Pfade interessiert (an eine Operninszenierung hier bei uns wage ich ja gar nicht zu denken)!

Lange Zeit war es fast ein Ding der Unmöglichkeit, an eine Aufnahme dieser Oper zu kommen. Aber im Jahr 2009 veröffentlichte NAXOS in seiner Reihe "American Opera Classics" eine im Dezember 2006 entstandene Aufnahme, in der das Nashville Symphony Orchestra unter der Leitung von Alastair Willis zusammen mit verschiedenen Solisten (allen voran der Knabensopran Ike Hawkersmith in der Titelrolle) und Mitgliedern der Symphonie-Chöre aus Nashville und Chicago eine überzeugende Wiedergabe vorgelegt hat.

Ergänzt wird diese CD durch ein kürzeres Chorwerk Menottis aus dem Jahr 1987 (da war der Komponist immerhin schon 76 Jahre alt): "My Christmas" ist ein eher nachdenkliches Stück für Herrenchor (zu dem Menotti wie gewohnt auch den Text verfasst hatte), in dem über die verschiedenen persönlichen Aspekte und Bedeutungen des Weihnachtsfestes reflektiert wird - eine schöne und passende Ergänzung, wie ich finde, zumal man bei dem gewohnt günstigen NAXOS-Preis sowieso nicht viel falsch machen kann, wenn man sich diese Aufnahme auch nur mal testweise zulegt.

Donnerstag, 15. Dezember 2011

Gestern im Konzert: Hans Liberg in Düsseldorf

Irgendwie habe ich dieses Jahr wirklich Glück mit Gelegenheiten, kostenlos an Karten für interessante Konzerte zu kommen! Nachdem ich Anfang des Jahres mehrfach als "Vertretung" eine Abokarte für Konzerte des Kölner Gürzenichorchesters nutzen konnte, hatte ich nun gestern Abend das Glück, dass ich mit einem Kollegen zu einem Abend mit Hans Liberg in die Düsseldorfer Tonhalle gehen konnte (er hatte 2 Karten gewonnen und suchte noch nach einer Begleitung)!

Foto: © Thomas Mayer

Hans Liberg kannte ich bislang nur von kurzen TV-Ausschnitten aus seinen diversen Programmen und ich hatte mir schon seit einiger Zeit vorgenommen, ihn mal live zu erleben - umso schöner, dass sich das Ganze nun auf diese Art und Weise ergeben hat!
Wie soll man Hans Liberg und das, was er auf der Bühne so macht, beschreiben?
Schwierig - mir fällt nicht einmal eine passende "Berufsbezeichnung" für den 57-jährigen Niederländer (und gebürtigen Amsterdamer) ein: Musik-Kabarettist oder Musik-Komödiant, Multi-Instrumentalist, Jazz- und Klassik-Entertainer - das wären so am ehesten noch Charakterisierungen, die einem zu diesem ziemlich singulären Künstler in den Sinn kämen, ohne jedoch das Gesamt-Phänomen Hans Liberg wirklich treffend und umfassend zu beschreiben. Man muss ihn einfach mal in Aktion erlebt haben, um die Faszination, die von ihm ausgeht, wirklich verstehen zu können.

Klassik, Jazz, Rock, Pop, Kinder- und Volkslieder, TV-Melodien, Werbejingles - alles, was sich irgendwie als Musik bezeichnen lässt, ist für Hans Liberg eine einzige große, genreübergreifende Spielwiese, auf der er sich, einmal in Fahrt gekommen (und das passiert bei diesem Energiebündel eigentlich ab der ersten Minute auf der Bühne) mit geradezu irrwitziger Geschwindigkeit und verblüffender Leichtigkeit tummelt, wie eine wildgewordene Hummel.

Eine Melodie jagt die nächste, da wird scheinbar mühelos das zusammengefügt, was nüchtern betrachtet eigentlich überhaupt nicht zusammenzugehören scheint (wer hätte z. B. gedacht, dass es verblüffende Gemeinsamkeiten zwischen "Fuchs, du hast die Gans gestohlen", Smetanas "Moldau" und dem Beginn der israelischen Nationalhymne gibt?), wenn Liberg einmal am Flügel sitzt und schwungvoll in die Tasten haut, dann kommt man kaum noch hinterher, so flink sprühen die Ideen, werden Melodiezitate aneinandergereiht, zusammengefügt, variiert, verjazzt, verrockt - die zweieinhalb Stunden (inkl. einer knapp 20-minütigen Pause) gestern Abend vergingen wie im Fluge!

Und Liberg bearbeitet nicht nur den Flügel, er beherrscht auch noch zahlreiche andere Instrumente - gestern bekamen wir Kostproben seiner Fähigkeiten am Banjo, der E-Gitarre, der Blockflöte und der Snare Drum geboten.

Sein musikalischer Vortrag wird zeitweise ergänzt durch zwei Kollegen am Kontrabass und am Schlagzeug - in dieser klassischen Jazzbesetzung fühlt man sich während mancher Nummer plötzlich, als würde man dem Jacques Loussier-Trio bei einer seiner legendären "Play Bach"-Sessions lauschen! Diese Flexibilität, Virtuosität und Improvisationsfähigkeit im musikalischen Bereich ist natürlich unbedingte Voraussetzung für das gesamte Konzept, in rasendem Tempo von einem Thema zum nächsten springen zu können (mich würde interessieren, wie sehr eine der zurzeit wieder fast allabendlich an anderen Orten in Deutschland und den Niederlanden stattfindenden Shows der anderen gleicht?!) - das sieht alles so leichthändig und spielerisch aus, dass man fast sofort vergisst, wie viel Arbeit hinter dem Ganzen stecken muss!

Zwischen den zahllosen musikalischen Einlagen moderiert Hans Liberg wie selbstverständlich auf Deutsch (und spricht dabei mit deutlich weniger Akzent als es z. B. Rudi Carrell oder Marijke Amado je getan haben), bezieht fast pausenlos das Publikum mit ein (Mitsingen ist absolut erwünscht!) und bringt es sogar noch fertig, aktuelle politische Seitenhiebe (wohlgemerkt auf deutsche, nicht auf niederländische Politiker und Parteien) und lokale Anspielungen (in diesem Fall also über die Düsseldorfer und die Nachbarn aus Köln und Neuss) einfließen zu lassen - Respekt!
In seinem aktuellen Programm "Ick Hans Liberg" gibt es außerdem eine Szene, in der sich Liberg mit seinem Alter-Ego in Marionettengestalt kabbelt und mehrere größere und kleinere Tanzeinlagen, zu denen auch ein weiterer Assistent (der von Liberg als "Praktikant" und Freund seines Sohnes, der "unbedingt mal auf die Bühne wollte" vorgestellt wurde) seinen - teilweise recht akrobatischen - Beitrag abliefert.

Foto: © Thomas Mayer

Der Bezug zur Klassik bleibt aber bei allen Einlagen und musikalischen Ausflügen wie eh und je der Dreh- und Angelpunkt in Libergs Programm und sein Publikum ist auf diesem Gebiet durchaus sachkundig, auch, wenn es mal etwas kniffligere Themen und Melodien (jenseits von "Für Elise" oder "Eine kleine Nachtmusik") zu erraten gibt.
Sehr schön die Definition der gerade von Schubert gepflegten Gattung des Impromptus: "Eine Komposition, bei der der Komponist keine Ahnung hat, wie sie ausgehen wird!" - am Beispiel von Chopins "Tristesse"-Etüde op. 10 Nr. 3 wird das sogleich vorgeführt - das berühmte Thema geht nach kurzer Zeit nahtlos in "Strangers in the night" über und man hat beim Zuhören das Gefühl, dass das Ganze eigentlich nur so und nicht anders klingen müsste…

Auch der Hinweis, dass die englische Bezeichnung für die Tonart B-Dur ja "B flat" lautet, was übersetzt nichts anderes als "sei flach!" bedeutet (woraus man nun einige aufschlussreiche Schlussfolgerungen ziehen kann), war ebenso vergnüglich, wie die zahlreichen Beispiele, mit denen Liberg demonstrierte, dass Komponisten aller Jahrhunderte immer wieder munter voneinander abgekupfert haben (auch die Älteren von den zum Teil deutlich später Geborenen…), oder die eindrückliche Vorführung des Fakts, dass auch die besten Melodien nichts taugen, wenn man sie immer und immer wieder stumpfsinnig aneinanderreiht - jedenfalls, solange dazu noch Platz auf der Klaviatur (nach oben wie nach unten) ist…!

Als zweite Zugabe gab es dann noch eine sehr treffende Parodie der kanadischen Klavierlegende Glenn Gould - inklusive klapprigem Holzschemel, dem obligatorischen Mitsingen während des Vortrags (natürlich der Beginn der Goldberg-Variationen von Bach - das Stück, mit dem Glenn Gould wohl am bekanntesten geworden ist) und der absonderlichen Körperhaltung während des Spiels, wo trotz dicht über die Tastatur gebeugtem Kopf der ein oder andere mit äußerster Vorsicht hingetupfte Ton schon mal verloren gehen kann… ganz wunderbar!

Ein wirklich amüsanter Abend, der viel zu schnell vorüberging - die aktuelle Liberg-Tour geht noch bis zum Mai 2012 und führt durch diverse Städte, wer Spaß an geistreich-musikalischem Humor in der Tradition von legendären Künstlern wie Gerard Hoffnung oder Victor Borge hat und mit dem Namen Hans Liberg bislang noch nichts anfangen konnte, sollte sich unbedingt einmal eine seiner Shows ansehen!

Mittwoch, 14. Dezember 2011

Heute in der Lunch-Time-Orgel

Heute gab es das letzte Mittags-Orgelkonzert des Jahres 2011 - die Lunch-Time-Orgel geht in die "Jahresendpause" und am 11.01.2012 geht es wieder los.

Dafür bekamen wir heute nochmal vorweihnachtliche Musik präsentiert, die Gastorganist Jens-Peter Enk für uns spielte:

J. S. Bach (1685-1750)
Drei Choralbearbeitungen über "Nun komm, der Heiden Heiland" aus der "Leipziger Originalhandschrift"
BWV 659 - 661

Johann Georg Herzog (1822-1909)
Hymnus "Veni redemptor gentium"

1. Satz aus der Adventssonate op. 62 Nr. 1
(unter Verwendung des Chorals "Nun komm, der Heiden Heiland")

Cécile Chaminade (1857-1944)
Offertoire

Alexandre Guilmant (1837-1911)
Offertoire op. 60

John E. West (1863-1929)
Fantasy


Im ersten Teil des Konzerts drehte sich alles um die prägnante Melodie von Martin Luthers bekanntem Adventslied "Nun komm, der Heiden Heiland", das wiederum auf dem lateinischen Hymnus "Veni redemptor gentium" basiert, der Dreh- und Angelpunkt des ersten der beiden Stücke von Johann Georg Herzog war, einem Komponisten, von dem ich bislang noch nie etwas gehört hatte. Was man heute aber vom ihm zu hören bekam, machte auf jeden Fall Neugier auf "Mehr"...!

Es folgten zwei Offertorien aus der Epoche der französischen Orgelromantik, wobei das Stück von Madame Chaminade sehr dramatisch und aufgewühlt daherkam (genau wie ich es mag!), lediglich unterbrochen von einem kurzen, etwas ruhigeren Mittelteil.
Im Gegensatz dazu hatte das Offertoire von Guilmant einen geradezu fröhlichen Charakter - sogar mit einer kleinen, munteren Fuge gegen Ende.

