Mittwoch, 28. November 2012

Heute in der Lunch-Time-Orgel

Vergangene Woche musste die Lunch-Time-Orgel ausfallen, denn da war Buß- und Bettag und in der Düsseldorfer Johanneskirche fand eine halbstündige Mittagsandacht statt – für mehr ist zumindest tagsüber an diesem Tag ja leider keine Zeit mehr, da der Buß- und Bettag seit nunmehr auch schon fast 20 Jahren (!) als Feiertag abgeschafft worden ist!

Dafür stand das Programm des heutigen Mittagskonzerts ganz im Zeichen des Kirchenjahresendes (letzten Sonntag war Totensonntag) und dem Beginn der Adventszeit (und damit des neuen Kirchenjahres) am kommenden Sonntag.

Organist Wolfgang Abendroth spielte folgende Orgelwerke für uns:

J. S. Bach (1685-1750)
aus: Sechs Choräle von verschiedener Art
(„Schübler-Choräle“)
Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ BWV 649
Kommst du nun, Jesu, vom Himmel herunter BWV 650

Max Reger (1873-1916)
Phantasie über den Choral
„Wachet auf, ruft uns die Stimme“ op. 52 Nr. 2


Besonders der Choral aus der Fantasie von Reger, der das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen aufnimmt (wer es nicht kennt, kann gerne mal unter Matthäus, Kapitel 25, 1-13 nachschlagen), gehört liturgisch exakt in diese unmittelbare voradventliche Zeit, in der es um die bevorstehende, aber zeitlich noch ungewisse Ankunft des Messias geht (während die Adventszeit als Vorbereitungszeit auf die Geburt des Messias an Weihnachten ja auf einen konkreten Zeitpunkt hinausläuft). Auch Bach hat für den letzten Sonntag des Kirchenjahres eine schöne Kantate geschrieben, in der der Choral „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ eine zentrale Rolle spielt (BWV 140).

Und so stand nach den beiden kürzeren Choralbearbeitungen dann auch im heutigen Konzert Max Regers große, spätromantisch überbordende Choralfantasie im Zentrum. Eine tolle, teilweise schon erstaunlich modern klingende Komposition (dann aber auch wieder im Wechsel mit betont traditionellen Elementen), in der die große Orgel wieder mal zeigen konnte, was an üppiger Klangentfaltung so alles in ihr steckt!

Nach einem recht düsteren Beginn (die Nacht und die beim Warten auf den Bräutigam eingeschlafenen Jungfrauen illustrierend), in den recht schroffe „Klangblitze“ hereinfahren, steigert sich das Ganze Stück für Stück in die musikalische Schilderung (wobei auch die Choralmelodie zitiert wird) der prachtvollen Ankunft des langerwarteten Bräutigams.
Nach einem kürzeren, ruhigen Mittelteil beginnt die abschließende Fuge, für die Reger ein fröhlich-tänzerisches Thema wählte, wohl, um die Freude im Himmel und auf der Erde über die Ankunft des Messias angemessen zu charakterisieren. Das Ganze steigert sich nun ausgesprochen wirkungsvoll immer mehr, die Choralmelodie taucht parallel zur Fuge in der Bass-Stimme wieder auf und vermischt sich dann zum krönenden Abschluss mit dieser, so dass schließlich alles zu einem strahlenden Abschluss geführt wird.

Nicht zuletzt wegen Stücken wie diesem weiß ich, warum ich so gerne Orgelmusik höre!

Montag, 26. November 2012

KLASSIKers Lieblingsstücke (V): Antonín Dvorák - Requiem

Heute nun zu einer Requiem-Vertonung, die mir persönlich ganz besonders am Herzen liegt – ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass ich, wenn ich denn unbedingt eine Wahl treffen müsste (was für ein Glück, dass man das in diesem Zusammenhang aber sowieso nicht muss!), mich sogar für dieses Requiem als meinen persönlichen Favoriten unter den musikalischen Totenmessen der Musikliteratur entscheiden würde:

Die Rede ist vom 1891 uraufgeführten Requiem b-moll op.89 von Antonín Dvorák (1841-1904) - so sehr ich auch die Requiem-Vertonungen beispielsweise von Mozart, Suppé und Verdi liebe (die kämen in meiner persönlichen Favoritenskala dann auf den Plätzen 2 bis 4), Dvoráks Version hat mich bislang noch am meisten gepackt und fasziniert, was sicher auch daran liegt, dass ich dieses Werk als Mitglied des 2. Tenors in meinem Chor intensiv einstudiert und mehrfach in Aufführungen mitgesungen habe (unter anderem in der Kölner Philharmonie, in der Bonner Beethovenhalle und im Altenberger Dom) – so etwas hinterlässt Spuren und persönliche Bindungen an ein solches Musikstück, die sich einfach nicht leugnen lassen. Und außerdem wollte ich mich jetzt auch einfach mal festlegen! :-)

Dvoráks Chormusik steht immer –und das sehr zu Unrecht!- im Schatten seiner Sinfonien und des übrigen Instrumentalwerks. Auch seine zahlreichen Opern fristen gerade hierzulande auch immer noch ein Nischendasein – wenigstens seine Märchenoper Rusalka (UA 1901) findet sich gelegentlich auf dem ein oder anderen Spielplan...

Im Rahmen des Dvorák-Jahres 2004 (anlässlich des 100. Todestages) hatte ich nun wie erwähnt das Glück, sowohl sein Stabat mater op 58 wie eben auch sein Requiem op. 89 einstudieren und im Konzert singen zu dürfen.

Und man lernt ein Werk eben am besten kennen (und lieben), wenn man die Gelegenheit hat, sich intensiv auch mit kleinen Details und Feinheiten beschäftigen zu können. Viele davon gehen beim bloßen (und eventuell gar nur einmaligen) Hören des Werkes einfach in ihrer schier unüberschaubaren Fülle unter – das ist schade, aber wohl nicht zu ändern.

Kurz zur Entstehung des Werkes:

Dvorák komponierte sein Requiem 1889/90 unmittelbar nach seiner 8. Sinfonie.
Es war ein Auftragswerk des Festivalkomitees des Birmingham-Chorfestivals, eines der schon damals größten und traditionsreichsten Chormusikfestivals der spätestens seit den Tagen Georg Friedrich Händels sehr chormusikbegeisterten Engländer.
Bei diesem Festival (aber auch in London und in anderen Städten Englands) hatte Dvorák bislang mit seinen Chorwerken (beginnend mit Aufführungen seines Stabat mater 1884/85) den größten Erfolg gehabt.
Er hatte für die Chorfestivals in Birmingham und Leeds daraufhin die Chorwerke Die Geisterbraut (1884) und Die heilige Ludmilla (1886) komponiert, die leider heute (zumindest wohl außerhalb Tschechiens) ähnlich seinen Opern ebenfalls einer fast totalen Vergessenheit anheimgefallen sind!

Diese beiden Chorwerke fanden zwar eine wohlwollende, aber nicht die enthusiastische Aufnahme wie zuvor das Stabat mater.
Dies kann an der böhmisch-folkloristischen Thematik oder der nicht ganz glücklichen Übertragung der tschechischen Originaltexte ins Englische gelegen haben, die mit dem Duktus der Musik wohl nicht so richtig harmonierte.

Dvorák wollte daher eigentlich lieber wieder zu lateinischen, allgemeingültigen Texten zurückkehren.
Man bot ihm vergeblich das Gedicht The dream of Gerontius zur Vertonung an (es wurde erst im Jahr 1900 durch Edward Elgar vertont); schließlich entschied sich Dvorak jedoch für den Vorschlag von Alfred Littleton vom Musikverlag Novello, ein Requiem zu vertonen.

Seine eher kammermusikalische Messe in D-Dur op. 86 aus dem Jahr 1887 erschien ihm –begreiflicherweise- kein geeignetes Werk für den Rahmen eines solchen Chorfestivals zu sein, das nach abendfüllenden, reich orchestrierten Stücke verlangte.

Dvorák kannte die Requiem-Vertonungen von Verdi (1874) und Brahms’ eigenwilliges Deutsches Requiem (UA 1869) und hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, sich ebenfalls mit der Textvorlage der lateinischen Missa pro defunctis kompositorisch auseinanderzusetzen.

Mit ersten Skizzen begann Dvorák dann im Jahre 1889; auch während der im Jahr 1890 stattfindenden Reisen und Gastkonzerte arbeitete er an seiner Komposition. So notierte er über der Skizze zum Lacrimosa beispielsweise geschrieben in Köln am Rhein auf der Reise nach London.

Im Sommer vollendete er das Werk in seinem Landhaus Vysoká. Es folgten noch die Reinschrift und einige Korrekturen in den folgenden Monaten.

Die Uraufführung dieses Requiem fand dann am 9. Oktober 1891 in Birmingham unter Dvoráks Leitung statt – es war ein überwältigender Erfolg, dem sich zahlreiche weitere äußerst erfolgreiche Aufführungen auf dem europäischen Festland (und den USA!) anschlossen, nicht zuletzt auch in Wien (1901), wo Dvoráks Werke zuvor eher weniger Erfolg hatten.

Dvorák teilt die 9 Teile des Requiem-Textes wie folgt in 13 einzelne Sätze auf:

-Introitus: Requiem & Kyrie eleison
-Graduale: Requiem aeternam
-Sequenz: Dies irae
--Tuba mirum
--Quid sum miser
--Recordare
--Confutatis
--Lacrimosa
-Offertorium: Domine Jesu Christe
--Hostias
-Sanctus
-Pie Jesu
-Agnus Dei (& Communio)

Wie man sieht, hat sich Dvorák gerade in der Sequenz, also dem textlich umfangreichsten Teil der Missa pro defunctis, für eine recht traditionelle Aufteilung in einzelne Abschnitte entschieden, lediglich das oft als separater Satz komponierte Rex tremendae fehlt – es ist bei Dvorák Teil des Quid sum miser. Dvorák hat (anders als beispielsweise Suppé oder Verdi) darauf verzichtet, das eigentlich sowieso nicht nur Missa pro defunctis gehörende Libera me als letzten Satz seines Requiem zu vertonen.
Anders als sonst häufig gibt es bei Dvorák auch keinen eigenen Satz für das Benedictus - es ist hier ein Teil des Sanctus, so wie es liturgisch eigentlich auch korrekt ist, bevor im 18. Jahrhundert gerade dieser Teil in Messkompositionen gern als besonders ausdrucksvoller und inniger Satz fast durchweg vom vorangehenden Sanctus abgetrennt wurde (siehe z. B. Messvertonungen von Haydn, Mozart und Beethoven).
Dafür gibt es bei Dvorák quasi als Ersatz als vorletzten Satz seines Requiem ein Pie Jesu, (ein Satz mit Worten aus dem Lacrimosa) – ein ab Ende des 19. Jahrhunderts (und auch im 20. Jahrhundert) gern vertonter Teil des Requiem-Textes, der nicht nur hier bei Dvoràk gern als ruhig-melodiöser, besinnlich-andachtsvoller Bittgesang ausgestaltet wird, man denke beispielsweise nur an die wunderschönen Pie Jesu-Vertonungen in den Totenmessen von Gabriel Fauré, Andrew Lloyd Webber oder John Rutter!

