Sonntag, 27. Oktober 2013

Ein Abend in der Oper - "Eugen Onegin" in Köln

Besucher der Kölner Oper haben eine ganze Weile darauf warten müssen: Am vergangenen Sonntag (20.10.2013) fand dann nun endlich auch die erste Premiere der Spielzeit 2013/2014 statt:
Auf dem Spielplan stand Peter Tschaikowskys (1840-93) bekannteste Oper Eugen Onegin (uraufgeführt am 29. März 1879 am Kleinen Theater in Moskau) in einer Neuinszenierung von Dietrich W. Hilsdorf.

Am Mittwoch (23.10.) war ich in der 2. Vorstellung dieser Neuproduktion in der Oper am Dom, um mir eine meiner absoluten Lieblingsopern endlich mal wieder live und in Farbe auf der Bühne ansehen und anhören zu können! Die knapp dreistündige Vorstellung (inkl. einer Pause) war zu ca. 75 % ausverkauft (ich hatte ehrlich gesagt gerade nach den ausgesprochen positiv ausgefallenen Premierenkritiken in Presse und TV mit einer höheren Besucherzahl gerechnet) und das Publikum war erfreulicherweise altersmäßig ausgesprochen gut durchmischt. Weitere Infos, Fotos, Termine, etc. gibt es hier.

Die Oper Eugen Onegin besteht aus Szenen, die von Tschaikowsky und seinem Librettisten Konstantin Schilowskij aus dem gleichnamigen Versroman Alexander Puschkins entnommen wurden und aus verschiedenen Blickwinkeln schlaglichtartig die auf ihre Art jeweils tragisch verlaufenden Geschichten der drei Hauptfiguren Tatjana, Lenskij und natürlich des Titelhelden der Oper wiedergeben, wobei eindeutig größeres Gewicht auf die inneren, psychologischen Entwicklungen dieser Figuren gelegt wurde als auf eine aktionsreiche, äußerlich-dramatische Handlung. Viele Ereignisse, die in Puschkins Romans vorkommen, werden in der Oper gar nicht thematisiert – der dramaturgische Bruch zwischen dem 2. und dem 3. Akt (also dem, was nach dem Duell zwischen Lenskij und Onegin und dem Wiedersehen Onegins mit Tatjana in St. Petersburg passiert) ist hierbei besonders auffällig.

Genau da setzt Regisseur Hilsdorf an: Er erzählt eben nicht nur die Geschichte der erwähnten drei Hauptfiguren, sondern nimmt sich auch der weiteren Geschicke der in der zweiten Hälfte der Oper achtlos übergangenen Figuren wie Tatjanas Schwester Olga, ihrer Mutter und der Kinderfrau Filipjewna an, wobei er sich – soweit ich das beurteilen kann – in vielen Punkten an die Puschkin’sche Vorlage gehalten hat.
So wird beispielsweise angedeutet, dass sich die heitere, ja leichtlebige Olga schon bald nach dem Tod ihres Verlobten Lenskij mit einem Soldaten (einem Offizier, nehme ich an) tröstet, während die alte Kinderfrau, nach den dramatischen Ereignissen des Duells vom Schlag getroffen oder bedingt durch einen Herzinfarkt, tot auf dem Sofa zusammenbricht, in einen Sarg gelegt und feierlich von der Bühne getragen wird. Diesen Ereignissen kann die Larina, die Mutter Tatjanas und Olgas, nunmehr im Rollstuhl sitzend, nur noch macht- und tatenlos zuschauen.

Inwieweit das alles dann noch den Vorgaben bei Puschkin entspricht, kann ich allerdings nicht sagen, da dessen Werk, das in Russland zum festen Kanon der klassischen Literatur (und damit der Allgemeinbildung) gehörte (und bis heute gehört!) hier im Westen weitaus weniger bekannt ist und die Tschaikowsky-Oper Eugen Onegin bei Weitem bekannter ist als die eigentliche literarische Vorlage. Das ist wohl auch der Grund, warum Tschaikowsky es sich leisten konnte, nur einige Schlüsselszenen aus der Romanvorlage zu vertonen – er konnte voraussetzen, dass das russische Publikum die Handlung der Geschichte eh in- und auswendig kannte.