Zum Schluss wurde es noch weihnachtlich:
Die abwechslungsreiche Fantasie von Mr West hatte zwei englische Weihnachtslieder zum Inhalt: "The First Noël" und "Good King Wenceslas" - und damit endete ein wunderbares Orgelmusikjahr in der Düsseldorfer Johanneskirche.

Ich bin schon gespannt auf das nächste...!

Donnerstag, 8. Dezember 2011

Weihnachtsoratorium - es muss nicht immer Bach sein

Wenn es um das Thema "Weihnachtsoratorium" geht, kommt natürlich erstmal Johann Sebastian Bachs Meisterwerk aus dem Jahr 1734 - und dann lange Zeit gar nichts.
Das ist eigentlich schade, denn es verstellt den Blick auf einige andere weihnachtliche Oratorienkompositionen, von denen der Großteil aus der Barockzeit stammt, einige jedoch auch aus dem 19. und 20. Jahrhundert, was ich schon deshalb besonders interessant finde, weil viele barocke Weihnachtsoratorien sich von der Grundkonzeption recht ähnlich sind (was sie natürlich nicht schlechter macht) und daher die im Zeitalter der Romantik oder der Moderne entstandenen Kompositionen eine nette Abwechslung bieten, da sie oft ganz anders konzipiert sind und natürlich mit einem komplett anderen Klangbild aufwarten.

Die nach dem bachschen Weihnachtsoratorium wohl bekannteste Komposition mit ebendiesem Titel dürfte wohl das Oratorio de Noël op. 12 des Franzosen Camille Saint-Saëns (1835-1921) sein - und diese wunderschöne Weihnachtsmusik kennt hierzulande im Vergleich zu Bach leider kaum jemand.

Camille Saint-Saëns, der mit 86 Jahren im Vergleich zu vielen früh verstorbenen Komponisten ein geradezu biblisches Alter erreichte, überlebte seinen eigenen Ruhm (seine wichtigste Wirkungszeit dürfte zwischen 1860 und 1900 liegen) und galt im Alter für viele Zeitgenossen als Konservativer, den Traditionen der Klassik und des 19. Jahrhunderts verhafteter Musiker.

Saint-Saëns selber dürfte dies kaum als Makel angesehen haben - er hat in seinem umfangreichen Oeuvre so ziemlich alle traditionellen Gattungen gepflegt (Sinfonien, Konzerte, Oper, Oratorium, Klavier-, Orgel- und Kammermusik) und hierbei durchaus neue Ideen und Strömungen mit einfließen lassen. Als großer Neuerer oder gar Revolutionär hätte er sich selber wohl nie bezeichnet, er nutzte die althergebrachten Formen und füllte sie mit seinen ganz eigenen Ideen. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man Saint-Saëns in mancherlei Hinsicht (z. B. in Bezug auf musikästhetische Ansichten) mit seinem deutschen Zeitgenossen Carl Reinecke (1824-1910) vergleichen könne - da ist durchaus was dran.
Jedenfalls lohnt sich eine Beschäftigung mit Saint-Saëns' zahlreichen Kompositionen - die man leider viel zu selten auf Konzertprogrammen vorfindet.
Mir persönlich haben es vor allem seine Klavier-, Violin- und Cellokonzerte sowie die Sinfonien angetan! Natürlich ist sein Karneval der Tiere aus dem Jahr 1886 ein kleines Meisterwerk des musikalischen Humors (und zeigt, wie souverän Saint-Saëns die Kompositionskunst beherrschte), aber es ist schon etwas ungerecht, dass sein vielgestaltiges Gesamtwerk für viele heutzutage nur noch auf dieses eine Stück reduziert wird!

Das 1858 entstandene Oratorio de Noël op. 12 ist eine Komposition des gerade einmal 23-jährigen Saint-Saëns. Der junge Musiker war damals als Organist an der berühmten Pariser Kirche La Madeleine angestellt und hier erlebte dieses Werk dann auch seine Uraufführung.

Im Vergleich zu Bachs Weihnachtsoratorium ist das Oratorio de Noël deutlich kürzer: Es umfasst 10 Einzelsätze und hat eine Aufführungsdauer von knapp 40 Minuten.
Saint-Saëns schreibt fünf Solisten (Sopran, Mezzosopran, Alt, Tenor und Bariton), einen gemischten Chor, Harfe, Orgel sowie ein Streichorchester vor - also eine insgesamt eher intime Besetzung, zumindest im Vergleich zu manch anderem Chorwerk, das im selben Zeitraum entstanden ist.

Schon der erste Satz des Oratorio de Noël, das Prélude, ist etwas Besonderes:
Eine instrumentale Pastorale (im charakteristischen 12/8el-Takt) für Orgel und Streicher, vom Komponisten mit dem Hinweis "Prélude dans le style de Séb. Bach" quasi als Hommage vor allem des Organisten Saint-Saëns an den großen Thomaskantor gedacht. Mitte des 19. Jahrhunderts war es nicht unbedingt selbstverständlich, im Stile eines Barock-Komponisten zu komponieren (zumal, wenn es sich wie hier nicht um eine Fuge handelte!); gerade Bachs Musik wurde damals erst schrittweise wiederentdeckt, große Teile auch erstmalig im Druck veröffentlicht und in der Folge fand sie dann zunehmend mehr Bewunderer.

Für uns Heutige, die wir wahrscheinlich mehr Barockmusik gehört haben, als es Saint-Saëns in seinem langen Leben jemals möglich war, klingt dieses Prélude nicht wirklich besonders nach Bach oder Barock, aber in der damaligen Zeit muss die Wirkung dieses Satzes eine ganz andere gewesen sein.

Jedenfalls liegt die Parallele dieser Pastoralmusik und der berühmten Sinfonia, die die zweite Kantate des Weihnachtsoratoriums von Bach einleitet, trotz aller kompositorischer Unterschiede auf der Hand und sie erklärt sich auch dadurch, dass Saint-Saëns Subskribent der damals ganz neu erscheinenden Bach-Gesamtausgabe war und im Jahr 1856 das Weihnachtsoratorium im Rahmen dieser Ausgabe erschienen war.

Als Komponist geistlicher Musik für die katholische Kirche verwendet Saint-Saëns einen lateinischen Text für sein Oratorium und die einzige Stelle, in der in diesem Werk direkt auf die Weihnachtsgeschichte Bezug genommen wird, folgt unmittelbar nach dem Prélude, wenn aus dem 2. Kapitel des Lukasevangeliums die Verse 8 bis 14 zititert werden, in denen es um die Hirten auf dem Felde geht, denen der Engel des Herrn mit seiner Botschaft erscheint, gefolgt von den himmlischen Heerscharen mit ihrem Gotteslob. Genau diese Textstelle folgt im Übrigen auch bei Bach im Anschluss an seine Sinfonia in der zweiten Kantate des Weihnachtsoratoriums.

Diese Textstelle wird bei Saint-Saëns mit verteilten Rollen von den Solisten und später dem Chor vorgetragen. Die übrigen Texte, die in diesem Werk noch verwendet werden, stammen hauptsächlich aus verschiedenen Psalmen und gehören traditionell zur Liturgie der Weihnachtszeit.

Die übrigen acht Sätze dieses kleinen Oratoriums gestaltet der Komponist sehr abwechslungsreich - gerade auch in Bezug auf die jeweilige solistische wie instrumentale Besetzung. Vor allem die mehrfach prominent eingesetzte Harfe trägt in großem Maße zur weitgehend poetisch-idyllischen Stimmung bei und schafft eine ausgesprochen elegante Klangfarbe, die für diese Epoche (wir befinden uns schließlich mitten in der Romantik) ganz typisch ist.

Besonders schön finde ich den fünften Satz, ein Benedictus als Duett zwischen Sopran und Bariton, ganz kammermusikalisch begleitet lediglich von Harfe und Orgel - fantastisch! Ein Stück, an dem ich mich einfach nicht satt hören kann!

Der einzige Satz, in dem (zunächst) eine nicht ganz so lyrische Stimmung aufkommt, ist der sechste, wo zu den Worten aus dem 2. Psalm ("Warum toben die Heiden") eine etwas unruhigere, zumindest ansatzweise dramatischere Atmosphäre entsteht, die sich aber recht schnell wieder legt, wenn der Chor - dann wieder ganz "entspannt" die traditionell am Ende von Psalmgebeten gesungene Kleine Doxologie anstimmt ("Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen").

Auch wieder eine Referenz an Bach ist (nachdem zu Beginn des vorletzten Satzes das Thema des Prélude nochmals aufgenommen wurde und Saint-Saëns danach die Spannung kontinuierlich steigert) der befreiend jubelnde Schlusschor des Oratorio de Noël: Saint-Saëns komponiert hier einen kurzen und kompakt gesetzten Chorsatz ("Tollite hostias"), der einen irgendwie an den typischen Schlusschoral einer Bachkantate erinnert.

Es gibt nicht allzu viele Aufnahmen von Saint-Saëns' Oratorio de Noël - zwei davon möchte ich hier kurz vorstellen:


Ute Selbig (Sopran)
Elisabeth Wilke (Mezzosopran)
Annette Markert (Alt)
Armin Ude (Tenor)
Egbert Junghanns (Bariton)
Michael-Christfried Winkler (Orgel)
Jutta Zoff (Harfe)
Dresdner Kreuzchor
Dresdner Philharmonie
Leitung: Martin Flämig

Aufnahme von 1987 (Lukaskirche Dresden)


Antonia Bourvé (Sopran)
Gundula Schneider (Mezzosopran)
Sabine Czinczel (Alt)
Marcus Ullmann (Tenor)
Jens Hamann (Bariton)
Romano Giefer (Orgel)
Claudia Karsch (Harfe)
Vocalensemble Rastatt
Les Favorites
Leitung: Holger Speck

Aufnahme von 2006 (Evang. Stadtkirche Rastatt)

Beide Aufnahmen finde ich gelungen, jede hat ihre kleinen Vorzüge - so wird z. B. der etwas dramatischere 6. Satz in der Einspielung unter Holger Speck deutlich zupackender musiziert als in der an dieser Stelle leider etwas zu sehr gebremsten älteren Dresdner Aufnahme, was natürlich einen umso wirkungsvolleren Kontrast zu den übrigen, besinnlicheren Sätzen bildet.
Dafür "lahmt" die Rastatter Aufnahme im Schlusschor etwas - da finde ich die kräftig-strikte Interpretation der Flämig-Einspielung passender, zumal sie mich so deutlich mehr an den vom Komponisten hier wohl beabsichtigten Schlusschoral-Charakter à la Bach erinnert.

Und für das wunderbare Benedictus (5. Satz) hätte man in der Rastatter Aufnahme ein etwas langsameres Tempo wählen können - meinem Empfinden nach entfaltet dieser Satz seine Wirkung dann noch etwas besser.

Insgesamt sagen mir stimmlich die fünf Solisten der älteren Dresdner Aufnahme etwas mehr zu, aber wie gesagt - beide Einspielungen haben ihre Meriten und ergänzen sich gut, da unter anderem auch der Klang der Orgel in beiden Fällen ziemlich unterschiedlich ausfällt und man so einen interessanten Vergleich darüber anstellen kann, welchen Einfluss zwei ganz verschiedene Orgeln auf den Gesamtklang des musizierenden Ensembles in diesem Oratorium haben können.