Am meisten dürfte in Dvoráks Satzaufteilung jedoch die Tatsache überraschen, dass er sich als einer der wenigen Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts das als zweiter Satz erklingende Graduale vorgenommen hat. Die beiden Teile der Liturgie der lateinischen Totenmesse, Graduale und Tractus, sind während der Renaissance noch regelmäßig, ab der Barockzeit dann immer seltener und danach eigentlich gar nicht mehr (warum auch immer) vertont worden. Während Dvorák auch auf den Tractus verzichtet, so hat er doch immerhin das Graduale vertont und das ist schon eine Besonderheit bei diesem Requiem aus dem späten 19. Jahrhundert.

Dvorak wählte für seine Totenmesse die Tonart b-moll. Chopins Trauermarsch ("Marche funèbre") aus der Klaviersonate Nr. 2 in b-moll op. 35 dürfte das wohl bekannteste Stück "Trauermusik" sein, das auch in dieser Tonart steht.

Eine Aufführung von Dvoráks Requiems dauert ca. 95 Minuten – es handelt sich damit um das umfangreichste Chorwerk dieses Komponisten.

Da es für einen Konzertsaal –und nicht für die Kirche (für eine liturgische Totenmesse ist es schlicht zu umfangreich)- gedacht war, besitzt das Werk eine allgemeingültige, nicht unbedingt ausschließlich an die katholische Tradition gebundene Aussage – ähnlich vielleicht wie die vom Protestanten Bach komponierte (und dem katholischen Text folgende) h-moll-Messe. Der geübte und versierte Symphoniker Dvorák macht sich in der gekonnten motivischen Verzahnung der einzelnen Sätze bemerkbar.

Ich muss gestehen: Mir persönlich war dieses Requiem – mit den Proben hierzu begannen wir parallel zur Einstudierung des Stabat mater - zunächst etwas „suspekt“.
Es erschien mir viel „berechnender“ und konstruierter als Dvoráks leidenschaftlich-spontanes und ja auch aus tiefem persönlichen Leid heraus entstandenes Stabat mater.
Kein Wunder – es handelt sich ja beim Requiem auch um ein Auftragswerk, das diesmal ohne biographischen Hintergrund (also kein Todesfall im Familien- oder Freundeskreis) entstand und in dem eben der kompositorische Aspekt, die kunstvolle Verarbeitung symphonisch-thematischer Gedanken (insbesondere eines zentralen „Leitmotivs“) eine größere Rolle spielt – Dvorak wollte sich eben als Meister seines Faches von seiner besten Seite zeigen!

Dvorák hat für dieses Auftragswerk ganz selbstbewusst eine Art Summe seines damaligen Könnens gezogen und viele raffinierte "Zutaten" in die Komposition hineingepackt:

So hat er sein Requiem quasi unter das Motto eines Leitmotivs, einer Idée fixe gestellt.
Das sich in mannigfacher (auch rhythmischer) Variation durch das gesamte Stück ziehende Requiem-Motiv taucht nicht nur in den Orchester- sondern immer wieder auch in den Gesangsstimmen auf und gibt dem Ganzen einen „roten Faden“.

Die äußerst konsequente Verwendung dieses charakteristischen Motivs ist im Sinne einer für Dvorák nicht untypischen thematischen Vereinheitlichung ein Beleg für die symphonische Konzeption dieses Werkes – auch wenn man das Motiv schnell im Ohr hat, wird es nie langweilig, ihm im Verlauf des Requiem immer wieder zu begegnen, zu abwechslungsreich und oft überraschend sind die neuerlichen „Treffpunkte“. Dvorak hat das wirklich ganz meisterhaft gelöst.

Der Musikwissenschaftler Peter Gatty schreibt sehr treffend (und wie ich finde, auch sehr poetisch) hierzu:
Die motivische Keimzelle des ganzen Stücks wird – ähnlich wie bei Wagners Tristan – in den ersten 3 bis 4 Takten vorgestellt, eine thematische Figur, die sich in chromatischen Schritten schmerzlich um den Dominantton f windet und gleichsam eine Frage stellt, die uralte, weltbewegende Frage nach den letzten Dingen des Lebens und Sterbens.
Dvorak soll dieses auch für mich wie eine Frage wirkende Requiem-Motiv aus einem Thema von Johann Sebastian Bach, dem engschrittigen Fugenthema des 2. Kyrie aus der h-moll-Messe, abgeleitet haben (das müsste ich an der entsprechenden Stelle aber nochmal nachhören).

Dies wäre meines Erachtens ein Beleg für die überkonfessionelle Aussage der Komposition, die einen allgemeingültigen Standpunkt zum alle Menschen bewegenden Themenkreis Tod, Verlust, Trauer, Trost und ewiges Leben einnehmen will und sich nicht an irgendwelche konfessionellen Schranken gebunden fühlt (immerhin wurde das lateinische Requiem ja auch für das anglikanische England komponiert).

Ich hätte wirklich nie gedacht, dass man einem Werk derart anmerken kann, ob es eher absichtsvoll "geplant" und "konstruiert" wurde (das ist jetzt gar nicht negativ gemeint), oder ob es mehr aus persönlichem Bedürfnis heraus, "aus dem Gefühl" geschrieben wurde - gerade beim direkten Vergleich der beiden genannten Dvorák-Chorwerke ist das wunderbar zu vergleichen - und zwar nicht nur vom kompositionstechnischen Hintergrund, sondern eben auch vom "gefühlten" Sing- und Hörerlebnis her - vielen MitsängerInnen im Chor ging es nämlich ähnlich wie mir: Das Stabat mater noch im Ohr habend, wollte sich uns das Requiem zunächst so gar nicht richtig in seiner vollen Schönheit erschließen…

Aber es kam - etwas zögernder vielleicht, aber unaufhaltsam. Denn je mehr wir im Chor an dem Werk herumprobiert haben, desto lieber habe ich es gesungen: Einfach toll, welch große Breite musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten und Stimmungen die einzelnen Sätze umschließen. Und gerade für den Chor ist das Werk sehr dankbar: Außer in der Nr. 6 (Recordare) ist der Chor an allen übrigen 12 Sätzen maßgeblich beteiligt!

Als wir dann endlich aufführungsreif waren, mochte ich zwischenzeitlich das Requiem schon lieber als Dvoráks Stabat mater – aber das geht mir mit (fast) allen Chorwerken so, die wir gerade probieren...

Beide Werke sind große Klasse – überquellend vor wunderbaren Melodien und Stimmungen und jedem Chormusik- und natürlich Dvorák-Freund daher nur wärmstens zu empfehlen! Am besten natürlich live!!!

Nun aber noch ein paar persönliche An- und Bemerkungen zu den 13 Sätzen dieser wunderbaren Totenmesse:

Nr. 1 Requiem aeternam
Pianissimo in den Streichern erklingt in den ersten Takten also das schon erwähnte Requiem-Motiv (zu Beginn sind es die Töne f-ges-e-f-f), bevor der Chor wenig später requiemüblich ebenfalls düster und im pianissimo einsetzt.
Wenn die „Requiem“-Rufe der einzelnen Stimmen bewegter werden, ist dann auch der erste dynamische Höhepunkt erreicht:
Im fortissimo und unisono intoniert der Chor „Te decet hymnus“ in dreimaliger Steigerung, bevor mit dem Tenor der erste Solist zum Einsatz kommt, die anderen Solisten stellen sich ebenfalls kurz darauf erstmalig vor.
Gegen Ende des ersten Satzes erfolgt dann die erste Überraschung: Eher beiläufig und leise singen die Chorbässe zur Melodie des Requiem-Motivs das „Kyrie eleison“, dem die anderen Stimmen mit dem „Christe eleison“ und dem abschließenden zweiten „Kyrie eleison“ folgen.
Das Ganze erfolgt in aller Knappheit und ist damit bedeutend kürzer als beispielsweise das Kyrie im Mozart-Requiem.
Das überrascht schon, ist doch Dvoráks Requiem vom Gesamtumfang her fast doppelt so lang wie Mozarts Totenmesse – beim Kyrie fasst Dvorák sich aber auffallend kurz.
Es klingt ganz anders als Mozarts gewaltiges, fast schon trotzig wirkendes Kyrie-Fugenthema:
Zerknirscht, ganz leise und demütig bittet der Chor – zuletzt gar a cappella - um Erbarmen – eine sehr sinnfällige klangliche Ausdeutung des Textes, die man in dieser Form aber nicht so häufig antrifft.

Nr. 2 Graduale
Während bei den meisten Requiem-Vertonungen das Kyrie der 2. Satz ist, hat Dvorák ungewöhnlicherweise hier ein Graduale eingefügt – weder bei Verdi noch bei Mozart, Berlioz oder Suppé gibt es diesen Teil.
Es ist hauptsächlich ein lyrisch-sehnsüchtiges Sopransolo, teilweise vom Damenchor unterbrochen. Ganz am Ende des Satzes bekommt der Herrenchor den ersten seiner in diesem Werk noch zahlreich auftretenden a-cappella-Einsätze:
Pianissimo und sehr geheimnisvoll intonieren die tiefen Stimmen nochmals die Worte „Requiem aeternam“ eine Gänsehautstelle!

Nr. 3 Dies irae
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde es nicht unüblich, die drastische, auf die Schrecken des Jüngsten Gerichts hindeutende Sequenz Dies irae auszusparen (z. B. in den Requien von Fauré, Duruflé, u. a.), um den Totenmessen einen einheitlichen, eher meditativ-tröstlichen Charakter zu verleihen.
Dvorák hingegen verzichtet nicht auf diese Textteile, die ja viele Komponisten, allen voran Berlioz und Verdi, zu spektakulären Apokalypse-Vertonungen inspiriert haben.
Nun, Dvorák wählt einen „Mittelweg“ – und meidet die Drastik eines Berlioz oder Verdis (die auch kaum zu übertreffen wären) – sein Requiem trägt auch in Teilen wie diesen eher lyrische Züge:
Der Chor intoniert das „Dies irae“ –nach einem einleitenden tief und bedrohlich klingenden Wirbeln in den Bässen- rhythmisch ganz streng unisono.
Es klingt – wenn der Dirigent den 6er-Rhythmus denn strikt einhält – wie ein bizarrer Schreittanz oder –marsch (die Tempobezeichnung lautet denn auch Allegro impetuoso [Alla marcia]), eben wie eine Art "Totentanz":
Unerbittlich, drohend und immer wieder durchsetzt von schreckensrufartigen Ausbrüchen einzelner Stimmen. Ganz anders in der Wirkung als beispielsweise bei Verdi aber nicht minder beeindruckend!