Dennoch muss man dem Regisseur der aktuellen Kölner Inszenierung dankbar sein für die Idee, dem Zuschauer hier ein bisschen zusätzliche Story zu präsentieren, auf die er sonst verzichten müsste!
Neben den erwähnten Ereignissen (die übrigens allesamt pantomimisch während des Erklingens der berühmten Polonaise zu Beginn des 3. Aktes dargestellt werden, wobei man sich darüber streiten kann, ob diese Stelle, an der die festliche und repräsentative Musik, die das Publikum ja eigentlich auf die herrschaftliche Atmosphäre im Hause des Fürsten Gremin einstimmen soll, wirklich die passende hierfür ist!) erzählt Regisseur Hilsdorf aber auch noch eine Menge weiterer kleiner Episoden, die dazu führen, dass spätestens ab dem 2. Akt neben der eigentlichen „offiziellen“ Handlung immer noch irgendetwas anderes passiert:
Da wird ein Hündchen an der Leine über die Bühne geführt; ein betrunkener Alter torkelt ausgiebig und unglücklich durch die Szenerie; Monsieur Triquet, der Tatjana (auf französisch) ein Ständchen zum Namenstag darbietet, wird als nervender Volldepp dargestellt, dessen nicht enden wollenden Vortrag sich am Ende nur noch die wehrlose Amme anhören muss; das Dienstpersonal im Gutshaus der Larins schält Kartoffeln und topft Blumen um, während der arme Lenskij kurz vor dem für ihn tödlich verlaufenden Duell Abschied von seiner Olga nimmt (die tatsächlich anwesend ist und nicht – wie eigentlich vorgesehen – vom einsam in einer Winterlandschaft stehenden Lenskij lediglich herbeigesehnt wird, was meiner Meinung nach eine wesentlich stärkere Wirkung gehabt hätte!) – diese und zahlreiche andere szenische Ideen trifft man wie gesagt während der gesamten Vorstellung an.

Ob das nun alles so wirklich sinnvoll ist und die Zuschauer an mehreren Stellen nicht eher zu sehr vom eigentlich Wichtigen ablenkt (oder auch das ein oder andere Fragezeichen hinterlässt, weil sich einem der Sinn der ein oder anderen Aktion einfach nicht erschließen will), mag durchaus sein – unterhaltsam ist das Ganze in jedem Fall!

Dadurch, dass die ganze Inszenierung in derselben Kulisse spielt (die sich dank beweglicher Wände allerdings ohne Probleme vom kleinen Gemach in einen großen Ballsaal verwandeln lässt), bekommt die Oper einen einheitlichen, ordnenden Rahmen, was aufgrund der doch etwas uneinheitlichen Handlung vielleicht gar keine so schlechte Idee ist. So befindet man sich also durchgehend in einem Raum (bzw. Saal) mit hohen weißen Fenstern und Türen sowie blassgrünen Tapeten, die mit einigen wenigen jugendstilartigen Ornamenten verziert sind und in dem ein paar Stühle, Tische und Sofas je nach Bedarf gruppiert werden. Das ist eigentlich völlig ausreichend, wobei ich mir persönlich zumindest für die Duellszene eine etwas kargere Kulisse gewünscht hätte (auch ohne die erwähnten Kartoffelschäler im Hintergrund!), hier sollte aber wohl die Absurdität dieses aus einer Nichtigkeit heraus entstandenen Streits visualisiert werden – inklusive des völlig sinnlosen und von keinem der Beteiligten wirklich gewollten Duelltod Lenskijs, der so eben im Dienstbotentrakt sein junges Leben aushauchen muss...

Die Kostüme der Figuren sind irgendwo zwischen den 1920er und 1950er Jahren einzuordnen – bei diesem Regiekonzept hätte es nun wirklich nichts ausgemacht, dann auch gleich auf Kostüme im Stil des 19. Jahrhunderts (also die Zeit, in der das Stück eigentlich spielt) zurückzugreifen, das hätte ich zumindest konsequent gefunden!

Trotzdem will ich mich weiß Gott nicht beklagen: Ich habe schon weitaus verquastere, total abstrahierende Inszenierungen von Eugen Onegin ertragen müssen – viele Regisseure erliegen heute schließlich dem Reiz, die dem Stück innewohnende psychologische Komponente in Form total abstrakter Visionen und Verfremdungen dermaßen zu betonen, dass man zwischen der wunderbaren Tschaikowsky-Musik und dem, was da auf der Bühne an optischen Albträumen vor sich geht, überhaupt keinen Zusammenhang mehr erkennen kann!
Im Gegensatz dazu war ich von der jetzt in Köln präsentierten, ideenreichen und szenisch anschaulich umgesetzten Inszenierung durchaus zufrieden – so etwas hatte ich eigentlich gar nicht erwartet!