Zu dem rund 40-minütigen Oratorio de Noël kommen auf beiden CDs ergänzende Musikstücke hinzu, die wiederum beide ihre Vorzüge haben:
Aus Sicht desjenigen, der sich für weitere Werke des doch eher unbekannten Komponisten Camille Saint-Saëns interessiert, bietet die Aufnahme mit dem Vocalensemble Rastatt hier noch eine Ergänzung, in dem dieser Einspielung noch sechs weitere kleine geistliche Kompositionen dieses französischen Komponisten hinzugefügt wurden - ein Orgelstück ("Bénédiction nuptiale" op. 9) sowie fünf Stücke für Solostimmen bzw. Chor mit Orgelbegleitung auf lateinische Texte der katholischen Liturgie.

Eine aus weihnachtsmusikalischer Sicht mindestens genauso gelungene Lösung bietet die Aufnahme mit dem Dresdner Kreuzchor - hier gibt es als zweites Stück die (ebenfalls nicht so häufig zu hörende) Choralkantate "Vom Himmel hoch", die Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-47) im Jahr 1831 komponierte. Diese sechssätzige, gut fünfzehnminütige Kantate über das bekannte Weihnachtslied von Martin Luther (für Sopran- und Baritonsolo, Chor und Orchester) ist ebenfalls als eine Art Hommage an Johann Sebastian Bach zu verstehen, der seinerseits im Rahmen seiner Kantorentätigkeit häufig Kantaten vom Typus der Choralkantate komponierte.
So gesehen gefällt mir gerade in der Weihnachtszeit die letztgenannte Kombination dann doch besser, weil man so gleich zwei wirklich schöne, nicht allzu geläufige Weihnachtsmusiken aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zusammen auf einer CD bekommt.

Mittwoch, 7. Dezember 2011

Heute in der Lunch-Time-Orgel

Im heutigen Mittagskonzert wurde es erstmals in diesem Jahr (vor)weihnachtlich. Folgende Werke spielte Wolfgang Abendroth für uns:

Wolfgang Amadeus Mozart (1756-91)
Fuge g-moll KV 401

Imre Bocskai
Magyar Bethlehemes ("Ungarisches Bethlehem")

Bela Bartòk (1881-1945)
Két Kolinda (Rumänisches Weihnachtslied)

Dezsö Antalffy-Zsiross (1885-1945)
Karásconyi Harangok ("Weihnachtsglocken")

J. S. Bach (1685-1750)
Toccata und Fuge F-Dur (BWV 540)


Bei der sehr selten zu hörenden Mozart-Fuge handelt es sich um ein Fragment, das Mozarts Freund Abbé Maximilian Stadler (1748-1833) vermutlich nach Mozarts frühem Tod vollendet hat. Diese Version bekamen wir heute zu hören, wobei bei der Komposition nicht eindeutig zu klären ist, ob Mozart sie tatsächlich für die Orgel oder für Klavier (zu 4 Händen) konzipiert hatte.

Die drei eher kurzen Weihnachtslieder wurden unserem Organisten von einer ungarischen Schülerin seiner Orgelklasse vorgestellt und er wollte uns diese wirklich schönen Kompositionen natürlich nicht vorenthalten :-)

Freitag, 2. Dezember 2011

Corelli, Torelli & Co. - Weihnachtskonzerte


So - nun ist also wieder Advents- und Vorweihnachtszeit und auch in diesem Jahr möchte ich (nachdem ich im vergangenen Jahr verschiedene Arten von Weihnachtsliedern vorgestellt habe) ein paar schöne musikalische Werke vorstellen, die vielleicht zum Teil nicht ganz so bekannt sind - bei denen sich ein aufmerksames Hin- und Zuhören aber auf jeden Fall lohnt!

Wem Chor- oder gar Sologesang zur Weihnachtszeit auf die Nerven geht, oder wer sich zumindest mal nach ein bisschen Abwechslung hiervon sehnt, dem seien ganz bestimmte Instrumentalkonzerte aus der Barockzeit wärmstens empfohlen:

Diese Konzerte von Herren mit so klangvollen Namen wie Corelli, Torelli, Manfredini und Locatelli tragen den Titel "Weihnachtskonzert", sind von ihren Komponisten also explizit für eine Aufführung zur Weihnachtszeit bestimmt worden, "fatto per il Santissimo Natale", wie das dann im Original meist heißt.

Beim Anhören fragt man sich dann als Mensch der heutigen Zeit allerdings, was an diesen Konzerten jetzt eigentlich so besonders weihnachtlich sein soll, da sie eigentlich für den unvoreingenommenen Hörer genauso klingen wie viele andere Konzerte aus dieser Epoche.

Namensgebend für die Weihnachtskonzerte ist die Tatsache, dass sie jeweils einen Satz enthalten, der in Form einer "Pastoralmusik" komponiert ist - und dann meistens auch den Titel "Pastorale" trägt. In dieser "Hirtenmusik" ahmen die Komponisten der damaligen Zeit die Klänge nach, die für musizierende Hirten im 17. Jahrhundert (und wahrscheinlich auch davor und danach noch) charakteristisch waren: Eine Schalmei (ein primitives Rohrblattinstrument, quasi eine "Oboe light") auf Italienisch "piffero", begleitet von einem Dudelsack (den es nicht nur bei den Schotten gab!), auf Italienisch "zampogna" und manchmal auch von einer Drehleier (ein Streichinstrument mit Kurbel, also nicht zu verwechseln mit einem Leierkasten). Das Zusammenspiel dieser Instrumente ergab einen unverwechselbaren Klang: Zwei Oberstimmen in Terzparallelen, die in einem eigentümlich wiegenden Rhythmus erklingen, unterlegt von einem liegenbleibenden, lang ausgehaltenen Basston. Diesen wiegenden Rhythmus haben die Komponisten später in den für Pastoral-Musiken charakteristischen Zwölfachtel-Takt gegossen.

Die Tatsache, dass diese Art zu musizieren damals so bekannt war, ist dem Umstand zu verdanken, dass gerade in Rom (wo unter anderem der berühmte Herr Corelli lebte) die Hirten aus der umliegenden Campagna und den Abruzzen zur Weihnachtszeit in die Ewige Stadt kamen, um dort auf den Plätzen vor Marienbildern oder aufgebauten Krippen mit ihren typischen Instrumenten aufzuspielen und so quasi ihre persönliche musikalische Weihnachtsandacht abzuhalten, vielleicht gedacht als eine Art Wiegenlied für das Jesuskind. Diese Hirtenmusik der "Pifferari" kam bei den Römern natürlich gut an und erfreute sich großer Beliebtheit, zumal sie sehr eingängig war und diesen spezifischen Klang besaß, den wahrscheinlich alle Leute damals sofort mit der Weihnachtszeit assoziierten, so wie es vielleicht heutzutage bei Musikstücken der Fall ist, die mit rhythmischem Glöckchengeläut unterlegt sind (auch wenn sie ansonsten nicht unbedingt in einem weihnachtlichen Kontext stehen).

So gesehen ist es eigentlich eine logische Konsequenz, dass sich auch die Komponisten des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts mit dieser charakteristischen Musik näher beschäftigten und diese für ihre eigenen Werke adaptierten. Es war nicht üblich, die "profanen" Hirteninstrumente selbst für "seriöse" Kompositionen zu verwenden (außer eventuell als gelegentlichen "Gag" zur Freude der Zuhörer, wie es zum Beispiel Leopold Mozart in seiner "Bauernhochzeit" getan hat), so dass die Klänge, die Stimmverteilung und natürlich der wiegende Rhythmus meist auf Streichinstrumente übertragen wurden, da viele damalige Komponisten (wie zum Beispiel Corelli, Manfredini und Torelli) Violinvirtuosen waren und daher natürlich hauptsächlich für Streichensembles komponierten, denen sie meist selbst angehörten.

Diese Übertragung der typischen Klänge der Hirtenmusik auf reine Streichorchester (in Form des damals populären Concerto grosso, in dem eine kleinere Solistengruppe mit und gegen das restliche Ensemble konzertiert) gelang offenbar so überzeugend, dass das Publikum diese Art der Musik sofort wiedererkannte und Konzerte, die von den Komponisten mit solchen nun "Pastorale" betitelten Sätzen versehen waren, sich daraufhin ganz besonders großer Beliebtheit erfreuten. Und das nicht nur in Rom oder Italien, sondern bald auch in ganz Europa, das damals ja (vor allem natürlich auf dem Gebiet der Oper) eh alles begierig übernahm, was das "Land der Musik" so an neuesten musikalischen Trends hervorbrachte.

Eine hübsche Geschichte, die es zu erzählen lohnt, wie ich finde und die nicht unbedingt sofort ersichtlich ist, wenn man irgendwo lediglich den Titel "Weihnachtskonzert" in einem (eh meist viel zu dünnen) CD-Booklet oder Konzertprogramm liest.

Das berühmteste und beliebteste dieser Weihnachtskonzerte (und zugleich auch das älteste, soweit ich weiß) stammt nun von besagtem Arcangelo Corelli - andere Komponisten folgten mit entsprechenden Stücken alsbald dem erfolgreichen Beispiel nach.
Meist steht der Pastoralsatz wie bei Corelli (und Locatelli) am Ende des mehrsätzigen Konzerts, bei Torelli und Manfredini hingegen unverkennbar am Anfang. Auch Komponisten wie zum Beispiel Händel oder Bach haben später Pastoralmusiken komponiert: In Händels Oratorium "Der Messias" wurde der entsprechende Satz sogar mit "Pifa" betitelt, was natürlich auf die erwähnten "Pifferari" abzielt und Bach hat in seinem Weihnachtsoratorium zu Beginn der 2. Kantate passend zur dort erzählten Episode der Weihnachtsgeschichte eine sehr poetische Hirtensinfonie im typisch wiegenden Rhythmus verfasst. Von ihm gibt es z. B. aber auch eine Pastorella für Orgel (BWV 590), die ebenfalls die charakteristischen Elemente dieser Hirtenmusiken enthält.

Vor allem im 18. Jahrhundert erfreute sich die weihnachtliche "Pastorale" großer Beliebtheit, was nicht heißt, dass es zu späterer Zeit nicht auch noch Komponisten gab, die derartige Musiken geschrieben haben.

Zum absoluten "Grundbestand" gehören für mich also zunächst folgende Konzerte, die die Komponisten zunächst meist in mehrteiligen Sammlungen eigener Concerti (alle jeweils in ähnlicher Besetzung in Form von Streichensembles) im Zeitraum zwischen 1700 bis 1720 erstmals veröffentlichten:

Arcangelo Corelli (1653-1713)
Concerto grosso fatto per la Notte di Natale (g-moll) op. 6 Nr. 8

Francesco Manfredini (1684-1762)
Concerto grosso per il Santissimo Natale (C-Dur) op. 3 Nr. 12

Giuseppe Torelli (1658-1709)
Concerto a 4 in forma di Pastorale per il Santissimo Natale (g-moll) op. 8 Nr. 6

Pietro Antonio Locatelli (1695-1764)
Concerto grosso (f-moll) op. 1 Nr. 8


Diese vier Konzerte sind denn auch in der Regel auf den erschienenen CDs mit Weihnachtskonzerten enthalten (oder zumindest zwei bis drei von ihnen).
Auf vielen der unzähligen Weihnachts-CDs, die (auch) klassische Musik enthalten, trifft man ab und an auch mal auf einen einzelnen der Pastoral-Sätze, meist von Corelli oder Manfredini.