Nr. 4 Tuba mirum
Erwartungsgemäß eröffnet Dvorák den Satz mit einem Blasinstrument, das zum Jüngsten Gericht ruft – allerdings ist es hier eine Trompete (während man von der berühmten Mozart-Parallelstelle eher die Posaune erwartet hätte).
Doch das Ganze klingt nicht heroisch und majestätisch – es ist das fragende Requiem-Motiv, das hier erneut an prominenter Stelle zum Einsatz kommt.
Solo-Alt, Bass und Tenor tragen den weiteren Text vor, immer wieder unterbrochen vom düster und verzweifelt klingenden Chor.
Zur abschließenden Steigerung des ganzen Abschnitts wiederholt Dvorák dann nochmals den Dies irae-Totenmarsch aus der Nr. 3, der allerdings an dieser Stelle nochmals im Ausdruck und in der Dynamik gesteigert werden sollte – die Orchesterbegleitung ist hier ebenfalls wesentlich dichter und bewegter als beim ersten Dies irae“.
In dieser Wiederholung "dreht" Dvorák dann nochmal am Hebel "Dramatik" und verschärft die Wirkung und Drastik im Gegensatz zum ersten Dies irae - er schreibt nun u. a. auch den zusätzlichen Einsatz von Orgel und (Röhren-)Glocken vor (allerdings wohl ad libitum, da nicht in allen Aufnahmen welche zu hören sind).
Kurz vor Ende dieses Satzes herrscht dann ein Höllenlärm:
Der Chor deklamiert fortissimo erneut die Worte "Tuba mirum spargens sonum", dazu das wild bewegte volle Orchester (plus Orgel) und eben die über alles hinwegtönenden, kraftvoll geläuteten Glocken "des Jüngsten Gerichts" - eine Stelle, die mir jedesmal Gänsehaut bereitet hat!!
Und –was für ein Gegensatz- nach zwei abschließenden Unisono-Takten des vollen Orchesters kehrt von einer Sekunde auf die andere plötzlich Totenstille ein und der Herrenchor singt jetzt abrupt im pianissimo eine weitere a-cappella-Stelle, worauf der Satz mit einem kurzen leisen Nachspiel fast im Nichts endet – was für ein Wahnsinns-Effekt und was für ein Gegensatz zum kurz vorher so abrupt beendeten Forte-Fortissimo!! Schon wieder Gänsehaut...

Nr. 5 Quid sum miser
Ungewöhnlicherweise beginnt Dvorák den nächsten Satz an dieser Textstelle – üblicherweise folgt auf das Tuba mirum das Rex tremendae.
Dvorák geht aber –wie schon erwähnt- eher lyrisch vor und beginnt den Satz ganz zart und ratlos im Tonfall mit den Chorsopranen.
Relativ unvermittelt in diese ratlose Atmosphäre (wiederum eine sehr schöne Textausdeutung!) bricht das in diesen Satz integrierte Rex tremendae herein – ganz traditionell in majestätisch-schreckensvoller Anrufungsform („Rex!“) gehalten. Das abschließende „Salva me“ klingt dagegen wieder ruhig und bittend.

Nr. 6 Recordare
Der einzige Satz des ganzen Werks, in dem der Chor mal Pause hat!
Das Solistenquartett hat hier eine dankbare und äußerst klangschöne Aufgabe zu bewältigen – in diesem Satz klingt Dvoráks Musik ganz typisch „böhmisch“, sowohl vom oft synkopierten Rhythmus als auch von der wunderbar "holzbläserlastigen" Instrumentierung her.

Nr. 7 Confutatis
Das Confutatis klingt wie der Rex tremendae-Teil traditioneller – vor allem der Gegensatz zwischen den bedrohlichen „Confutatis“-Rufen und dem lyrisch klingenden „Voca me!“ ist in ähnlicher Form (z. B. auch von Mozart) gern in dieser Art vertont worden. Der Rhythmus zu Beginn des Satzes ist ein unerbittlich treibendes, sehr ins Ohr gehendes Motiv.

Nr. 8 Lacrimosa
Das auf der Durchreise in Köln skizzierte Lacrimosa beginnt mit dissonanten und schmerzlichen „Lacrimosa“-Rufen – sehr wirkungsvoll ist der im pianissimo vorgetragene kurze „Pie Jesu Domine“-Teil – ein kurzes Innehalten vor den abschließenden, sehr eindrücklichen „Amen“-Rufen, mit denen der 1. Teil endet.

Nr. 9 Offertorium
Mit Beginn des 2. Teils des Requiem ändert sich die Atmosphäre komplett: Nach all dem Schrecken und der Angst beginnt nun der tröstliche Teil des Werks – die Holzbläser intonieren ein friedvoll klingendes Andante, dem kurz darauf erstmalig auch die Harfe beigefügt wird – ein wirkungsvoller 1. Einsatz an dieser Stelle für dieses Instrument!
Das ganze Domine Jesu Christe ist sehr würdevoll vom Ausdruck, voller Zuversicht, stellenweise geradezu hymnisch.
Sehr charakteristisch das mehrfach wiederholte, rhythmisch markante „Libera animas“-Motiv (später auch als „Libera eas“).
Zum Abschluss des Satzes zeigt Dvorák, dass er auch ein Meister der Fugentechnik ist (um 1890 ist die Fuge ja nun wirklich kein besonders übliches Stilmittel mehr!):
Traditionell ist der Textteil „Quam olim Abrahae“ auch bei ihm als ausgedehnte Fuge gestaltet (die Fuge benötigt immerhin vom Umfang her ein Drittel des Satzes!).
Im frischen, fröhlich-zuversichtlichen Allegro-Tempo intoniert zuerst der Chortenor das Fugenthema – hierbei handelt es sich um ein altes böhmisches Kirchenlied aus dem 15. Jahrhundert, dass um 1890 auch noch in den Gottesdiensten in Dvoráks Heimat gesungen wurde und dessen Melodie daher zumindest seinen Landsleuten als „typisch böhmisch“ durchaus bekannt gewesen sein müsste.
Die Fuge ist eine echte Herausforderung für den Chor, wir haben ziemlich zeitintensiv daran herumprobieren müssen.
Aber das Ergebnis lohnt: Wenn es dann (endlich) richtig „läuft“ ist diese Fuge ein echter Ohrwurm – sehr mitreißend und unter raffinierter Ausnutzung sämtlicher satztechnischer Kunstgriffe mit einer grandiosen Steigerung zum Schluss hin ist sie ein echter Höhepunkt!

Nr. 10 Hostias
Die Stimmung wechselt erneut und wird grüblerischer, nachdenklicher, die charakteristischen punktierten Rhythmen einschließlich der „Libera eas“-Rufe aus dem vorangegangenen Satz tauchen aber auch hier wieder auf.
Das Besondere an diesem Satz sind jedoch die beiden längeren a-cappella-Stellen für den vierfach geteilten Herrenchor (“Fac eas, Domine“):
Sehr eindrücklich, harmonisch raffiniert – und ziemlich knifflig in der Ausführung. Lohnt sich aber auf jeden Fall, denn gerade diese beiden Passagen klingen sehr innig und flehentlich. Und a-cappella-Stellen lassen den Zuhörer unwillkürlich immer besonders aufhorchen!
Und weil es so schön war (und die Arbeit bei der Einstudierung sich ja auch lohnen soll) – wird im Anschluss an diesen Teil die komplette „Abraham-Fuge“ aus der Nr. 9 wiederholt!

Nr. 11 Sanctus
Anders als der üblicherweise zu erwartende Sanctus-Jubel, beginnen die Solisten zunächst eher mit etwas gedämpften, weihevollen Lobrufen, bevor der Chor etwas später dann doch unisono im fortissimo mit „klassischen“, blockhaft-hymnischen Sanctus-Rufen einsetzt.
Nach dem kurzen Hosanna-Teil überrascht Dvorák mit einem bemerkenswert kurz gefassten Benedictus.
Überraschend deshalb, weil – wie erwähnt - gerade dieser Textteil für gewöhnlich von vielen Komponisten sehr ausgreifend und sehr anrührend vertont wurde (z. B. in Beethovens Missa solemnis) und man im Rahmen der großen Anlage dieses Requiems eigentlich ähnliches erwartet hätte.
Aber wie schon im Kyrie eleison beschränkt sich Dvorák hier auf eine vergleichsweise knappe Vertonung, die gleichwohl sehr schwärmerisch und zuversichtlich (und darüber hinaus harmonisch äußerst komplex) daherkommt. Ein knappes weiteres Hosanna beendet kräftig im fortissimo den Satz.

Nr. 12 Pie Jesu
Dieser Textteil (aus dem Lacrimosa) findet sich weder in den Requien von Mozart, Berlioz, Suppé oder Verdi an dieser Stelle zwischen Sanctus und Agnus Dei.
Dvorák benutzt ihn, um kurz vor Schluss noch mal eine ganz verinnerlichte „Ruhepause“ einzulegen:
Nach kurzem Vorspiel (Poco adagio) folgt ein weiterer a-cappella-Satz für den vierfach geteilten Herrenchor und die Altistinnen, die wie ein schlichtes Volkslied die Worte „Pie Jesu, Domine“ intonieren.
Zeitweise werden zwar die Stimmen von der Orgel dezent (und mit tiefen, liegenden Tönen) begleitet, dennoch handelt es sich hierbei um die längste a-cappella-Passage des ganzen Werkes, die wiederum ziemlich anspruchsvolle harmonische Entwicklungen aufweist (auch das Requiem-Motiv findet erneut mehrfach Verwendung).
Dass wir auch diesen Satz ziemlich intensiv "beackern" mussten, bevor die Intonation hingehauen hat (Anschluss-Stellen!!), brauche ich wohl nicht extra zu erwähnen... Im Mittelteil des Satzes dürfen dann die Sopran-, Alt- und Tenorsolisten ebenfalls ihre a-cappella-Fähigkeit unter Beweis stellen, bevor erneut der Chor (wiederum ohne den Chorsopran) den Satz a-cappella beschließt.