Nun noch zum musikalischen Aspekt des Abends - die Besetzung sah wie folgt aus:
Eugen Onegin: Andrei Bondarenko
Tatjana: Olesya Golovneva
Lenskij: Matthias Klink
Olga: Adriana Bastidas Gamboa
Larina: Dalia Schaechter
Filipjewna: Anna Maria Dur
Fürst Gremin: Robert Holl
Monsieur Triquet: Alexander Fedin
Hauptmann: Stefan Kohnke
Saretzkij: Luke Stoker
Guillot: Rolf Schorn
Chor und Statisterie der Oper Köln
Gürzenich-Orchester Köln
Dirigent: Marc Piollet


Musikalisch war der Abend ein wirklich gelungenes Ereignis – das Ensemble überzeugte nicht nur gesanglich, sondern auch (und das ist ja nun wirklich nicht selbstverständlich) optisch:
Die Russin Olesya Golovneva als scheue, mädchenhafte Tatjana, der Ukrainer Andrei Bondarenko als schnöseliger, auf seine gelangweilt-unkonventionelle Art aber durchaus nicht unattraktiver Onegin, die wie immer erfreulich vielseitigen Kölner Ensemblemitglieder Adriana Bastidas Gamboa als lebensfrohe Olga und Dalia Schaechter als Gutsherrin Larina oder der überaus würdig daherkommende Robert Holl als Fürst Gremin (um nur einige zu nennen).

Dass bei den beiden Hauptfiguren auch sprachlich das sicher nicht ganz leicht zu beherrschende russische Vokabular dieser Oper selbstverständlich in besten Händen (bzw. Kehlen) war, versteht sich von selbst!
Gesungenes Russisch klingt gar nicht mal schlecht! Das ist mir an dem Abend wieder mal aufgefallen.

Während ich das Gefühl hatte, dass der Tenor Matthias Klink wie auch der Bass Robert Holl an der ein oder anderen Stelle zumindest kurzzeitig an ihre stimmlichen Grenzen stießen (was ihre respektable Gesamtleistung jedoch nicht schmälert!), überzeugten mich die beiden Hauptdarsteller wirklich durchweg!
Vor allem Olesya Golovneva sehr natürliche, ungekünstelt wirkende Stimme passte perfekt zu der von ihr verkörperten Figur! Es war beispielsweise ein Vergnügen, ihr während der eindringlichen Gestaltung der großen Briefszene im 1. Akt zuzusehen und zuzuhören (erstaunlicherweise ist die aktuelle Kölner Produktion tatsächlich ihr Rollendebüt als Tatjana)!

Gut aufgelegt war auch der Chor, der im 2. Akt neben einigen schüchternen Walzerschritten auch eine regelrechte Choreographie vorführen darf (unterstützt durch die Statisterie), wenn die Mazurka erklingt, in deren Verlauf der Streit zwischen Onegin und Lenskij eskaliert. Dafür, dass die Kölner Oper kein Ballett (mehr) besitzt, war das schon ganz ordentlich anzuschauen!

Auch das Gürzenich-Orchester, das unter der Leitung von Marc Piollet fast durchgehend ein frisches Tempo vorlegte, überzeugte. Allerdings lag es wohl an der meiner Meinung nach nicht ganz unproblematischen Akustik in der Ausweichspielstätte im „blauen Opernzelt“ (wo für meinen Geschmack der Orchestergraben viel zu tief ist), dass ich mir an einigen Stellen einen etwas präsenteren, „knackigeren“ Orchesterklang gewünscht hätte! Das schallte mir oft etwas zu distanziert aus der Tiefe herauf…

Aber wie gesagt, ich will mich wirklich nicht beklagen: Insgesamt war das ein wirklich gelungener Opernabend und eine würdige (wenn auch arg späte) erste Neuinszenierung der Spielzeit 2013/14!

An dieser Stelle verweise ich gern abschließend auch wieder auf die wie immer sehr lesenswerte Rezension im Online Musik Magazin

Freitag, 25. Oktober 2013

Georges Bizet - 175. Geburtstag

Heute vor genau 175 Jahren - also am 25. Oktober 1838 - wurde Georges Bizet in Paris geboren. Ein Komponist, dessen Musik mir sehr am Herzen liegt und der – wie so viele seiner Kollegen – bis heute meist nur mit einem einzigen seiner zahlreichen Werke in Verbindung gebracht wird:
Die am 3. März 1875 uraufgeführte Oper Carmen - zugegebenermaßen auch eine meiner absoluten Lieblingsopern, aber bei Bizet gibt es noch so viel mehr absolut Hörenswertes zu entdecken, dass ich es fast ein bisschen schade finde, dass der Welterfolg dieser Oper alles andere, was Bizet in seinem – fast muss man sagen für einen Komponisten wieder einmal typisch kurzen – Leben noch so alles komponiert hat, weit, weit in den Schatten stellt!