Wirklich interessant sind für mich aber eigentlich die Kompilationen, auf denen man dank einer durchdachten Zusammenstellung zunächst die jeweils vollständigen Konzerte zu hören bekommt und dann darüber hinaus eben auch noch ein paar andere weihnachtliche Konzerte aus Barock und/ oder Frühklassik - da gibt es nämlich noch eine ganze Menge meist eher unbekannter, aber wirklich stimmungsvoller Werke zu entdecken!

Zum Beispiel das Vivaldi-Violinkonzert in E-Dur "Il riposo - per il Santissimo Natale" (RV 270) oder - eine Spezialität des französischen Barock - die kunstvollen Instrumentalversionen damals bekannter Weihnachtslieder, die z. B. unter dem Titel "Noëls sur les instruments" von Marc-Antoine Charpentier (1643-1704) veröffentlicht wurden.

In Deutschland ist unter anderem von Johann Christoph Pez (1664-1716) ein Concerto pastorale in F-Dur erschienen oder von Johann Melchior Molter (1696-1765) ein Concerto pastorale in G-Dur (ebenfalls mit der quasi obligatorischen Pastorale direkt zu Beginn).

So schön Kompositionen wie diese auch sein mögen - sie findet man deutlich seltener auf CDs mit Weihnachtskonzert-Zusammenstellungen.

Erstaunlich (und ärgerlich) ist hingegen die Tatsache, dass man auf derlei Zusammenstellungen leider viel zu häufig auf Werke stößt, die eigentlich überhaupt nichts mit Weihnachten zu tun haben. Ich frage mich, warum man sich eigentlich die Mühe macht, immer noch - quasi als Verlegenheitslösung - auf solche Stücke zurückzugreifen, wo es doch ein so großes Repertoire an barocker (und frühklasssicher) Weihnachts-Instrumentalmusik gibt, dass man damit mehr als nur eine CD füllen könnte?!?

Sofern es eine Werkeinführung im CD-Booklet gibt, wird darin dann auch immer wortreich begründet, warum man sich nun für dieses oder jenes Stück entschieden habe, das ja eigentlich nicht direkt "im weihnachtlichen Kontext" stehe - viel interessanter fände ich persönlich die Begründung, warum man das ein oder andere Stück, das sich eigentlich noch als passend angeboten hätte, nun gerade nicht mit eingespielt hat…!
Wenn ich mir als Kunde eine CD zulege, deren Inhalt laut Cover "Weihnachtskonzerte" sein sollen, dann erwarte ich in der Regel, dass der Inhalt dann auch das einhält, was draußen versprochen wird - es ist ja wie gesagt nicht so, als wäre das zur Verfügung stehende Repertoire so begrenzt, dass man quasi gezwungen wäre, händeringend nach Ergänzungen des schmalen Programms zu suchen.

Nun ja - hier nun also ein paar CDs mit mal mehr, mal eher weniger gelungenen Zusammenstellungen:

Mein persönlicher Favorit ist die im Jahr 1992 aufgenommene, zwischenzeitlich mit neuem Cover erfreulicherweise wiederveröffentlichte CD vom Neuen Berliner Kammerorchester unter der Leitung von Michael Erxleben.

Neben den "Standards" von Manfredini, Corelli, Locatelli und Torelli enthält diese Aufnahme zusätzlich die berühmte Pifa aus dem Messias, das oben erwähnte Concerto pastorale von Molter sowie eine Pastorella für Orgel und Streicher von Gregor Joseph Werner (1693-1766), dem Amtsvorgänger Joseph Haydns am Hof des Fürsten Esterházy.
Eine gelungene Mischung, wie ich finde - keine "themenfremden Ausreißer" und nicht zuletzt ein superber Orchesterklang, bei der sogar das Cembalo (mein Lieblingsinstrument) ab und an mal aus seiner reinen Begleitfunktion heraus mit kleinen Soloeinlagen in den Vordergrund treten darf!

Gerade in puncto Programmzusammenstellung muss man bei dem in den Jahren 1987 und 1990 aufgenommenen Weihnachtskonzert-Album von The English Concert unter der Leitung von Trevor Pinnock leider Abstriche machen:

Von den "Klassikern" ist hier lediglich Corellis Konzert enthalten, das Concerto von Molter wurde nicht ganz vollständig aufgenommen und aus dem ansonsten nirgends anzutreffenden (und deshalb besonders interessanten) Concerto grosso op. 5 Nr. 6 von Giuseppe Sammartini (1695-1750) ist leider nur der mit Pastorale betitelte Satz eingespielt worden…

Dafür gibt es immerhin vier Sätze aus Charpentiers "Noëls sur les instruments", die man ja auch nicht allzu häufig antrifft.

Vom Umfang her findet man auf dieser CD jedoch fast genauso viele "themenfremde" Kompositionen, wie es weihnachtliche Stücke zu hören gibt - und das erstaunt mich dann schon etwas.

Ein Vivaldi-Konzert für 2 Trompeten (wahrscheinlich der Assoziationskette "Trompete = Festlichkeit = Weihnachtszeit" folgend?) findet sich da neben Händels Concerto a due cori B-Dur (HWV 332), wobei hier im Booklet als Begründung für diese Auswahl auf die Verwendung einer Melodie aus dem Messias in diesem Konzert verwiesen wird, sowie Telemanns Concerto polonois in G-Dur - wegen der auffälligen Parallelen zwischen der hier erklingenden Referenz an polnische Volksweisen und der Hirtenmusik aus den Abruzzen, die ja Vorbild für die italienischen Weihnachtskonzerte war. Schade nur, dass man gerade davon (außer dem Corelli) hier auf dieser CDs fast nichts zu hören bekommt…

Bei diesem hier vorgestellten ausgesprochenen Barock-Repertoire denkt man bei in Frage kommenden Interpreten wahrscheinlich so ziemlich als Letztes an Herbert von Karajan und seine Berliner Philharmoniker, doch gerade diese haben im Jahr 1970 tatsächlich ebenfalls die vier oben erwähnten Konzerte von Corelli, Manfredini, Locatelli und Torelli eingespielt!

Um diese Zeit herum scheint Herr von Karajan auf einer Art "Barocktrip" gewesen zu sein, denn es gibt tatsächlich von ihm geleitete Einspielungen mit den Berliner Philharmonikern von einigen Vivaldi-Konzerten (nicht nur die 4 Jahreszeiten!), den 12 Concerti grossi op. 6 von Georg Friedrich Händel und einigen weiteren Werken von Bach, Pachelbel und Albinoni aus demselben Zeitraum.

Das Ganze klingt oft sehr wuchtig, längst nicht so transparent, wie man es von kleineren, auf historischen Instrumenten spielenden Ensembles her kennt und ist gerade bei den langsamen Sätzen oft extrem schleppend, scheint aber durchaus dem damaligen Zeitgeschmack entsprochen zu haben, als die historische Aufführungspraxis noch in den Kinderschuhen steckte und eher ein Tummelplatz für Spezialisten war, zu dem das breite Publikum keinen Zugang hatte.

Immerhin enthält die ebenfalls mit einem alternativen Cover neu aufgelegte CD die Konzerte sämtlicher 4 "Klassiker", das Ganze wird angereichert durch einige weihnachtlich-festliche Bläsersätze, die von den Blechbläsern der Berliner Philharmonikern vorgetragen werden.

Man kann diese CD durchaus anhören - es ist jetzt keine komplette Katastrophe geworden, das wäre wirklich übertrieben. Allerdings erinnert mich manches eher an eine Weihnachts-CD von James Last, der sich (aber dies nur am Rande) originellerweise ja auch schon mal auf diesem Sektor betätigt und tatsächlich das komplette Weihnachtskonzert von Corelli in seinem typischen Sound auf Tonträger verewigt hat…!!


Ebenfalls vor rund 40 Jahren entstanden ist die Aufnahme der Festival Strings Lucerne unter der Leitung von Rudolf Baumgartner, die zwischenzeitlich zum günstigen Preis wiederveröffentlicht wurde.

Diese CD enthält neben den vier "Standards" von Corelli, Torelli, Manfredini und Locatelli auch noch drei "Fremdzutaten", nämlich bekannte "Barock-Hits" wie das beliebte Adagio (das jahrelang Tommaso Albinoni zugeschrieben wurde) sowie den berühmten Kanon (plus zugehöriger kurzer Gigue) in D-Dur von Johann Pachelbel. Am Schluss erklingt dann noch der Winter aus Vivaldis Vier Jahreszeiten.
Diese drei Titel hätte es zwar nicht unbedingt gebraucht (stattdessen hätte man ja auch noch ein weiteres Weihnachtskonzert auf die CD packen können), aber zumindest der Vivaldi-Winter passt ja nun schon ein bisschen zum Kontext - allerdings ist es natürlich ärgerlich für die Sammler, die die Vier Jahreszeiten eh schon komplett besitzen (was in der Regel wohl der Fall sein dürfte), vielleicht sogar in der Interpretation der Festival Strings Lucerne.

Dieses Ensemble klingt im übrigen gut hörbar - vor allem wenn man bedenkt, dass die Aufnahmen ja nun auch schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel haben! Das Ganze dürfte damals wohl auf der Höhe der Zeit in puncto "historisch informierte Aufführungspraxis" gewesen sein (ein Vergleich mit der weiter oben erwähnten Karajan-Aufnahme ist da wirklich sehr aufschlussreich!), wieviel sich seitdem jedoch noch getan hat, merkt man, wenn man überlegt, dass in der Größe vergleichbare Streichensembles heute deutlich transparenter und leichtfüßiger klingen!

Trotzdem höre ich gerade diese Aufnahme immer wieder recht gern, zumal mir die hier zu hörende Interpretation des wunderschönen Pachelbel-Kanons ganz besonders gut gefällt: Soviel Zeit wie die Festival Strings Lucerne nimmt sich sonst (fast) kein anderes Ensemble für dieses Meisterwerk - und genau weil hier niemand durch die Partitur hetzt, sondern sich das ganze Klanggebilde in Ruhe entfalten kann, erschließt sich die Schönheit dieser Musik ganz besonders eindrücklich!

Ganz frisch in diesem Jahr erschienen ist das Weihnachtsalbum von Concerto Köln (die Aufnahmen sind im Januar 2011 im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks, also quasi in meiner direkten Nachbarschaft entstanden!) und auch hier gibt es - neben dem eigentlich ja zu erwartenden exzellenten Ensembleklang - einige interessante Punkte zu vermelden, was die Programmzusammenstellung anbetrifft:

Neben den "Klassikern" von Corelli und Torelli ist diesmal die berühmte Sinfonia aus Bachs Weihnachtsoratorium vertreten, wie auch 6 Sätze aus Charpentiers "Noëls sur les instruments".

Überraschenderweise selten anzutreffen - aber hier erfreulicherweise mitberücksichtigt - ist Vivaldis E-Dur Violinkonzert (RV 270) mit dem Titel "Il riposo - per il Santissimo Natale".
Was hingegen sein Konzert für Mandoline und 2 Violinen in D-Dur auf dieser Weihnachts-CD zu suchen hat, wollte sich mir nicht so ganz erschließen…

Überhaupt nirgends bin ich bislang der Sinfonia pastorale in D-Dur op. 4 Nr. 2 von Johann Stamitz (1717-1757) begegnet - eine wirklich interessante (früh)klassische viersätzige Sinfonie! Ein echtes Fundstück, das Concerto Köln hier gemacht hat!