Nr. 13 Agnus Dei
Der erste Teil des Agnus Dei mit seinen in unterschiedlichen Stimmkombinationen wiedergegebenen “Agnus Die“-Rufen erinnert mich vom Ausdruck her sehr an den Beginn des Agnus Dei in Beethovens Missa solemnis, wo der gleiche, über längere Passagen sich aufbauende, andächtig-bittende, aber zugleich auch reumütig-flehende Grundton vorherrscht.
Dann intoniert der Solo-Sopran die Stelle „Lux aeterna luceat eis“ und plötzlich ändert sich die Stimmung, es ist, als ob das ewige Licht bereits erstrahlen würde:
In wenigen Takten, in denen Chor und Solisten unisono geführt werden, erreicht Dvorák eine gewaltige, monumentale Steigerung, die bis zum forte-fortissimo reicht und sich dann ebenso abrupt in zügigerem Tempo in die „Quia pius es“-Rufe entlädt.
Doch auch diese Episode währt nicht lange und sehr schnell drosselt Dvorák das Tempo wieder und kehrt zur Stimmung des Anfangs zurück.
Der Tonfall wird immer verinnerlichter, der Chor erhält eine letzte kleine a-cappella-Stelle, die von einer dumpfen Pauke begleitet wird.
Und wenn dann –fast flüsternd- zum letzten Mal die Worte „Et lux perpetua luceat eis“ mehr rezitiert als gesungen werden, schwingt sich das Orchester im kurzen Nachspiel noch einmal zum forte auf und intoniert abschließend das Requiem-Motiv, das ja auch ganz am Beginn des Werkes stand - das Motiv verebbt und im pianissimo endet das Requiem in b-moll.
Was für ein Kreis schließt sich da – es ist, als würde ganz am Ende ein gewaltiges Buch zugeschlagen:
Ein Buch, in dem es um dieses Motiv ging, das in unzähligen Veränderungen und Situationen den Hörer ständig begleitet hat und das am Ende dann einfach und friedlich ausschwingt – noch so eine Gänsehautstelle!
Von vorne bis hinten planvoll durchdacht und bis zum Rand gefüllt mit herrlichen Melodien und abwechslungsreichen Klangkombinationen - einfach fantastisch! Was will man mehr...?

Das Ganze überzeugt mich bei Weitem mehr als Berlioz ebenfalls monumentales Requiem, bei dem er sich meiner Meinung nach aber mit den großen Klangorgien bei der Umsetzung des Jüngsten Gerichts im Tuba mirum etwas verzettelt hat, denn ein Requiem besteht nicht nur aus der Sequenz und es gereicht einer Vertonung nicht unbedingt zum Vorteil, wenn alles (ausführende Kräfte wie Publikumsinteresse) nur auf diesen Teil ausgerichtet ist! Durch den Verzicht auf allzu spektakuläre Effekte im Dies irae und den folgenden Sätzen hat Dvorák kluge Selbstbeschränkung bewiesen und dem Requiem als Ganzem damit eine wesentlich geschlossenere Gesamtstruktur und –wirkung verliehen.

Ich habe einige Aufnahmen dieser großen Missa pro defunctis, die meisten davon haben schöne Momente, offenbaren leider aber auch einige Schwächen:

Die älteste Aufnahme, die ich vom Dvorák-Requiem besitze, entstand immerhin schon Anfang 1959 (!) in Prag: Es singt der Tschechische Sängerchor, begleitet von der Tschechischen Philharmonie unter der Leitung von Karel Ancerl. Bei dieser Aufnahme merkt man, dass sie noch aus den Kindertagen der Stereophonie stammt – gerade an den lauteren Stellen, wo Chor und Orchester richtig „aufdrehen“, stößt die damalige Aufzeichnungstechnik für mein Empfinden hörbar an ihre Grenzen und das Ganze wirkt etwas flach und nicht mehr so differenziert. Dafür hat die Aufnahme gerade an den ruhigeren Stellen aber auch ihre schönen und sehr gelungenen Momente.

Im Jahr 1968 entstand in London eine Einspielung mit den Ambrosian Singers und dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von István Kertész. Auch hier überzeugt mich das Klangbild an den turbulenteren Stellen nicht immer (und auch sonst klingt das Ganze irritierendweise mitunter, als ob sämtliche Ausführende lediglich in einem kleinen Raum beieianderstehen), auch wirkt der Chorklang ab und an nicht ganz homogen und streckenweise auch ein bisschen "hemdsärmelig" und nicht besonders elegant aufeinander abgestimmt – dafür hört man hier im Tuba mirum zur Abwechslung mal sehr schön die Röhrenglocken läuten – ein toller Effekt, den es leider nicht in jeder Einspielung zu erleben gibt. Die Solisten dieser Aufnahme sind gut, vielleicht teilweise etwas zu opernhaft im Ausdruck, was nicht ganz so optimal zu diesem Requiem passt.

1981 entstand in Paris die Aufnahme mit dem Nouvel Orchestre Philharmonique et Choeurs de Radio France unter der Leitung von Armin Jordan. Eine solide Aufnahme, die man gut anhören kann, bei der mir aber entschieden die Leidenschaft und Dramatik fehlt - alles wirkt hier brav und ausgesprochen korrekt musiziert, aber eben auch nicht mehr. Schade eigentlich!

Mein Favorit ist und bleibt allerdings die 1984 wiederum in Prag entstandene Aufnahme mit dem Tschechischen Philharmonischen Chor und Orchester unter der Leitung von Wolfgang Sawallisch: Hier stimmt für meinen Geschmack eigentlich (fast) alles – man merkt Chor und Orchester die Leidenschaft und Hingabe für dieses Meisterwerk ihres großen Landsmannes an, die Solisten überzeugen mich auch und auch das Klangbild dieser Aufnahme lässt eigentlich keine Wünsche offen. Einziger Wermutstropfen an dieser Einspielung ist lediglich das teilweise arg langsame Tempo, was mich vor allem in den dramatischen Sätzen der Sequenz doch ziemlich enttäuscht: Ein guter Teil der Wirkung geht verloren, wenn man derart durch Sätze wie das Dies irae oder das Confutatis schleicht, wie es Sawallisch hier tut! Dass er nicht grundsätzlich langsamer unterwegs ist als andere Kollegen, zeigt sich z. B. in der Quam olim Abrahae-Fuge, wo er ein flottes Tempo anschlägt, das sich nicht von dem der anderen hier vorgestellten Einspielungen unterscheidet.

Dienstag, 20. November 2012

Requiem-Vertonungen: Hector Berlioz

Man liest es immer wieder: Zu den drei großen (und beliebtesten) Requiem-Vertonungen gehört nach allgemeiner Auffassung neben Mozarts Requiem (1791) und dem von Giuseppe Verdi (1874) auch die 1837 entstandene Grande messe des morts (op. 5) von Hector Berlioz (1803-69).

Ich muss gestehen: So ganz nachvollziehen kann ich diese Einschätzung nicht – irgendwie werde ich mit diesem Requiem (im Gegensatz zu den Vertonungen von Mozart, Verdi oder auch Suppé) einfach nicht warm! Die Musik und die dahinterstehende Konzeption erschließt sich mir einfach nicht in dem Maße, wie es bei vielen anderen größeren und kleineren Requiem-Vertonungen der Fall ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich bislang leider keine Gelegenheit hatte, mir das Berlioz-Requiem im Rahmen gründlicher Probenarbeit in Vorbereitung auf ein Konzert zu erarbeiten – eine derart intensive Beschäftigung mit einer Komposition lässt einen später viele Dinge mit ganz anderen Augen sehen bzw. mit viel offeneren Ohren hören, diese Erfahrung habe ich bereits mehr als einmal machen können!

Interessehalber habe ich mal in den Aufführungsstatistiken des VDKC (Verband deutscher Konzertchöre – jawohl, auch so etwas gibt es!) nachgeschlagen: In der Tabelle der 50 meistaufgeführten Chorwerke der in diesem Verband organisierten Chöre (im Zeitraum 1995-2004) steht das Mozart-Requiem auf Platz 6, das Verdi-Requiem auf Platz 11, während Berlioz‘ Totenmesse hier gar nicht auftaucht.
Während das Mozart-Requiem im Zeitraum von 1980 bis 2004 in diesen Statistiken mit 374 Aufführungen und das Verdi-Requiem mit immerhin 268 Konzerten vermerkt ist, wurde das Berlioz-Requiem im selben Zeitraum gerade einmal 26 mal aufgeführt.
So gesehen verwundert es dann schon, dass man das Berlioz-Requiem den beiden anderen, mit weitem Abstand häufiger aufgeführten und mit weitaus populäreren Melodien bestückten Totenmessen von Mozart und Verdi gleichstellt – woran könnte das liegen?

Ein Grund für die doch recht selten zu erlebende Aufführung dieser zweifellos großdimensionierten Missa pro defunctis (die Aufführungsdauer beträgt ca. 80 Minuten) dürfte sicherlich in dem gewaltigen, für Berlioz allerdings nicht ganz untypischen personellen und orchestralen Aufwand liegen, der hierfür gemäß den Vorstellungen des Komponisten erforderlich ist:
Das Orchester ist mit 4 Flöten, 2 Oboen, 2 Englischhörnern, 4 Klarinetten, 8 Fagotten, 12 Hörnern, 8 Paar Pauken (bedient von 10 Paukern!), 2 großen Trommeln, 4 Tamtams (Gongs), 10 Paar Becken, 50 Violinen, 20 Bratschen, 20 Celli und 18 Kontrabässen zu besetzen.
Hinzu kommen vier getrennt von diesem Klangkörper zu positionierende Blechbläserensembles (Nr. 1 mit 4 Cornets à pistons [kleines Ventilhorn], 4 Posaunen, 2 Tubas; Nr. 2 und 3 mit je 4 Trompeten und 4 Posaunen; Nr. 4 mit 4 Trompeten, 4 Posaunen und 4 Ophikleiden [Blechblasinstrument in Basslage]).
Dazu kommt neben einem Tenorsolisten dann noch der Chor, nach traditioneller französischer Manier nur mit Sopran, Tenor und Bass, also ohne Altstimmen besetzt (warum auch immer), veranschlagt werden hier 80 Soprane, 60 Tenöre und 70 Bässe.
Und wem das alles noch nicht genug ist, dem gibt der Komponist dann noch folgenden besetzungstechnischen Rat mit auf den Weg:
Diese Zahlenangaben sind nur relativ; wenn es die Räumlichkeiten gestatten, kann man den Chor verdoppeln oder verdreifachen und im gleichen Verhältnis die Orchesterbesetzung vergrößern. Sofern eine außergewöhnlich große Anzahl Stimmen – z. B. 700 bis 800 – zur Verfügung steht, darf der Chor als Ganzes nur im Dies irae, Tuba mirum und Lacrimosa eingesetzt werden. Die übrigen Teile sollten nur von 400 Stimmen ausgeführt werden.

(Meine perönliche Anmerkung zu dieser letzten Vorgabe des Komponisten: Es muss ein wenig komisch wirken, wenn gut die Hälfte des Chores quasi "däumchendrehend" während der übrigen Sätze nichtstuend auf der Bühne rumstehen muss...)

Man fragt sich natürlich, wie es allein zur Idee solch gigantischer Aufführungen kommen konnte – ganz abgesehen davon, wie so etwas wohl klingen mag, wenn mehr als 1.000 Ausführende daran beteiligt sind und das Ganze zwangsläufig schwer kontrollierbar und dann wohl auch etwas schwerfällig und damit unpräzise werden dürfte.

Bereits in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten die Engländer nach dem Tod von Georg Friedrich Händel (1759) im Rahmen der Pflege des Erbes seiner englischsprachigen Oratorien damit begonnen, die Aufführungen mit immer größerem personellen Aufwand zu betreiben. Und mit dem nicht nur personell sondern auch zeitlich jeden bisher bekannten Rahmen einer „herkömmlichen“ Sinfonie sprengenden Umfang seiner 1824 uraufgeführten 9. Sinfonie (mit der „Ode an die Freude“ im Schlusssatz) hatte auch Beethoven einen weiteren Markstein gesetzt – offenbar eine Herausforderung an ein „Höher-Schneller-Weiter“, der sich im weiteren 19. Jahrhundert bis hinein ins 20. Jahrhundert nicht wenige Komponisten stellten (man denke an Richard Strauss' sinfonische Dichtungen bis hin zu Gustav Mahlers 1910 uraufgeführter Sinfonie der Tausend oder den 1913 uraufgeführten Gurre-Liedern von Arnold Schönberg) und die damit durchaus auch dem Zeitgeist dieser Epoche mit ihrem uneingeschränkten Fortschrittsglauben entsprachen.

Vielleicht ist auch das schlichte Fehlen von Möglichkeiten der (elektronischen) Klangverstärkung im 19. Jahrhundert ein Faktor für die häufig immer größer werdende Anzahl der vorgesehenen Ausführenden – wer entsprechend Eindruck schindenden „Sound“ wollte, musste eben gleich mehrere Hundert Musiker vorschreiben, andere Möglichkeiten gab es eben noch nicht!

Berlioz kann man jedenfalls in diesem Punkt als einen der Vorreiter dieser immer größere Besetzungen beanspruchenden Aufführungspraxis bezeichnen.
Die Grande messe des morts (so der Originaltitel) entstand 1837 eigentlich als offizielles Auftragswerk anlässlich des Gedenkens an die Opfer der Juli-Revolution von 1830, die für den 28. Juli geplante Aufführung kam dann jedoch aus politischen Gründen nicht zustande, so dass die Totenmesse dann erst am 5. Dezember 1837 zur Ehrung des im Algerienkrieg gefallenen Generals Damrémont im Pariser Invalidendom uraufgeführt wurde – immerhin also in einem monumentalen Gebäude, für das man sich die oben erwähnte Groß-Besetzung von Chor und Orchester dann doch ganz gut vorstellen kann!

Das Requiem muss jedenfalls einen großen Eindruck bei den Zuhörern hinterlassen haben und gehört somit zu den nicht gerade zahlreichen Erfolgen des leider häufig etwas glücklosen Visionärs Hector Berlioz, der – so sehe ich das jedenfalls - seinem Publikum einfach oft um mehrere Jahre (oder gar Jahrzehnte) voraus war!

Um ein Haar hätte es während der Uraufführung sogar eine schwerwiegende Panne gegeben, als der Dirigent Francois-Antoine Habeneck kurz vor der entscheidenden Stelle zu Beginn des Tuba mirum (wo es einen Tempowechsel gibt und die 4 im Raum verteilten Zusatzorchester erstmals zum Einsatz kommen) seinen Einsatz verpasste, weil er damit beschäftigt war, eine Prise Schnupftabak zu sich zu nehmen (!), wie Berlioz berichtet. Glücklicherweise saß er direkt neben dem Dirigenten und sprang auf, als er bemerkte, was da vor sich ging und konnte das neue Tempo durch entsprechende Gestik gerade noch rechtzeitig angeben, so dass letztlich noch alles gut ging. Ob es sich bei dieser aus heutiger Sicht geradezu unglaublich erscheinenden Nachlässigkeit um reine Schusseligkeit oder Boshaftigkeit eines Berlioz-Gegners handelte (von denen es wohl einige gab, da dieser nun wirklich kein unumstrittener Künstler war!), lässt sich nicht mehr eindeutig klären. Bezeichnend ist jedenfalls, dass sich Berlioz weniger darüber aufzuregen schien, dass Habeneck überhaupt während des Dirigierens Schnupftabak zu sich nahm, sondern, dass er es ausgerechnet an dieser Stelle tat!

Der oben erwähnte, nur mit Sopran, Tenor und Bass zu besetzende Chor soll – das habe ich an mehreren Stellen gefunden – französischer Chortradition entsprechen (was das allerdings genau bedeuten soll, ließ sich dann aber leider nicht genau ermitteln…).
Gab es in Frankreich seinerzeit keine Altistinnen oder was soll dieses merkwürdige, ja geradezu diskriminierende Übergehen unserer tiefsingenden Sangesschwestern?
Dass gerade im 19. Jahrhundert die singenden Herren in vielen Chören in der Mehrzahl waren, lässt sich allein schon an zahlreichen Chorwerken ablesen, in denen die Männerstimmen deutlich mehr gefordert werden als die der Damen – das sind natürlich besetzungstechnische Zustände, die aus heutiger Sicht geradezu paradiesisch anmuten und moderne Chorleiter (und Chorleiterinnen natürlich) jedoch immer wieder erneut vor schwere Probleme stellen, da in heutigen Chören leider die Herrenstimmen chronisch unterbesetzt sind und man in der Regel einen deutlichen Frauenstimmenüberhang hat!
Und dann wird man mit einem Werk wie dem Berlioz-Requiem konfrontiert, in dem man strenggenommen sogar noch auf die Altistinnen verzichten soll! Das stellt so manchen Chor wohl vor schier unlösbare Probleme – gut, dass sich für ein großdimensioniertes Konzertprojekt wie dieses in der Regel eh zwei bis drei mittlere bis große Chöre zusammentun sollten, um es überhaupt realisieren zu können (wobei dadurch im so entstehenden Gesamtverhältnis die Herrenstimmen in der Regel weiterhin in der Unterzahl bleiben dürften…)
In der Regel löst man das Problem mit den „vernachlässigten“ Altistinnen dann dahingehend, dass diese den auch im Berlioz-Requiem häufig vorhandenen Part des 2. Soprans übernehmen, dessen Töne in der Regel etwas tiefer liegen als die des 1. Soprans (aber wer übernimmt den Part der mindestens genauso häufig geteilten Tenöre und Bässe, diese raren Exemplare wachsen ja leider nicht auf den Bäumen…?!)
Bezeichnenderweise schafft es selbst Berlioz nicht, diese merkwürdige „Tradition“ konsequent durchzuhalten – im Sanctus ist dann plötzlich und überraschend eine eigene Altstimme in der Partitur vorgesehen (die in der oben erwähnten Besetzungsliste ja gar nicht auftaucht, was ein eindeutiges Zeichen dafür ist, dass sich hinter den 2. Sopranen wohl auch schon zu Berlioz‘ Zeiten bereits die Altistinnen „versteckt“ hielten…). Jedenfalls fragt man sich schon, warum der Komponist dann nicht gleich so konsequent war und von vornherein eine eigene Altstimme notiert hat? (Künstler!!!)

Seine Grande messe des morts unterteilt Berlioz in 10 Sätze:

-Introitus: Requiem und Kyrie eleison
-Sequenz: Dies irae und Tuba mirum
--Quid sum miser
--Rex tremendae
--Quaerens me
--Lacrimosa
-Offertorium: Domine Jesu Christe
--Hostias
-Sanctus
-Agnus Dei (und Communio)

Allein 5 Sätze veranschlagt Berlioz für seine Vertonung der Sequenz – hier liegt also eindeutig der Schwerpunkt dieser Requiem-Komposition.

Die oben aufgelistete Orchesterbesetzung und hier vor allem die 4 zusätzlichen Bläserensembles und das umfangreiche Schlagwerk setzt Berlioz – leider, muss man fast sagen – ausgesprochen sparsam ein:
Lediglich im Dies irae/ Tuba mirum, im Rex tremendae und im Lacrimosa wird diese aufwendige (und live sicher enorm beeindruckende) „Raumklang-Aufstellung“ vorgeschrieben. Die große Trommel und zumindest ein Beckenpaar dürfen dann immerhin im Sanctus nochmal ganz dezent und leise ein paar Töne von sich geben, das war’s dann aber auch schon!

Ehrlich gesagt kann ich verstehen, dass man diesen besetzungstechnischen Aufwand vielleicht auch unter dem Aspekt scheut, dass der ganze Zinnober lediglich für ein paar wenige Minuten einer im Ganzen immerhin fast anderthalbstündigen Komposition veranstaltet werden muss!

Verdi hat in seinem Requiem (das zwar auch einen relativ großen Orchesterapparat vorsieht, aber doch bei Weitem keinen derart aufwendigen) meiner Meinung nach das Ganze praktikabler gelöst: Die wilden (und beim Publikum ausgesprochen populären) Orchesterausbrüche, die bei ihm erstmals zu Beginn des Dies irae über die Zuhörer hereinbrechen, kommen im Verlauf der Komposition mehrfach vor, zuletzt im letzten Satz, dem Libera me, dessen Text sogar das „Dies irae“ nochmal wörtlich zitiert – ich finde diese Lösung auch von der Dramaturgie her weitaus besser gelöst als im Fall von Berlioz‘ Requiem, wo man weiß, dass nach dem Ende des Lacrimosa die Mitglieder der 4 Fernorchester (und die meisten der zahlreichen Schlagzeuger) bereits Feierabend haben, was doch eigentlich schade ist, wo man die Musiker eh schon mal zur Stelle hat!

Berlioz hätte vielleicht noch wie Verdi (oder Suppé) ein Libera me als letzten Satz seiner Totenmesse hinzufügen sollen, das hätte ihm Gelegenheit gegeben, hier noch einmal alle orchestralen Register zu ziehen. So endet das Requiem jetzt ruhig und versöhnlich mit dem Agnus Dei, bzw. der angedeuteten Communio, die sich allerdings als eine bis auf wenige Schlusstakte wörtliche Wiederholung des 2. Teils des ersten Satzes entpuppt (ab den Worten „Te decet hymnus“, die unverändert übernommen werden, was liturgisch gesehen an dieser Stelle so nicht ganz korrekt ist!), was dem Riesenwerk dadurch zwar eine musikalische Geschlossenheit verleiht, weil der Bogen zum Anfang geschlagen wird, zumindest mich als Zuhörer aber doch etwas enttäuscht, weil am Ende so gar nix nennenswert Neues mehr kommt – aber das ist eben die künstlerische Freiheit, für die sich Berlioz genauso bewusst entschieden hat, wie für den oben erwähnten, meiner Meinung viel zu knappen Einsatz der von ihm vorgeschriebenen Schlagzeuger- und Blechbläsermassen.