Und die um 1670/ 80 im böhmischen Olmütz entstandene dreiteilige Sonata natalis in C-Dur von Pavel Josef Vejvanovsky (ca. 1633-93) mit ihren Anleihen an das alte Weihnachtslied "Joseph, lieber Joseph mein" bekommt man auch nicht allzu häufig zu hören.

Ludwig Güttler hat die Komposition dieses barocken Trompetenvirtuosen auf seiner Weihnachts-CD auch schon mal eingespielt.

Mittwoch, 30. November 2011

Heute in der Lunch-Time-Orgel

Folgendes Programm spielte Organist Wolfgang Abendroth heute Mittag für uns:

Johann Christian Bach (1735-82)
Sonate G-Dur

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-47)
Drei Präludien und Fugen op. 37


Die zweisätzige Sonate des jüngsten Bach-Sohns ist ursprünglich für "Clavier" geschrieben worden (was immer man Mitte des 18. Jahrhunderts auch darunter verstehen mochte - da gab es nämlich viele Möglichkeiten...), Wolfgang Abendroth spielte sie nun auf der Orgel, was ebenfalls wunderbar funktionierte. Ihre bereits in der Früh-Klassik beheimateten Klänge machten deutlich, dass sich gerade der junge Mozart vom "Londoner Bach" eine Menge abgeschaut hat.

Die drei Präludien und Fugen op. 37 von Felix Mendelssohn sind auch als große Hommage an den von ihm bewunderten Johann Sebastian Bach zu verstehen, der im frühen 19. Jahrhundert noch seiner Wiederentdeckung harrte.

Schön, gleich alle drei Stücke des Opus 37 hintereinander hören zu können - so wurden die ganz unterschiedlichen Charaktereigenschaften, die Mendelssohn den drei Sätzen in c-moll, D-Dur und d-moll verliehen hat, besonders eindrücklich vorgestellt: Drängend und aufwühlend das erste Präludium-Fugen-Paar, eher lyrisch und optimistisch das zweite und virtuos das dritte! Abendroth wählte insgesamt ein zügiges Tempo (ich habe die Sätze auch schon deutlich getragener gespielt gehört), was dem Ganzen gut bekam und dieser Musik einen jugendlich-frischen Anstrich verlieh, der der Intention des jungen Mendelssohn sicher sehr nahe kam!

Freitag, 25. November 2011

"Klassik" - wo ist da eigentlich die Grenze?

In den letzten Tagen bin ich an zwei ganz unterschiedlichen Stellen mit der Fragestellung konfrontiert worden, was man eigentlich alles noch in die Schublade "Klassik", bzw. "klassische Musik" stecken darf, bzw. wo da die Grenze zu anderen Musikbereichen zu ziehen ist.

Ich hatte mich ja schon einmal über das oft etwas lästige, weil einengende Schubladendenken mokiert - und erst recht über die fast schon fatale Kategorisierung von Musik in diesen U- und E-Sektor, aber irgendwie ertappt man sich dann doch immer wieder mal dabei, dass man denkt, dies oder das passe aber nun wirklich nicht in die Kategorie X oder Y. Das Ganze ist ja auch so bequem :-)

Anfang der Woche war ich zum Beispiel beim Optiker. Einer dieser Läden, in denen im Hintergrund ständig mehr oder weniger dezent (jedenfalls deutlich leiser als in diesen hippen Klamottenläden!) die Art von Popmusik läuft, die niemandem weh tut und die eh schon keiner mehr richtig wahrnimmt. Also ungefähr das, was viele Radiosender immer als "Das Beste aus den 80ern, 90ern und natürlich von heute" anpreisen…
Das Ganze dient halt als eine Art Klangteppich für Kunden und Mitarbeiter, damit es nicht so leise zugeht im Laden.

Naja - ich hatte auch nicht wirklich hingehört, was da eigentlich gerade gespielt wurde, als der 18-jährige Azubi in den Verkaufsraum kam, kurz aufhorchte und mit leuchtender Miene zu seiner Kollegin an der Kasse sagte: "Hey - das ist ja cool! Ich wusste ja gar nicht, dass wir hier auch Klassik spielen!"
Ich wäre vor Überraschung in dem Moment fast vom Stuhl gefallen - jetzt wurde ich natürlich hellhörig!
Aber zu meiner Enttäuschung lief da irgendein x-beliebiger Titel einer mir nicht näher bekannten Sängerin - ich konnte mir zunächst überhaupt nicht erklären, wie der junge Typ bloß auf die Idee kam, dass dieser Song nun plötzlich "Klassik" sein sollte (was immer er sich darunter bloß vorstellen mochte)?

Seine Kollegin schien das ebenso zu sehen und fragte ihn dann auch prompt, wie er denn darauf käme - worauf der Azubi antwortete, dass da doch eine Flöte zu hören sei und so'n Streich-Dings, dann wäre das ja wohl Klassik, oder wie…
Ich hörte jetzt ganz genau hin, was da aus den Lautsprechern rieselte und tatsächlich - zwischendrin erklangen kurze Flötentöne und auch ein Cello war ab und an vernehmbar.

Tja - also definitiv "Klassik", kein Zweifel!

Und dann ist da noch der bekannte Online-Händler, dessen Name so frappant an den brasilianischen Urwaldfluss erinnert. Da habe ich irgendwann einmal zwei oder drei CDs mit klassischer Musik (also die mit Flöten und Cellos und so…) bestellt und erhalte seitdem mehr oder weniger regelmäßig Mails, in denen mir neue Angebote aus dem Sektor angeboten werden, in dem ich seinerzeit mal etwas gekauft hatte.

Ich öffnete also die entsprechend mit "Klassik: Die wichtigsten CD-Neuheiten" betitelte Mail und betrachtete mit einer Mischung aus Erstaunen und Ungläubigkeit diese wichtigsten Neuheiten aus dem Klassik-Bereich:

David Garrett - Legacy
Die Priester - Spiritus Dei
Andrea Bocelli - Concerto: One Night in Central Park
Verschiedene Interpreten: Klassik zum Träumen
Il Divo - Wicked Game
Tina Turner: Children Beyond

Was soll das bloß?
Ich hatte in meiner grenzenlosen Naivität CDs mit Musik von Vivaldi, Beethoven & Co. erwartet (denn auch hier hätte es aktuell "wichtige Neuheiten" gegeben)!

Die können doch nicht im Ernst glauben, dass sich dieses absurde Sammelsurium neu erschienener CDs unter dem Dach "Klassik" anpreisen lässt? Da spielen ja noch nicht mal überall Flöten mit (obwohl - das müsste man bei diesen Priestern oder bei Signor Bocelli vielleicht erst noch mal nachprüfen…)!

Allerdings - unter welchen Überbegriff lässt sich Musik wie diese überhaupt zusammenfassen?
Vielleicht sollte man das auch lieber gleich ganz lassen.

Jedenfalls stellt sich mir anhand dieser zwei kleinen Begebenheiten dann schon die Frage:
Was ist Klassik? Wo fängt das an - und vor allem: Wo hört das auf?

"Klassik" scheint eine Definition zu sein, die sich jeder ganz nach persönlichem Geschmack zurechtzurrt:
Für den einen reichen bereits Flöten und Streicher, für den anderen Il Divo, Die Priester oder die Ten Tenors - man fragt sich, welche dieser beiden Definitionen gruseliger ist… ;-)

Mittwoch, 23. November 2011

Heute in der Lunch-Time-Orgel

Nachdem in der vergangenen Woche das Orgelkonzert aufgrund der Buß- und Bettags-Mittagsandacht ausfallen musste, war die Vorfreude an diesem Mittwoch natürlich besonders groß - und wir wurden nicht enttäuscht!

Wolfgang Abendroth, Kantor der Düsseldorfer Johanneskirche, spielte heute für uns Musik vom Großmeister der französischen Orgelromantik:

Charles-Marie Widor (1844-1937)
Symphonie pour orgue Nr. 6 g-moll op. 42 Nr. 2


Die fünfsätzige, im Jahr 1887 erschienene 6. Orgelsinfonie Widors passte mit ihrer Dauer von etwas mehr als einer halben Stunde perfekt ins Mittagskonzert.

Besonders gefällt mir der erste Satz dieses vom Aufbau her mehr einer Suite als einer klassischen Sinfonie nahestehenden Werks: Dramatisch, drängend, von einer aufgewühlten Unruhe geprägt - sehr ansprechend!

Widor hat insgesamt 10 Orgelsinfonien komponiert - nachdem die heutige Sechste so gut beim Publikum ankam, wäre es doch eine interessante Idee, sukzessive auch einmal die übrigen neun Sinfonien erklingen zu lassen...?!

Freitag, 18. November 2011

Das Bonmot für Zwischendurch...

Heute eine amüsante, aber auch nachdenklich machende Erkenntnis des wohl bekanntesten Komponisten der Schweiz:

Das Wichtigste, was das Publikum von einem Komponisten verlangt, ist, dass er tot ist.

Arthur Honegger (1892-1955)

Dienstag, 15. November 2011

KlassikAkzente werden eingestellt

Gestern flatterte mir mit der Post die neuste Ausgabe der KlassikAkzente, des Kundenmagazins der Deutsche Grammophon sowie von Labels wie DECCA, PHILIPS, etc. (alle unter dem Dach von UNIVERSAL Classics) auf den Tisch.

Wie ich dem Vorwort von Chefredakteur Andreas Kluge mit einiger Überraschung entnehmen konnte, wird diese Ausgabe dann auch die letzte ihrer Art sein - das Kundenmagazin (das regelmäßig auch im Fachhandel ausliegt) wird in seiner papierenen Form eingestellt und die Leser auf die bereits seit Jahren bestehende Homepage der KlassikAkzente verwiesen, um sich künftig über Neuerscheinungen aus dem Hause UNIVERSAL zu informieren.

Damit geht - und da übertreibt der Chefredakteur wirklich nicht - wahrhaftig eine Ära zu Ende, denn die KlassikAkzente als Kundenmagazin erscheinen immerhin seit dem Herbst 1978, also seit mehr als 30 Jahren!
So waren die KlassikAkzente denn auch das erste Klassikheft (im weitesten Sinne), das ich als Teenager in die Hand bekam und das mir auf dem unüberschaubar großen Markt der Klassiktonträger zumindest eine erste Orientierung gab...

Auch wenn ich mich in den vergangenen Jahren immer wieder mal über die werbeträchtigen Lobeshymnen in den Artikeln
dieses Heftes amüsiert habe, ist es schon komisch, dass es diese Publikation, die mich bislang während meiner kompletten "Klassik-Laufbahn" begleitet hat, nun nicht mehr geben wird.

Eigentlich war diese Entwicklung aber abzusehen - der Tonträgerbranche geht es ja seit Jahren nicht gut (wenngleich es auch im Klassiksektor deutlich besser aussieht als in der Pop- und Rockbranche) und es muss halt gespart werden.
Die KlassikAkzente erschienen erst sechs, dann nur noch vier Mal pro Jahr und auch der Versuch, aus dem mehr informativen Prospekt, der schlicht über die Neuerscheinungen der nächsten Monate informieren wollte, ab dem Jahr 1999 dem Ganzen mehr den Charakter einer wirklichen Zeitschrift (mit größeren Porträtfotos der Künstler und deutlich längeren Artikeln und Interviews) zu verleihen, schlug damit letztlich wohl fehl. Dieses "Facelifting" und Aufpeppen mit zusätzlichem Glamour hat mich übrigens nie wirklich begeistern können, da für mich der Informationscharakter über die Neuerscheinungen immer im Vordergrund stand, der seitdem oft deutlich zu kurz kam!