Ich kann mir gut vorstellen, dass die Effekte, wenn die im Raum verteilten Fernorchester mit Beginn des Tuba mirum loslegen, ziemlich überwältigend sein müssen und sicher auch keinen heutigen Zuhörer unbeeindruckt lassen! Leider hatte ich noch keine Gelegenheit, mir dieses Requiem einmal live im Konzert anzuhören – und die CD ist an diesen Stellen eindeutig überfordert: Sie kann vielleicht noch die losbrechenden orchestralen Gewalten annähernd wiedergeben, aber gerade die so wichtigen räumlichen Effekte bleiben hier natürlich zwangsläufig auf der Strecke…

Im ersten Satz ahnt man noch nichts von diesem Spektakel, denn Berlioz beginnt sein Requiem ganz verhalten und mit eher demütiger Geste. Das recht knapp gehaltene Kyrie, das sich unmittelbar an das einleitende Requiem aeternam anschließt, wirkt ebenfalls verzagt und bittend und steht in ziemlichem Gegensatz zu den fast trotzig-aufbegehrend wirkenden großen Kyrie-Fugen, wie man sie beispielsweise bei Mozart und Suppé an dieser Stelle antrifft!

Und auch den Beginn der Sequenz mit dem Dies irae lässt Berlioz ganz unerwartet sehr ruhig und im Pianissimo angehen (was für ein Gegensatz beispielsweise zu Verdi, bei dem bereits an dieser Stelle die ganze Wucht des Jüngsten Gerichts loszubrechen scheint!) und steigert im weiteren Satzverlauf geradezu genussvoll die Spannung immer mehr, bis es dann endlich mit Beginn des Tuba mirum auch bei ihm richtig „zur Sache geht“ – die Stelle, auf die das Publikum bereits seit Beginn gewartet hat (und die wie erwähnt in der Uraufführung um ein Haar danebengegangen wäre)!
Man muss hier die Bässe bewundern, die zunächst ganz allein gegen diese Wucht des Orchesters ansingen müssen (was dazu verleiten dürfte, aus dem „Singen“ ein „Schreien“ oder gar „Brüllen“ werden zu lassen, was natürlich unbedingt zu vermeiden ist!)

Im Dies irae ist mir übrigens eine Stelle aufgefallen, an der die Tenöre unablässig in einem stets gleichbleibenden motorischen Rhythmus den Text deklamieren, die mich spontan an das Dies irae im Requiem von Karl Jenkins erinnert hat. Ob Mr. Jenkins sich am Ende hier die Inspiration für seine eigene Komposition dieses Satzes geholt hat?

Berlioz hat – das muss man ihm lassen – die einzelnen Sätze seines Requiem wirklich sehr abwechslungsreich gestaltet und eine große stilistische Bandbreite aufgeboten, was (wenn man das denn unbedingt negativ sehen möchte) dem ganzen Werk allerdings auch einen etwas uneinheitlichen Charakter verleiht.

So wechseln sich die groß besetzten Sätze Dies irae, Rex tremendae und Lacrimosa mit den eher kammermusikalisch besetzten, auch vom Umfang her deutlich knapper dimensionierten Sätzen Quid sum miser (bis auf wenige Takte nur von den Tenören bestritten) und Quaerens me (ein ziemlich kniffliger, bis zu sechsstimmiger a-cappella-Chorsatz) ab.

Am meisten überzeugt mich persönlich das wirklich grandios gesteigerte Lacrimosa mit seinen zu Beginn so charakteristisch „zerklüfteten“ Begleitfiguren und den leidenschaftlich bewegten Gesangslinien (an dieser Stelle erklingt für mich das erste Motiv, das beim Hören auch mal „hängenbleibt“, während bis hierhin eher etwas sperrigere und leider nicht besonders eingängige Themen erklungen sind).
In diesem Lacrimosa kommt abschließend nochmal der gesamte orchestrale Wahnsinnsapparat dieses Requiems wirkungsvoll zum Einsatz und eigentlich würde dieser Satz auch ein würdiges Finale der gesamten Komposition abgeben, aber wir haben es hier immerhin mit einer geistlichen Komposition zu tun und nicht mit einer Oper oder Sinfonie, so dass hier deart profane dramaturgische Gesichtspunkte doch eher eine untergeordnete Rolle spielen sollten (auch wenn sie – wie schon erwähnt – manch anderem Requiem-Komponisten meiner Meinung nach doch etwas besser gelungen sind als Berlioz, aber das ist halt Ansichtssache)!

Faszinierend finde ich auch das Offertorium, das mit dem Domine Jesu Christe beginnt: Auf die Idee, den Chor während fast des gesamten, nicht gerade kurzen Satzes lediglich ein aus den Tönen A-B-A bestehendes Motiv singen zu lassen, dürfte zu Berlioz‘ Zeit außer diesem experimentierfreudigen Visionär wohl auch kein anderer Komponist gekommen sein!
Diese Idee mutet eher wie ein aus dem 20. Jahrhundert stammender kompositorischer Einfall an, verfehlt aber seinen irgendwie fast schon hypnotische Wirkungen erzielenden Effekt nicht: Das diesen monoton und litaneiartig anmutenden Gesang begleitende Orchester entfaltet währenddessen eine reiche Palette an Klangfarben und musikalischen Ideen, so dass man hier fast schon davon sprechen könnte, dass der Chor das Orchester begleitet und nicht umgekehrt. Und wenn sich am Ende des Satzes beim Wort „Promisisti“ dann plötzlich und unerwartet der Chor im Pianissimo wie ein Fächer zur Sechsstimmigkeit auseinanderfaltet, hat das nach der vorangegangenen minutenlangen Ein- bzw. Zweitönigkeit natürlich eine fantastische Wirkung!

An Sätzen wie diesem zeigt sich die unglaubliche Modernität der Musik von Hector Berlioz, der eben nicht nur ein begnadeter Maler mit den Klangfarben des Orchesters war, sondern auch für seine Zeit ganz ungewöhnliche kompositorische Ideen hatte!

Unkonventionell wie Berlioz war, überrascht es auch nicht, wenn man feststellt, dass er an mehreren Stellen des Requiem-Textes (hier vor allem in der Sequenz und dem Offertorium) in eigener Regie Verse einfach weggelassen, bzw. umplatziert hat, wie es ihm offenbar gerade für seine kompositorische Absicht opportun erschien.
Außer vielleicht Franz Schubert in seinen Messkompositionen fällt mir sonst kein Komponist ein, der es im frühen 19. Jahrhundert (geschweige denn früher) gewagt hätte, eigenmächtig Veränderungen an liturgischen Texten vorzunehmen!

Im vorletzten Satz des Requiem, dem Sanctus, kommt dann zum ersten und einzigen Male in der gesamten Komposition ein Solist zum Vortrag – ein Solotenor singt, begleitet vom dreistimmigen Damenchor, den Sanctus-Text. Da kann man sich natürlich fragen, warum denn nun kurz vor Schluss nun doch plötzlich noch ein Solist zum Einsatz kommt (und dann auch nur einer), nachdem der Chor den Rest des Requiem ja auch schon allein bestritten hat? Interessant ist in diesem Zusammenhang vielleicht noch der Hinweis, den Berlioz in seine Partitur reingeschrieben hat: Sollte nämlich kein Solotenor für diesen Satz zur Verfügung stehen, dann kann er ersatzweise auch von 10 Chor-Tenören (quasi als „Solo-Dezimett“, oder wie man so etwas nennen müsste) ausgeführt werden. Also das würde ich ja gern mal hören, denn dieser Part für den Solotenor ist schon recht anspruchsvoll und sollte natürlich auch in einer möglichst schönen, lyrischen und unangestrengt wirkenden Linie vorgetragen werden!

Es stellt sich mir auch die Frage, warum Berlioz ausgerechnet das Sanctus für diesen einzigen Einsatz einer Solostimme in seinem Requiem gewählt hat, einen Satz, der für gewöhnlich eher einen kurzen, hymnischen Charakter besitzt und somit in der Regel immer dem Chor überlassen wird (das folgende Benedictus ist dafür dann in der Regel nochmal ein lyrischer Glanzpunkt, der meist von Solostimmen ausgeführt wird – dieser Teil wurde allerdings von Berlioz gar nicht erst vertont!).

Geradezu klassisch (und für Berlioz‘ Verhältnisse unerwartet traditionell) mutet dann die auf diesen Solovortrag unmittelbar folgende ausgewachsene, nach allen Regeln der Kunst ausgeführte dreistimmige Chorfuge auf die Worte “Hosanna in excelsis“ an – wie man an dieser Stelle merkt, beherrschte der „revolutionäre Romantiker“ sein kompositorisches Handwerk souverän!

Eigenwillig wird das Ganze allerdings direkt nach Beendigung der Hosanna-Fuge, denn während nach dem Sanctus nun eigentlich das Benedictus folgen müsste, wird der komplette Satz nahezu unverändert wiederholt – der Solotenor hebt nun also erneut mit seinem sehr ausdrucksvollen Sanctus-Gesang an, diesmal jedoch noch zusätzlich ganz leise von gelegentlichen dumpfen Schlägen auf die große Trommel und einigen (sicher jedoch nicht allen) Becken begleitet, was einen recht merkwürdigen, so bislang auch noch nicht gehörten Effekt mit sich bringt, von dem man nicht recht weiß, was man davon halten soll…
Weiter passiert aber nichts, es wird also kein neuerlicher dramatischer Höhepunkt vorbereitet, sondern nun auch noch einmal die komplette Hosanna-Fuge wiederholt, was zumindest wieder der Tradition entspricht. Alles in allem ein auf seine spezielle Weise erneut ungewöhnlicher Satz (trotz der unüberhörbaren Anklänge an „Althergebrachtes“), der einige Rätsel aufgibt.

Ich hatte ja schon von der großen Vielfalt gesprochen, die Berlioz in puncto Besetzung, Instrumentation und eben auch den verwendeten Stilarten in den zehn Sätzen seines Requiem aufzeigt. Und so stellt die Hosanna-Fuge neben Passagen in dieser Totenmesse, die beispielweise eher an gregorianische Mönchgesänge erinnern oder ein wenig an Palestrinas Chorwerke, eben einen stilistischen Gruß an das 18. Jahrhundert dar!

Vom mich persönlich etwas enttäuschenden letzten Satz, dem Agnus Dei mit der angedeuteten Communio als Abschluss hatte ich ja schon geschrieben.