Die Homepage, die ich gelegentlich besuche und die man jetzt als Ersatz ausschließlich ansteuern soll, überzeugte mich bislang nicht wirklich - es bleibt zu hoffen, dass das dort jetzt künftig etwas besser wird...

Schade!

Mittwoch, 9. November 2011

Heute in der Lunch-Time-Orgel

Heute spielte Wolfgang Abendroth für uns einen hochvirtuosen Klassiker der Orgelliteratur:

Franz Liszt (1811-1886)
Fantasie und Fuge über den Choral "Ad nos, ad salutarem undam"


Heute gab es dann doch noch den halbstündigen "Koloss":
Franz Liszts im Jahre 1850 entstandene erste Orgelkomposition, die ich mir neulich zum 200. Geburtstag schon gewünscht hätte - quasi als Nachschlag zum Jubiläum am 22. Oktober!

Diese doch recht umfangreiche Variationenreihe über den Choral aus der Oper "Le Prophète" von Giacomo Meyerbeer (1791-1864) dürfte eine echte Herausforderung für jeden Organisten darstellen.

Es war toll - ein echtes Highlight und eine sehr überzeugende Interpretation unseres Organisten!

Mittwoch, 2. November 2011

Heute in der Lunch-Time-Orgel

Gastorganist im heutigen Mittagskonzert war Jens-Peter Enk (Kantor der Düsseldorfer Christuskirche) - sein Programm sah wie folgt aus:

Dietrich Buxtehude (1637-1707)
Zwei Choralbearbeitungen über
"Ein feste Burg ist unser Gott" BuxWV 184
"Erhalt uns, Herr, bei Deinem Wort" BuxWV 185

J. S. Bach (1685-1750)
Fantasie und Fuge g-moll BVW 542

Franz Liszt (1811-1886)
Präludium und Fuge über B-A-C-H


Die beiden das heutige Konzert einleitenden kurzen Choralbearbeitungen waren ganz dem dieswöchigen Reformationstag (31.10.) verpflichtet.

Bachs Fantasie und Fuge in meiner Lieblingstonart g-moll mag ich besonders gern - das ganze Stück ist so wunderbar dramatisch und das Fugenthema sehr eingängig!

Und über das wohl bekannteste Orgelstück von Franz Liszt habe ich mich besonders gefreut - schließlich ist der Gute am 22.10. zarte 200 Jahre alt geworden und eine Würdigung seiner Orgelmusik stand bislang im Rahmen der Mittwochskonzerte noch aus! Ein ausgesprochen expressives und virtuoses Stück - ganz so, wie man es von einem Komponisten wie Liszt auch erwarten würde...
Eine tolle Interpretation vom Organisten - heute hat es sich mal wieder ganz besonders gelohnt!

Montag, 31. Oktober 2011

Blutsauger im Opernhaus - "Der Vampyr" von Heinrich Marschner

Seit Monaten - ach, was sage ich - seit nun schon mindestens zwei Jahren stößt man kurz nach Betreten jeder x-beliebigen Buchhandlung auf einen (oder mehrere) gut gefüllte Tische, auf denen sich eine Unzahl von Romanen, Bildbänden und Sachbüchern zum Thema Vampire stapelt - ich hätte nie gedacht, dass es zu dem Thema - abgesehen von Graf Dracula - so viel Literatur geben würde! Vampire sind im Moment vollkommen im Trend, auch im Kino und in zahllosen Fernsehserien - wer hätte das noch vor drei oder vier Jahren gedacht, wo man mit dem klassischen Thema Vampire niemanden wirklich in Verzückung hätte versetzen können - und heute sind es gerade und vor allem die Teenies, die sich für diese beißfreudigen "Freunde der Nacht" ganz besonders begeistern können…!

Pünktlich zu Halloween möchte ich daher heute dieses Thema aufgreifen und einmal auf eine Oper aufmerksam machen, die ganz wunderbar in diesen Trend passen würde, wenn, ja wenn man die Chance hätte, diese Oper auch mal in irgendeinem unserer zahlreichen Opernhäuser erleben zu können!

Dabei wäre es doch sicher eine gute Gelegenheit für ein ambitioniertes Theater, hier mal auf einen Trendzug aufspringen zu können (da hat man als Opernhaus ja auch nicht immer wirklich Gelegenheit zu…) und vielleicht auch mal ein gezielt jüngeres Publikum anzulocken!

Die Rede ist von Heinrich Marschners am 29.03.1828 in Leipzig uraufgeführter Oper Der Vampyr (op. 42) - die ein typisches Stück jener Epoche der Schwarzen Romantik darstellt, in der sich die Leute für Geister-, Schauer- und Fluchgeschichten aller Art besonders begeisterten (ähnlich wie heutzutage) und nicht nur in England sogenannte Gothic novels entstanden, die diese Mode aufgriffen und durch immer neue Themen nährten und dem Ganzen neue Facetten des Gruselns und des Übernatürlichen hinzufügten.

Natürlich gab es auch zahlreiche Bühnenwerke, die sich der Thematik der Schwarzen Romantik verschrieben - Carl Maria von Webers 1821 uraufgeführte Oper Der Freischütz dürfte das wohl bekannteste Beispiel aus diesem Sektor sein und man kann sich gut vorstellen, warum sich gerade Mozarts Oper Don Giovanni aus dem Jahr 1787 mit ihrer Höllenfahrt des zügellosen Titelhelden am Ende just in diesen Jahren einer ganz besonderen Beliebtheit erfreute.

Heinrich Marschner (1795-1861) war 1824 Musikdirektor der Dresdner Oper geworden, und von 1827 bis 1831 musikalischer Leiter der Oper Leipzig, bevor er dann von 1831 bis 1859 Hofkapellmeister der Oper in Hannover wurde.
In der Leipziger Zeit entstand (7 Jahre nach Webers Freischütz) mit dem Vampyr sein erster großer Opernerfolg, der dann 1833 von seiner ebenfalls im Bereich des Übernatürlichen angesiedelten Oper Hans Heiling (König der Erdgeister) op. 80 noch überflügelt wurde.

Das Libretto zu dieser Vampiroper verfasste Wilhelm August Wohlbrück (1794-1848), der Schwager des Komponisten.
Das Textbuch basiert auf der 1816 entstandenen Erzählung "The Vampyre" von John Polidori (1795-1821) und diese Erzählung gilt als die erste bedeutende Vampirerzählung der Literatur, die den Vampirmythos aus dem Bereich der Volkssage herausholt und mit dem adligen, eleganten Gentleman Lord Ruthven den ersten "modernen" Vampir erschafft. Eine Figur, die nicht nur abstoßend, sondern auf faszinierende Weise auch attraktiv, anziehend und geradezu unwiderstehlich auf ihre Opfer wirkt - da schwingt unterschwellig bereits eine ganze Menge Erotik mit...!

Polidori war ein Freund von Mary Shelley (1797-1851), deren weltberühmter Roman "Frankenstein" im Jahr 1818 erschienen, aber ebenfalls bereits im Jahr 1816 als Grundidee entstanden war.
Interessant, dass diese beiden heute wohl berühmtesten Figuren des Gruselgenres (der wahnsinnige, Monster erschaffende Wissenschaftler sowie der unwiderstehliche und unerbittlich mordende Vampir) beide zur selben Zeit von zwei befreundeten Autoren kreiert wurden!
John Polidori war Gefährte und Leibarzt des berühmten Lord Byron (1788-1824), einer schillernden und exzentrischen Figur, die gut in die Epoche der Romantik passte und die Erzählung "The Vampyre" baut auf einem Fragment Byrons auf, dem Polidori Elemente für seine eigene Story entnahm.
Dies führte dann schon bei der Erstveröffentlichung der Erzählung im Jahr 1819 dazu, dass irrtümlich Lord Byron als Autor von "The Vampyre" bezeichnet wurde, was der Geschichte jedoch auch zu weit größerer Beachtung und Erfolg verhalf und wohl auch deshalb von John Polidori nicht reklamiert und richtiggestellt wurde.

Nach zahlreichen weiteren Vampirerzählungen (unter anderem von Edgar Allan Poe, Nikolai Gogol, Joseph Sheridan Le Fanu oder Leo Tolstoi) sorgte letztendlich Bram Stoker (1847-1912) mit seinem im Jahr 1897 erschienenen Welterfolg "Dracula" dafür, dass Polidoris Erzählung ziemlich in Vergessenheit geraten ist, obwohl gerade der uns allen bekannte Graf Dracula und alle seine Nachfolger ohne das Vorbild von Polidoris Gentleman-Vampir Lord Ruthven undenkbar wären.

Im Gegensatz zur literarischen Vorlage hat Marschners gut zweieinhalbstündige Oper in vier Akten übrigens ein Happyend.
Nach der Ouvertüre folgen 20 Musiknummern, die durch Dialoge miteinander verbunden sind.

Worum geht es?

Lord Ruthven ist zum Vampyr geworden, weil er einst meineidig geworden ist, also einen falschen Eid geleistet hat, bzw. weil er einen Eid gebrochen hatte. Diese schwere Sünde hat ihn zu einem Diener der Hölle gemacht und er muss seitdem ruhelos umherziehen und seinen Opfern, die ihm aufgrund seines fast schon als hypnotisch zu bezeichnenden Wesens als Vampyr willenlos verfallen sind, das Blut aussaugen. So hat er auch seine Familie, Frau und Kinder töten müssen, ohne sich diesem inneren, teuflischen Drang nach dem Blut anderer Menschen entziehen zu können - dies ist die Strafe, die er zu tragen hat. Anders als spätere Vampirfiguren ist er nicht darauf beschränkt, sich nur in der Nacht draußen umherbewegen zu können, jedoch besitzt das Mondlicht für ihn magische, heilende und auch verjüngende Fähigkeiten.

Er hat vor Beginn der Opernhandlung dem jungen, mittellosen Adligen Edgar Aubry das Leben gerettet und dieser steht seitdem in seiner Schuld.

Zu Beginn der Oper trifft der Zuschauer auf eine Szenerie, die er bereits aus der Wolfsschluchtszene aus Webers Freischütz bestens kennt:
Eine unheimliche, nächtliche Schlucht in fast unzugänglicher Wildnis, bevölkert von allerlei übernatürlichen Geistererscheinungen.
Marschners Oper - das muss man leider sagen - erweckt leider häufiger den Eindruck, dass sie eine Art "Freischütz-Reloaded" darstellt, so ähnlich sind sich manche Szenen, Personenkonstellationen und musikalische Nummern.

Vielleicht hat diese Tatsache dazu beigetragen dass sich der Vampyr im Vergleich zum Freischütz nie wirklich dauerhaft im Repertoire hat halten können - im Zweifel hat man halt das Original diesem Nachzügler vorgezogen (auch wenn das ungerecht erscheinen mag).

In diese gruselige Atmosphäre (Weber schafft es jedoch meiner Meinung nach eindeutig, in seiner Wolfsschlucht musikalisch eine wesentlich gelungenere Spukatmosphäre hervorzuzaubern) tritt nun Lord Ruthven, der Vampyr, der hier eine Verabredung mit dem Vampyrmeister hat.
Ihm wird ein weiteres Erdenjahr vergönnt, wenn er es schafft, innerhalb von 24 Stunden drei "zarte, reine Bräute" als Opfer darzubringen. Freischütz-Kennern wird diese Bedingung bekannt vorkommen - der finstere Jagdgeselle Kaspar muss Samiel, dem schwarzen Jäger (im Übrigen genau wie der Vampyrmeister eine reine Sprechrolle) ein ähnliches Opfer darbringen, um ein weiteres Jahr des Überlebens zu erhalten.

Lord Ruthven willigt jedenfalls ein (was bleibt ihm auch anderes übrig?), zumal er bereits Vorbereitungen für zumindest zwei Opfer getroffen hat:

Zuerst läuft ihm die schwärmerische Janthe, Tochter des noblen Sir Berkley, noch direkt vor Ort in die Arme. Sie hat sich Hals über Kopf in den sie unwiderstehlich anziehenden jungen Lord verliebt und das väterliche Schloss kopfüber in der Nacht vor ihrer Hochzeit verlassen, um mit dem heimlichen Geliebten durchzubrennen. Lord Ruthven fackelt nicht lange und nach einem kurzen Duett zieht er die junge Dame in die berüchtigte Vampyrhöhle, aus der schon kurze Zeit später die sie mittlerweile suchenden Diener und Landleute ihre verzweifelten Todesschreie vernehmen.

In seiner triumphierenden Arie (die dieser Szene vorausgeht) hat Ruthven mit finsterer Bariton-Stimmlage bereits seine "Visitenkarte" als schurkisch-skrupelloser, jedoch auch sehr anziehender Bösewicht (womit er Mozarts Don Giovanni als weiterem Vorbild ebenfalls recht nahekommt) abgegeben:
Ha! welche Lust, aus schönen Augen
An blühender Brust
Neues Leben
In wonnigem Beben
Mit einem Kusse in sich zu saugen!
Ha! welche Lust
In liebendem Kosen
Mit lüsternem Mut
Das süßeste Blut
Wie Saft der Rosen
Von purpurnen Lippen
Schmeichelnd zu nippen!
Und wenn der brennende Durst sich stillt,
Und wenn das Blut dem Herzen entquillt,
Und wenn sie stöhnen voll Entsetzen,
Haha! Welch Ergötzen! Welche Lust!
Mit neuem Mut
Durchglüht mich ihr Blut;
Ihr Todesbeben ist frisches Leben!
Armes Liebchen, bleich wie Schnee,
Tat dir wohl im Herzen weh!
Ach, einst fühlt' ich selbst die Schmerzen
Ihrer Angst im warmen Herzen,
Das der Himmel fühlend schuf.

Nachdem der Vampyr nun also sein erstes Opfer gefunden hat, wird er vom rasenden Vater Janthes, der sich ebenfalls auf der Suche nach der Verschwundenen eingefunden hat, gestellt und tödlich verwundet. Man lässt ihn sterbend zurück, als klar wird, dass man sich unmittelbar vor der verrufenen Vampyrhöhle befindet.

Nun tritt mit Edgar Aubry der jugendliche Held der Oper auf (ein Tenor natürlich, was sonst?) und erkennt in dem Sterbenden Lord Ruthven, der ihm einst das Leben rettete.
Ruthven nutzt diese Tatsache für seine Zwecke, in dem er Edgar schwören lässt, alles, was dieser von ihm weiß, bzw. noch erfahren oder auch nur erahnen wird, 24 Stunden lang zu verschweigen. Der edelmütige Edgar schwört dies feierlich, wenn auch mit Grausen (man hat ihm in London über seinen Lebensretter erzählt, dass dieser vermutlich ein Vampyr sei) und schleppt den verwundeten Ruthven auf eine Anhöhe, wo er ihn, mit dem Gesicht zum Mond liegend, schaudernd zurücklässt.
Die Strahlen des Mondlichts heilen den Vampyr nahezu augenblicklich und dieser erhebt sich und schreitet seinem nächsten Opfer entgegen. Marschner findet für diese Szene eine eindringliche Musik, die das Ganze untermalt!

Nun entwickelt sich im 2. Akt zunächst eine recht typische Opernhandlung:
Reiches Mädchen aus gutem Hause (Malwina) liebt mittellosen Jüngling (den uns bereits bekannten Edgar) - ihr gestrenger Herr Papa (Sir Humphrey, Lord von Davenaut), hat jedoch bereits einen anderen (wohlhabenden) Heiratskandidaten ausgeguckt: Den in der Nachbarschaft ansässigen Earl von Marsden, der es mit der Hochzeit auch noch ziemlich eilig hat, da er als Gesandter nach Madrid bestellt wurde und am selbigen Tag - nach vollzogener Trauung - noch abreisen muss. Natürlich verbirgt sich hinter diesem Earl niemand anderes als Lord Ruthven, der sich als der seit Jahren im Ausland umhergereiste Bruder des jüngst verstorbenen Earl (und damit jetzt als der Erbe seines Titels) ausgibt und sich auf dessen Stammsitz eingenistet hat.

Als Edgar erkennt, welchem Bräutigam seine geliebte Malwina da am selben Tage noch zugeführt werden soll, ist er entsetzt, lässt sich aber mehrfach von Ruthven unter dem Verweis auf den von ihm geleisteten Schwur davon abhalten, Malwina oder deren Vater zu warnen.

Malwina selbst ist natürlich auch nicht gerade begeistert, diesen unheimlichen bleichen Mann heiraten zu müssen, da sie auf ihren Edgar ebenfalls nicht verzichten will.
Ihr Vater zeigt sich natürlich stur und beharrt auf dem von ihm als Ehrenmann gegebenen Wort.
Malwina wird - eine weitere Parallele zum Freischütz - quasi als Ebenbild Agathes gezeichnet: Rein, standhaft, von zuversichtlichem Gottvertrauen gestärkt. Allein schon ihre große Auftrittsarie "Heiter lacht die goldne Frühlingssonne", die einen wirkungsvollen Gegensatz zur Düsternis der unmittelbar vorangegangenen Szene an der Vampyrhöhle darstellt, erinnert in ihrem Aufbau schon sehr an Agathes Szene "Wie nahte mir der Schlummer" aus dem 2. Akt des Freischütz.

Und auch Edgar Aubry lässt sich - zumindest in Teilen - gut mit Max aus dem Freischütz vergleichen - seine Arie "Wie ein schöner Frühlingsmorgen" mit ihrem Schwanken zwischen lyrischer Liebessehnsucht und dem Schrecken vor der dunklen Bedrohung korrespondiert mit Maxens ungleich berühmterer, im Aufbau ähnlicher Arie "Durch die Wälder, durch die Auen" - das Unglück will es, dass es Weber bei bisher jedem der aufgezeigten Beispiele deutlich besser gelingt, sowohl die jeweiligen Stimmungen prägnanter auszudrücken, wie auch die eingängigeren Melodien zu finden…!

In einer eindrucksvollen Szene schildert Lord Ruthven dem entsetzten Edgar, wie er selbst zum Vampyr wurde und wie Edgar dasselbe Schicksal droht, wenn er seinen Eid bricht und Malwina vor ihm warnt:

“Reue sühnet Meineid nicht;
Kehre du zurück mit Graus
In das kaum verlassne Haus.“
Nun gehst du, ein grausiger Leichnam, einher,
Bestimmt, dich vom Blute derer zu nähren,
Die dich am meisten lieben und ehren.
Im Innern trägst du verzehrende Glut,
Bei deinem Leben hast du's geschworen:
Was durch dich lebt, ist durch dich verloren;
Der Gattin, der Söhne, der Töchter Blut,
Es stillet zuerst deine scheußliche Wut,
Und vor ihrem Ende erkennen sie dich
Und fluchen dir und verfluchen sich!
Doch was dir auf Erden das Teuerste war,
Ein liebliches Mädchen mit lockigem Haar,
Schmiegt bittend die kleinen Handchen um dich.
Die Tränen ins helle Äuglein ihr treten.
Sie lallet: “Vater, verschone mich,
Ich will auf Erden für dich beten!“
Du siehst ihr ins unschuldig fromme Gesicht,
Du möchtest gern schonen und kannst es doch nicht!
Es reizt dich der Teufel, es treibt dich die Wut!
Du musst es saugen, das teure Blut!
So lebst du, bis du zur Holle fährst,
Der du auf ewig nun angehörst;
Selbst dort noch weichet vor deinem Blick
Die Schar der Verworfnen mit Schaudern zurück:
Denn gegen dich sind sie engelsrein,
Und der Verdammte bist du allein!

Diese, zwischen Arioso und orchesterbegleitetem Rezitativ hin und her changierende "Große Szene" weist schon voraus auf Richard Wagner, der sich von Marschners Opern durchaus inspirieren und beeinflussen ließ und in seinem 1843 uraufgeführten Fliegenden Holländer einige Elemente aus dem Vampyr wieder aufgreifen wird. Der Zuschauer erfährt hier durchaus Tragisches über den ruhelosen Vampyr und man fühlt schon fast Mitleid für ihn, was diese Figur wiederum zu einem ausgesprochen vielschichtigen Charakter macht (zumindest an dieser Stelle des Stücks), der sich nicht so einfach in die klassische Schublade des "nur" bösen Schurken einordnen lässt!

Im 3. Akt feiern die Landleute auf dem Schloss des Earl of Marsden die bevorstehende Hochzeit von Emmy Perth, der Tochter des Gutsverwalters des Earls, mit George Dibdin, der wiederum Bediensteter von Sir Humphrey ist.

In der naiven und hübschen jungen Emmy findet Lord Ruthven (hier natürlich in seiner Rolle als Earl of Marsden auftretend) dann sein zweites Opfer - das Mädchen kann sich dem Reiz des weltmännisch und galant auftretenden Edelmanns nicht entziehen und folgt ihm willenlos nach kurzer Verführung ins Verderben. Hier drängt sich nun natürlich der Vergleich mit Mozarts Don Giovanni auf - und zwar mit der Szene, wo dieser das Bauernmädchen Zerlina von ihrer Hochzeitsgesellschaft weglockt und verführt und diese Tat mit dem berühmten Duett "La ci darem la mano" einleitet.
Das entsprechende Verführungsduett im Vampyr ("Leise dort zur fernen Laube") durchzieht im Gegensatz zur lyrischen Stimmung bei Mozart jedoch ein konsequent bedrohlich-nervöser Unterton in den tiefen Orchesterstimmen, was die Spannung dieser Szene natürlich entsprechend steigert.

Um den Gegensatz zu dieser Bedrohung besonders wirkungsvoll zu gestalten, enthält der 3. Akt mit den zahlreichen Trink- und Tanzgesängen der feiernden Landleute eine biedermeierlich-fröhliche Atmosphäre, die jedoch trügerisch ist, da der Tod Emmys nicht mehr verhindert werden kann und der Vampyr seinen Verfolgern entwischt. Der kurze Trauergesang aller Anwesenden, die erschüttert vor der getöteten Braut stehen, bildet dann auch einen dramaturgisch eindringlichen Kontrast zum unmittelbar vorangegangenen ausgelassenen Trinkgelage.