So bleibt bei mir von diesem Riesenwerk ein etwas zwiespältiger Eindruck zurück – es bietet dem Zuhörer wie erwähnt eine große stilistische und besetzungstechnische Vielfalt an, enthält einige (leider im Verhältnis zum Gesamtwerk viel zu wenige) überwältigende Raumklangexperimente, eine für seine Zeit von aktuellen musikalischen „Trends“ (die in der Regel dann hauptsächlich aus dem Bereich der Oper stammen müssten) erstaunlich unabhängige Musik, leider recht wenige packende Melodien (außer vielleicht im Lacrimosa und Sanctus) und mit dem Fehlen der Chor-Altstimmen bei gleichzeitiger größerer Gewichtung der Männerstimmen eine zumindest für heutige Zeit knifflige Besetzungsproblematik und damit in jedem Fall eine große (und lohnende) Herausforderung für einen oder besser gleich mindestens zwei große Konzertchöre.
Wie eingangs erwähnt: Mir fehlt bisher noch das persönliche „Aha“-Erlebnis bei diesem Werk – es gibt in der Konzertliteratur einige Requiem-Vertonungen, die mir weit besser gefallen!

Nichtsdestotrotz erfreut sich das Berlioz-Requiem auf dem Tonträgermarkt einer recht großen Beliebtheit – neben den beiden anderen „Tophit“-Totenmessen von Mozart und Verdi dürfte es sich zumindest hier tatsächlich um die Nr. 3 im Requiem-Olymp handeln, so wie es in den Konzertführern immer wieder nachzulesen ist! Andere Totenmessen liegen mit Abstand nicht in so zahlreichen Einspielungen vor, wie diese drei!

Ich habe mich aktuell etwas intensiver mit einer offenbar 1979 erstmals erschienenen Aufnahme mit dem Cleveland Orchester und Chor unter der Leitung von Lorin Maazel und der 1993 eingespielten Interpretation des Boston Symphony Orchestra mit dem Tanglewood Festival Chorus unter der Leitung von Seiji Ozawa beschäftigt.

Mir gefällt der irgendwie plastischere, direktere Klang der Ozawa-Aufnahme deutlich besser als der etwas unschärfere der älteren Maazel-Einspielung, zumal dort auch die Chor-Soprane gelegentlich etwas unpräzise Einsätze abliefern. Die im Vergleich zu Maazel flottere, zupackende Interpretation Ozawas sagt mir einfach mehr zu – so benötigt Ozawa beispielsweise für das ruhige Offertorium (Domine Jesu Christe) ganze 3 Minuten (!) weniger als Maazel, wobei Ozawa allerdings auch eine – meines Wissens 1851 entstandene - Fassung dieses Satzes aufführt, die um einige Takte gekürzt wurde, was dem Ganzen aber keineswegs schadet! Dafür gefällt mir aber das Lacrimosa in der Maazel-Aufnahme auch recht gut; vielleicht, weil es wiederum 2 Minuten länger dauert, als in der flinkeren Ozawa-Interpretation? Man weiß es nicht… ;-)

Aufgrund der wirklich überreich vorhandenen verschiedenen Aufnahmen dieses Werks lohnt sich für jede(n) Interessierte(n) auf jeden Fall ein ausführlicher Vergleich, bei dem man für sich selbst bestimmt viel Schönes und überzeugend Umgesetztes finden kann. Gerade solche „Hör-Safaris“ finde ich eigentlich immer ganz besonders spannend!

Mittwoch, 14. November 2012

Heute in der Lunch-Time-Orgel

Das heutige Mittagskonzert bestand aus zwei recht selten zu hörenden Kompositionen, die unser Organist Wolfgang Abendroth für uns vorbereitet hatte:

Louis-Nicolas Clérambault (1676-1749)
Première Suite

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-47)
Choral-Partita über
„Wie groß ist des Allmächt’gen Güte“ G-Dur


Musik aus der Zeit des französischen Barock hatten wir in der Lunch-Time-Orgel schon seit Längerem nicht mehr, der Bach-Zeitgenosse Clérambault hat insgesamt zwei mehrteilige Suiten für Orgel komponiert, wie uns Herr Abendroth im Rahmen seiner kurzen Programmvorstellung zu Beginn des Konzerts erläuterte, wobei jedoch die heute zu hörende, knapp 15-minütige erste Suite, die aus sieben Sätzen besteht, seltener gespielt wird als die zweite.
Die Suite reiht in für französische Orgelmusik aus dieser Epoche typischer Manier verschiedene zwei-, drei- oder vierstimmige Sätze aneinander, wobei die auch von Clérambault verwendeten typischen Satztitel wie „Grand Plein Jeu“ oder „Basse et Dessus de Trompette“ bereits die charakteristischen Klangfarben (Registrierungen) vorgeben, mit denen diese Sätze gespielt werden sollen. Ich mag diese Mischung aus Feierlichkeit und manchmal schon fast ein wenig improvisatorisch wirkender Verspieltheit sehr gern!

Ebenfalls selten zu hören sind die Choralvariationen des zum Zeitpunkt ihrer Komposition gerade einmal 14-jährigen Felix Mendelssohn – in der Regel trifft man immer nur auf seine bekannteren Orgelkompositionen, wie die 6 Sonaten op. 65 oder die 3 Präludien und Fugen op. 37, die allesamt auch im Rahmen der Lunch-Time-Orgel schon erklungen sind.
Das heute zu hörende Frühwerk des – wie ich finde – wirklich zu Recht als Wunderkind betitelten jungen Felix konnte sich aber auf jeden Fall hören lassen: Nach der Vorstellung der feierlich-zuversichtlichen Choralmelodie folgten drei Variationen, von denen die mittlere mit ihren kunstvollen Kanons bereits ein beredtes Zeugnis von der handwerklichen Meisterschaft ihres kindlichen Komponisten ablegte!
Die abschließende dritte Variation hätte – wenn man es nicht besser wüsste – ohne Weiteres auch von einem Barockmeister, wenn nicht gar von Bach selber stammen können, der hier unüberhörbar als Vorbild gedient hat! Ein interessantes Zeugnis der früh begonnenen Bach-Verehrung Mendelssohns, die wenige Jahre später ja noch bedeutende Früchte tragen sollte!

Heute also wieder ein wirklich spannendes und ausgesprochen interessantes Programm!

Mittwoch, 7. November 2012

Heute in der Lunch-Time-Orgel

Nachdem in der vorigen Woche das Orgelkonzert aufgrund des Reformationstags ausfallen musste, hatten wir heute wieder Gelegenheit, dem Organisten beim Spielen quasi über die Schulter schauen zu können - der mobile Fernspieltisch der Beckerath-Orgel kam wieder einmal zum Einsatz und dank seiner Positionierung direkt vor den Stufen, die zum Altar hinaufführen, konnten alle Zuhörer, die heute Mittag ihren Weg in die Düsseldorfer Johanneskirche gefunden hatten, Kantor Wolfgang Abendroth bei seiner Arbeit beobachten.

Dieser hatte für das heutige Konzert – passend zum trüben und nassen Novemberwetter draußen – drei größere Stücke vorbereitet, in denen allesamt die düsteren, dramatischen und zum Teil auch ein bisschen elegischen Moll-Tonarten dominierten:

Nicolaus Bruhns (1665-97)
Praeludium und Fuge g-moll

César Franck (1822-90)
Prélude, Fugue et Variation h-moll op. 18

J. S. Bach (1685-1750)
Fantasie und Fuge g-moll BWV 542


In diesem Herbst scheint Bachs wunderbare Fantasie und Fuge in g-moll (BWV 542) ganz hoch im Kurs der (Düsseldorfer) Organisten zu stehen – nach ihrem Erklingen im September stand dieses Stück zuletzt Mitte Oktober auf dem Programm der Lunch-Time-Orgel, aber sei’s drum: Ich könnt’s immer und immer wieder hören, zumal ja auch jeder Organist seine eigene Interpretation und Klangfarben (bedingt durch individuelle Registrierungen) mitbringt - ein großer Vorteil bei Orgelmusik!

Sehr gut gefallen hat mir heute aber auch das dreiteilige Stück von César Franck – das romantisch-melancholische Thema des Prélude wurde nach der Fuge erneut aufgegriffen und in der Variation mit virtuosen Begleitfiguren umspielt – sehr schön!
Da vergaß man für eine Weile die graue November-Tristesse draußen…

Dienstag, 6. November 2012

Requiem-Vertonungen: Franz von Suppé

Unglaublich, dass es nun schon wieder November ist!
Mindestens ebenso unglaubliche 2 Jahre ist es nun schon her, dass ich hier – passend zu diesem Monat mit seinen vielen entsprechenden Gedenktagen - eine kleine Reihe mit der Vorstellung verschiedener Vertonungen der Missa pro defunctis, also der lateinischen Totenmesse, begonnen hatte. Da ich im vergangenen Jahr aus Zeitgründen im November partout nicht dazu gekommen bin, ein paar weitere interessante Requiem-Kompositionen zu präsentieren (und da gäbe es noch eine ganze Reihe!), möchte ich das in diesem November nun nachholen.

Beginnen möchte ich in diesem Jahr mit einem Komponisten, von dem man zunächst eigentlich gar nicht erwarten würde, dass auch er eine eigentlich doch recht ernste Angelegenheit wie ein Requiem komponiert hat, da man seinen Namen nämlich vorrangig dem Metier der leichten Muse zuordnen würde (obwohl das ja nun wirklich kein Widerspruch sein müsste – aber man kennt ja das Schubladendenken vieler Leute!):
Die Rede ist von Franz von Suppé (1819-95), der zusammen mit Johann Strauß Sohn (1825-99) und Carl Millöcker (1842-99) in der Regel als Vertreter des „Goldenen Zeitalters der Wiener Operette“ gilt.
Vielleicht liegt es daran, dass man Suppé einfach zu sehr in die Ecke "Operette" gestellt hat und man von ihm schmissige, mitreißende Ouvertüren erwartet (die ich auch sehr liebe!) - denn irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, dass sein Requiem irgendwie nicht als vollgültige Vertonung einer Totenmesse wahrgenommen wird und das finde ich wirklich sehr schade.

Ich hatte Gelegenheit, sein Werk nicht nur als Zuhörer, sondern aktiv als (Mit-)Sänger im Herbst 2003 in Köln aufführen zu dürfen und unser ganzer Chor war von Anfang an von diesem für uns alle völlig unbekannten, für den Chor sehr dankbaren Requiem begeistert! In der Rezension nach dem Konzert (Überschrift: "Des Meisters Kinderfreude an der Fuge") des zuständigen Redakteurs beim Kölner Stadt-Anzeiger klang damals dann allerdings ebenfalls eine gewisse Voreingenommenheit dem Werk gegenüber durch - ein Operettenkomponist und dann eine Totenmesse? Das kann doch nicht sein...

Dabei geht dies ganz gut - zumal Suppé eine gründliche kirchenmusikalische Ausbildung genossen hatte und das Requiem immerhin vor seinen späteren Operettenerfolgen wie "Boccaccio" oder "Die schöne Galathée" entstanden war - und damals auch ein Erfolg wurde. Kritische Stimmen, die dem Komponisten partout "Operettenhaftigkeit" und damit mangelnde Ernsthaftigkeit seiner Totenmesse unterstellen wollten (ein Vorwurf, den ich nun wirklich nicht nachvollziehen kann!), kamen interessanterweise nämlich erstmals auf, nachdem Suppé mit "Leichte Kavallerie" & Co. Furore gemacht hatte...