Im 4. Akt wird es nun spannend - wird Edgar es schaffen, die drohende Hochzeit seiner geliebten Malwina so lange hinauszuzögern, bis die 24 Stunden verstrichen sind und er nicht mehr an den geleisteten Schwur gebunden ist? Die Zeit für Lord Ruthven, diese dritte Braut noch rechtzeitig auszusaugen, wird nämlich allmählich knapp…

Das Finale, dass diese Szenen schildert, ist Marschner wirklich ziemlich packend gelungen - und auch hier erinnert wieder einiges an das Finale des Freischütz (z. B. wenn der Vampyrmeister wie Samiel aus der Tiefe emporsteigt, um sein Opfer unter Donner und Blitz mit in die Hölle zu nehmen oder der abschließend gemeinschaftlich gesungene Lobpreis an die rettenden Himmelsmächte), wenngleich Marschner sich hier deutlich knapper fasst als Weber (und wieder einmal bei Weitem nicht so "knackige" Melodien findet wie dieser)…

Nachdem es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr ruhig um diese Oper geworden war, sorgte der Komponist (und Bewunderer Marschners) Hans Pfitzner (1869-1949) mit seiner revidierten Fassung aus dem Jahr 1924 dafür, dass sie zumindest zeitweise wieder ins Repertoire zurückfand.
Pfitzner kürzte hierfür einige Nummern (vor allem Ensembles), die sich zum Teil etwas langatmig gestalten, ohne dass sie die Handlung weiterbringen.
Außerdem fasste er die vier zu zwei Akten zusammen und platzierte die Ouvertüre als Überleitung zwischen erstem und zweitem Bild um. Die Wiederentdeckung des Vampyrs für die Opernbühne fiel passenderweise in die Zeit des deutschen Expressionismus, wo man sich erneut für Übernatürliches und Schauriges begeisterte - der auch heute noch bekannte Vampir-Stummfilmklassiker Nosferatu von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahr 1922 fällt zum Beispiel genau in diese Zeit…

So gesehen eigentlich eine gute Gelegenheit, auch einmal über eine Wiederentdeckung dieser Oper in der heutigen Zeit nachzudenken, die Voraussetzungen scheinen mir im Moment geradezu ideal zu sein!

Leider sieht es in puncto verfügbarer Aufnahmen dieser Oper im Moment ziemlich düster aus.

Ich habe eine Einspielung, die im August 1999 in Köln entstanden und beim Label CAPRICCIO erschienen ist und die unter anderem mit folgenden Mitwirkenden aufwarten kann:

Edgar Aubry: Jonas Kaufmann
Lord Ruthven: Franz Hawlata
Malwina: Regina Klepper
Janthe/ Emmy: Anke Hoffmann
George Dibdin: Thomas Dewald
Sir Humphrey: Markus Marquardt
WDR Rundfunkchor und - orchester Köln
Dirigent: Helmuth Froschauer


Leider enthält die Aufnahme keine Dialoge und einige Nummern (vor allem die Ensembles im 2. Akt) wurden leicht gekürzt - es könnte sich hierbei um die von Hans Pfitzner vorgenommenen Eingriffe handeln, wozu im Booklet leider nichts erwähnt wird.

Ansonsten ist der Klang der Aufnahme tadellos, die Damen überzeugen durch gute Gesangsleistungen, Franz Hawlata in der Titelrolle hat einen grimmig-fordernden Unterton in seinem markanten Bariton, was seiner Rolle ganz gut ansteht (aber manchmal auch etwas stört) und der damals noch völlig unbekannte Tenor Jonas Kaufmann brilliert als wirklich schönstimmiger und kraftvoller jugendlicher Held Edgar.

Auch Chor und Orchester können überzeugen (auch wenn ich mir an manchen Stellen doch noch etwas mehr Dramatik gewünscht hätte, statt "soliden" aber irgendwie recht "gezähmt" wirkenden Musizierens!), so dass diese doch recht neue Aufnahme eigentlich zu empfehlen wäre - allerdings bin ich nicht sicher, ob sie momentan noch auf dem Markt ist.
Aber das ändert sich ja sowieso bestimmt demnächst wieder - CAPRICCIO bringt zurzeit einige ältere Opernaufnahmen wieder in neuer Aufmachung heraus und hier könnte man jetzt ja mit dem zwischenzeitlich berühmt gewordenen Jonas Kaufmann in einer Hauptrolle werben!

Eine etwas sonderbare Produktion, die seit einigen Jahren schon auf dem Markt ist (und die ich vor einiger Zeit zu einem wahren "Ramschpreis" erstanden habe), stellt eine Aufnahme aus dem Januar 1980 dar, die in Italien entstanden ist:

Edgar Aubry: Josef Protschka
Lord Ruthven: Siegmund Nimsgern
Malwina: Carol Farley
Janthe: Galina Pisarenko
Emmy: Anastasia Tomaszewska Schepis
George Dibdin: Oslavio Di Credico
Sir Humphrey: Martin Engel
Orchestra Sinfonica e Coro della Radiotelevisione Italiana
Dirigent: Günter Neuhold


Abgesehen davon, dass ich die Klangqualität dieser Aufnahme nicht besonders gut finde (mein CD-Player produziert ein häufiges Knacken, so als ob er eine verkratzte LP abspielen würde), kämpfen einige Darsteller hörbar mit den Tücken der deutschen Sprache - der Chor ist überhaupt nicht zu verstehen, so undeutlich ist hier die Aussprache. Und das sind Faktoren, die mich schon ziemlich stören!

Siegmund Nimsgern als Vampyr klingt deutlich eleganter als Franz Hawlata und auch Josef Protschka als Edgar finde ich wirklich gut!

Auch diese Aufnahme verzichtet leider auf die Dialoge und auch hier wurden einige Kürzungen in der Partitur vorgenommen.

Ich bin nach wie vor überrascht, dass man eine bei uns fast nie aufgeführte Oper dann ausgerechnet in Italien produziert hat - hätte man das nicht hierzulande wesentlich einfacher haben können?
Im Übrigen habe ich den Eindruck, als hätte man bei den CD-Ausgaben des Vampyrs einen heimlichen Wettbewerb gestartet, wem es gelungen ist, das seltsamste Cover dafür zu entwerfen…

Mir ist noch eine Aufnahme unter der Leitung von Fritz Rieger mit Nikolaus Hillebrand und Arleen Augér (aus dem Jahr 1974) bekannt, hierzu kann ich aber nichts weiter sagen.

Ich finde, es wäre an der Zeit, sich sowohl auf der Bühne wie auch auf Tonträgern dieser nicht uninteressanten Vampiroper einmal in aller Sorgfalt anzunehmen - ich bin sicher, sie verfehlt ihre Wirkung nicht, wenn man die Gelegenheit nutzt, ihr mit guten Sängern, moderner Bühnentechnik und den entsprechenden Effekten neues Leben einzuhauchen! Immerhin hat man mit dieser Marschner-Oper die wirklich seltene Chance, mit der Figur des Lord Ruthven den ersten "richtigen" Vampir der Weltliteratur zu erleben - der Urvater für alle nachfolgenden Draculas, Nosferatus, Lestats, Krolocks und wie sie sonst noch alle heißen mögen.

Daher an dieser Stelle auch der Hinweis, dass es Marschners Vampyr derzeit immerhin in einer "kammermusikalischen Version" in der Hamburger Kammeroper zu erleben gibt, wie eine kurze Recherche aktuell ergeben hat. Wer da in der Gegend wohnt, möge sich das ruhig mal anschauen - es lohnt sich bestimmt!

Und dann gibt es noch eine gekürzte, "familienfreundliche" Version am Theater Lübeck. Leider auch wieder "nur" eine stark bearbeitete Fassung, aber immerhin doch schon mal etwas (bevor man die Oper gar nicht auf der Bühne erleben kann) - bezeichnend, dass sich aktuell der Norden als besonders opernvampirfreundlich hervortut... :-)

Abschließend wünsche ich allen damit ein schön gruseliges Halloween und schließe mit dem Text der von Emmy und dem Chor dargebotenen Romanze aus dem 3. Akt (meiner Lieblingsnummer aus dem Vampyr) - ein wirklich stimmungsvolles Stück, das mit fahlen, nervös zitternden Streicher- und Bläserklängen eine angenehme Schauerstimmung aufkommen lässt (und zweifellos Vorbild war z. B. für Wagners Senta-Ballade aus dem Holländer oder auch dem Lied vom verfluchten Jäger Herne aus Nicolais Lustigen Weibern von Windsor):

Sieh, Mutter, dort den bleichen Mann
Mit seelenlosem Blick.
Kind, sieh den bleichen Mann nicht an,
Sonst ist es bald um dich getan,
Weich schnell von ihm zurück!
Schon manches Mägdlein, jung und schön,
Tat ihm zu tief ins Auge sehn,
Musst' es mit bittern Qualen
Und seinem Blut bezahlen!
Denn still und heimlich sag' ich's dir:
Der bleiche Mann ist ein Vampyr!
Bewahr' uns Gott auf Erden,
Ihm jemals gleich zu werden.

Was, Mutter, tat der bleiche Mann?
Mir graust vor seinem Blick!
Kind, sieh den bleichen Mann nicht an,
Viel Böses hat er schon getan,
Drum traf ihn solch' Geschick!
Und ob er längst gestorben nun,
Kann er im Grabe doch nicht ruhn,
Er geht herum als bleiche,
Lebend'ge grause Leiche!
Denn still und heimlich sag' ich's dir:
Der bleiche Mann ist ein Vampyr!
Bewahr' uns Gott auf Erden,
Ihm jemals gleich zu werden.

Wie dauert mich der bleiche Mann,
Wie traurig ist sein Blick!
Kind, sieh den bleichen Mann nicht an,
Sonst ist es bald um dich getan,
Weich schnell von ihm zurück!
Er geht herum von Haus zu Haus,
Sucht sich die schönsten Bräute aus,
Zeigt eine sich gewogen,
So wird sie ausgesogen!
Denn still und heimlich sag' ich's dir:
Der bleiche Mann ist ein Vampyr!
Bewahr' uns Gott auf Erden,
Ihm jemals gleich zu werden.

Es lacht mich an der bleiche Mann
Und heitrer wird sein Blick.
Kind, siehst du ihn noch immer an?
Weh mir, es ist um dich getan,
Weich schnell von ihm zurück!
Sein erster Blick, mit Todesschmerz
Durchzuckte er dein frommes Herz,
Ach, lass dadurch dich warnen,
Sonst wird er dich umgarnen!
Denn still und heimlich sag' ich's dir:
Der bleiche Mann ist ein Vampyr!
Bewahr' uns Gott auf Erden,
Ihm jemals gleich zu werden.

Das Mägdlein folgt dem bleichen Mann,
Es lockte sie sein Blick;
Hört nicht der Mutter Warnen an,
Und bald war es um sie getan,
Nie kehrte sie zurück!
Ein Opfer ward sie seiner Lust,
Mit blut'ger Spur an Hals und Brust
Fand man den Leichnam wieder;
Sie fuhr zur Hölle nieder!
Nun geht sie selber, glaubt es mir,
Umher als grausiger Vampyr!
Bewahr' uns Gott auf Erden,
Ihr jemals gleich zu werden!


Lord Ruthven (kommt in einen großen Mantel gehüllt, langsam und unbemerkt während der letzten Takte von links hinten und tritt unter die Leute): Guten Abend, ihr schönen Kinder!

Die Mädchen fahren mit einem Ausruf des Schreckens auseinander

… jaja - das sind so klassische Bilder, die man bei dieser Szene automatisch vor Augen hat, die hätte man in einer deutschsprachigen Oper aus dem Jahr 1828 so gar nicht erwartet, oder?

Happy Halloween!!!