Vermutlich sind das aber dieselben Kritiker hierzulande gewesen, die auch Verdis Requiem-Vertonung (Uraufführung 1874) eine allzu große Opernhaftigkeit ankreideten und auch dieses Werk deshalb ablehnten – komisch: in Italien schien das damals niemanden gestört zu haben…?!?

Vielleicht beurteilt man ein Werk anders, wenn man es über einen längeren Zeitraum einstudiert, intensiv probiert und dann im Konzert aufgeführt hat – aber ich glaube, ich würde das Suppé-Requiem auch ohne diese meine persönlichen Erfahrungen mit dieser Komposition zu meinen Lieblings-Requiem-Vertonungen rechnen!

Franz von Suppé, der mit vollständigem Namen eigentlich Francesco Ezechiele Ermenegildo Cavaliere Suppé-Demelli hieß, komponierte seine Missa pro defunctis (für vier Solostimmen, Chor und Orchester) zum Gedenken an den im Jahr 1850 verstorbenen Wiener Theaterdirektor Franz Pokorny und die Komposition wurde am 22.11.1855 in der Piaristenkirche in Wien uraufgeführt.

Der Komponist unterteilt sein Requiem (Aufführungsdauer knapp 70 min.) ganz traditionell in folgende 13 Abschnitte:
-Introitus/ Kyrie eleison
-Sequenz: Dies irae
--Tuba mirum
--Rex tremendae
--Recordare
--Confutatis
--Lacrimosa
-Offertorium: Domine Jesu Christe
--Hostias
-Sanctus
-Benedictus
-Agnus Dei
-Libera me

Man merkt dieser Komposition die grenzenlose Mozart-Verehrung Suppés an - es ist in vielen Teilen deutlich am Mozart-Requiem KV 626 orientiert, so z. B. im Confutatis, wo zunächst die Männerstimmen mit einem recht bedrohlichen "Confutatis maledictis" loslegen, um dann von den ätherischen Frauenstimmen - engelsgleich - abgelöst zu werden ("Voca me cum benedictis") - wie bei Mozart.
Oder die Kyrie-Fuge (in Moll und majestätisch-streng wirkend - wie in KV 626) wird am Ende im "Cum sanctis tuis" - nur mit dem anderen Text unterlegt - notengetreu wiederholt. Das ist ebenfalls eindeutig an Mozart orientiert (bzw. der im Rahmen der Vollendung des Fragments durch Mozarts Schüler Franz-Xaver Süßmayr so getroffenen „Notlösung“ - ob Mozart die Kyrie-Fuge tatsächlich am Ende noch einmal mit anderem Text wiederholt hätte, sei mal dahingestellt).
Jedenfalls gäbe es da noch viele weitere Beispiele, die Suppés Mozart-Affinität aufzeigen, bzw. Stellen, an denen er sich musikalisch oder von der Besetzung her dessen Komposition zum Vor- bzw. Leitbild genommen hat.
Auch die Tatsache, dass Suppé in seiner Missa pro defunctis eine eigentlich eher während der Wiener Klassik übliche, „noble Zurückhaltung“ wahrt und allzu heftige orchestrale wie vokale „Knalleffekte“ meidet, scheint mir durchaus auch ein Hinweis darauf zu sein, woher er seine Inspiration für diese Komposition hauptsächlich bezogen hat.
Aber Suppé vermag es - trotz dieser Orientierung an Mozart - dem Requiem seine ganz eigene Note zu verleihen - was sind schließlich schon äußere Gestaltungsmerkmale wie die gerade aufgezählten?

Die im Suppé-Requiem enthaltenen Fugen (auch das zweimal unverändert vorkommende "Quam olim Abrahae" steht bei ihm in der traditionell an dieser Stelle angewendeten Fugenform) empfinde ich weder als die von unserem damaligen Rezensenten herablassend "Kinderfreude" (was immer das heißen soll - gemeint war wohl ein "Hört mal her, liebe Zuhörer: Ich, Franz von Suppé, kann sowas auch!") genannten Kunststückchen, noch als "holprig" oder „ungelenk“!
Sie beweisen vielmehr, dass Suppé sein Handwerk souverän beherrschte und nach allen Regeln der Kunst anzuwenden verstand – und als traditionsbewusster Künstler sich auch den althergebrachten „Gesetzmäßigkeiten“ unterwarf, die eben auch im Jahr 1855 noch vorsahen, dass beispielsweise die "Quam olim Abrahae"-Passage in Form einer Fuge komponiert werden sollte. Und gerade diese immerhin gleich doppelt zum Vortrag kommende Fuge ist nun wirklich sehr schwungvoll und eingängig - wir haben sie immer sehr gerne gesungen!
Es ist wahrscheinlich einfach so, dass man in einem um 1850 entstandenen Requiem keine ausgewachsenen, gründlich "durchexzerzierten" Fugen mehr erwartet. Die wirken dann natürlich im ansonsten zeitlich ganz gut einzuordnenden Umfeld etwas befremdlich.
So bricht beispielsweise im Hostias (aber auch an einigen Stellen im Agnus Dei) die zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Requiem gerade ganz aktuelle Epoche der "mittleren Verdi-Opern" unüberhörbar hervor, wenn in der Orchesterbegleitung an einigen Stellen das aus den Opern des berühmten Italieners so bekannte (und gelegentlich auch belächelte) "Hum-ta-ta" und einige andere, typische Wendungen erklingen und man sich unweigerlich an eine Szene aus "Rigoletto" oder "La traviata" erinnert fühlt - aber: warum eigentlich nicht? Mir gefallen diese überraschenden Prisen  echter italianità in der Komposition eines eigentlich zu den Großen des Wiener Walzer-Olymps gehörenden Meisters wirklich ausgesprochen gut - gerade, weil man sie hier nicht wirklich erwartet hätte!

Apropos Verdi – neben seinem schon erwähnten, knapp 20 Jahre später entstandenen monumentalen Requiem ist dieses hier von Suppé eines der wenigen, in dem als letzter Satz auch noch das streng genommen eigentlich nicht zur Liturgie der Missa pro defunctis gehörende Libera me mit vertont wurde! Dies übrigens auch ein deutlicher Unterschied zum Vorbild des Mozart-Requiem.

Weitere große Momente im Suppé-Requiem sind einige wunderbar ausdrucksvolle Kantilenen (wie z. B. im Recordare oder im Lacrimosa mit ihren klagenden Oboen-Soli zu Beginn) und dann natürlich das Tuba mirum mit dem ausgedehnten Posaunenduett zu Beginn und einer sich im Ausdruck zur Mitte des Satzes hin steigernden Leidenschaft (in der absolut ungewöhnlichen Taktart 15/8tel!), die am Ende wieder auf die beiden Posaunen des Beginns zurückgeführt und reduziert wird. Dieser Mittelteil erinnert – ähnlich wie der Beginn dieses Requiem – an einen unaufhaltsam dahinschreitenden Leichenzug, dem der Zuhörer begegnet. Das Ganze hat einen irgendwie gleichmäßig dahinfließenden Charakter, dessen sogartiger Wirkung man sich nur schwer entziehen kann.
Auch ein Highlight ist das Benedictus - ein gut 4-minütiges Solisten-Quartett - a cappella (die vier Solisten singen in dieser Nummer also ohne jegliche Unterstützung von Chor oder Orchester nur miteinander)!!
Eine echte Zitterpartie und große Konzentrationsübung, weil am Ende dieser ausgedehnten Passage der Chor und das volle Orchester dann wieder mit dem "Osanna in excelsis" einfallen - und man merkt dann halt sofort, wenn die Solisten in den 4 Minuten in der Intonation "abgesackt" sind (bei uns ist es damals im Konzert übrigens gut gegangen - da singt man dann das jubelnde "Osanna" mit wahrer Freude im Herzen *lach*).
Im Libera me (diese abschließende Textpassage fehlt wie erwähnt im Mozart-Requiem) als letztem Satz bei Suppé kommen gar noch am gregorianischen Choral orientierte Floskeln im unbegleiteten Chor vor – also vielseitig und ideenreich war der Komponist schon, das muss man ihm lassen!

Alles in allem: Ein äußerst abwechslungsreiches Requiem (als Totenmesse hat es eine überzeugende Gesamtaussage, die dem ernsten Anlass auch gerecht wird), in dem verschiedene Stile ineinanderfließen und eine originelle Mischung ergeben und der Zuhörer die seltene Chance hat, einen vermeintlich bekannten Komponisten unterhaltender Operetten aus der Wiener Walzerwelt einmal von einer ganz ungewohnten Seite kennen- und schätzen zu lernen! Eine echte Entdeckung und daher unbedingt zu empfehlen!!
Zwei Aufnahmen dieser (in den letzten Jahren erfreulicherweise schon mal häufiger im Konzert anzutreffenden) Totenmesse kenne ich:
Aleksandra Baranska (Sopran), Katarzyna Suska (Alt), Jerzy Knetig (Tenor), Andrzej Hiolski (Bass)
Philharmonischer Chor und Philharmonisches Orchester von Krakau
Dirigent: Roland Bader
(1989 in Krakau aufgenommen und 1996 beim Label KOCH/ SCHWANN veröffentlicht)
Elizabeta Matos (Sopran), Mirjam Kalin (Alt), Aquiles Machado (Tenor), Luis Rodrigues (Bass)
Chor und Orchester der Gulbenkian Foundation Lissabon
Dirigent: Michel Corboz
(Live-Mitschnitt von 1997; 2003 erstmals bei Virgin Classics erschienen)
Sowohl die in Krakau wie auch die in Lissabon entstandenen Einspielungen haben ihre Vorzüge, da sich in summa ein durchaus gleichwertiges Ergebnis ergibt (trotz einiger zum Teil auffälliger Unterschiede bei der Wahl der Tempi in den verschiedenen Sätzen – mal sind die Portugiesen schneller, mal die Polen, man kann also nicht sagen, dass Aufnahme A grundsätzlich „flotter“ wäre als Aufnahme B), kann und möchte ich hier keinen eindeutigen persönlichen Favoriten benennen.
Bei der portugiesischen Aufnahme würde ich mir allerdings bisweilen etwas mehr akustische Raumtiefe wünschen, da das Ganze manchmal leider etwas flach klingt und man den (wahrscheinlich nicht zutreffenden) Eindruck bekommt, dass das Konzert in einem viel zu kleinen Raum stattgefunden hat!

Anhören lohnt sich also in jedem Fall, am besten natürlich im Live-Konzert – dieses Requiem aus der Mitte des 19. Jahrhunderts entfaltet dann ganz sicher seine faszinierende Wirkung!