Tragischerweise hatte Bizet noch nicht einmal etwas vom außerordentlichen Erfolg seiner Carmen - die Reaktion des Publikums der Uraufführung an der Pariser Opéra-Comique ließ nicht darauf schließen, dass diese Oper einmal eine der bekanntesten und beliebtesten Opern der Welt werden würde und der Komponist starb bereits am 3. Juni 1875 in Bougival (bei Paris) im Alter von nur 36 Jahren (damit wurde er nur ein gutes Jahr älter als Mozart!) viel zu früh an den Folgen eines chronischen Herzleidens – im Oktober 1875 begann dann in Wien der internationale Siegeszug dieses Meisterwerks und als Carmen 1883 triumphal nach Paris zurückkehrte, war ihr Schöpfer bereits fast 8 Jahre tot! Was für eine Tragödie – gerade ihm hätte ich es gegönnt, dass er noch etwas vom Erfolg seiner Oper mitbekommen hätte!

Über Carmen schreibe ich dann aber ein anderes Mal (Beiträge zu einigen meiner Lieblingsopern stehen schließlich immer noch aus…), hier und heute soll es zunächst einmal um ihren ansonsten recht unbekannt gebliebenen Komponisten gehen.

Zuerst ein paar Daten aus seiner viel zu kurzen Vita:
Geboren als Alexandre-César-Léopold Bizet (lt. Standesamtseintrag), wird er 1840 – erstaunlich spät für die damalige Zeit - aber auf den Namen Georges getauft.
Bizet war ein klassisches Wunderkind: Extrem musikalisch begabt und auffassungsfähig. Sein Instrument war das Klavier. Er wurde früh gefördert (sein Vater war Gesangslehrer, seine Mutter Pianistin) und durfte bereits mit 10 Jahren (!) ab 1848 das Pariser Konservatorium besuchen, um dort Klavier, Orgel und Komposition zu studieren.
Seine Lehrer dort waren Berühmtheiten wie z. B. die Komponisten Jacques Fromental Halévy (1799-1862) und Antoine Francois Marmontel. Mit Charles Gounod (1819-93), der auch zu seinen Lehrern gehörte, verband ihn eine intensive und langjährige Freundschaft.

Im Jahr 1857 gewann er den begehrten Prix de Rome und durfte mit diesem Stipendium für ein Jahr nach Rom gehen, dort in der Villa Medici wohnen und seine Studien vor Ort fortsetzen. Er blieb auf eigene Faust noch ein Jahr länger in Rom und bereiste unter anderem auch Norditalien mit seinem besten Freund Ernest Guiraud (1837-1892), der auch Komponist war.

Nach seiner Rückkehr nach Frankreich 1860 bleibt er für den Rest seines Lebens in Paris als Komponist tätig. Er führt dort ein sehr wechselvolles Leben, das von Erfolgen, aber auch von etlichen, herben Misserfolgen geprägt ist.
Er heiratet 1869 Geneviève Halévy, die Tochter seines einstigen Kompositionslehrers. 1871 wird der gemeinsame Sohn Jacques geboren.

Bizet hat in seinem kurzen Leben mehrere Opern, Klavierwerke, Orchestermusik und Vokalwerke geschaffen - einige davon sind auch mehr oder weniger bekannt geworden, bzw. geblieben. Viele davon jedoch fristen zu Unrecht ein Schattendasein.

Drei seiner frühesten Werke möchte ich daher hier heute einmal etwas ausführlicher vorstellen:
Bizet war im Jahre 1855 gerade mal 17 Jahre alt, als er 2 Werke komponierte, die bereits seine früh entwickelte Meisterschaft in der Instrumentierung und der Erfindung eingängiger Themen und Melodien zeigen.
Zum einen handelt es sich um seine Sinfonie in C-Dur (die manchmal auch die Nummer 1 trägt, um sie von seiner ebenfalls in C-Dur stehenden weiteren Sinfonie Bizets, die allerdings noch den zusätzlichen Titel "Roma" trägt, abzugrenzen).
Der 17-jährige Bizet befand sich zum Zeitpunkt dieser Komposition bereits seit einigen Jahren in der Ausbildung am Pariser Conservatoire und hatte bereits erste kleinere Kompositionen für Klavier und auch für Gesangsstimmen verfasst - meist natürlich zu Übungszwecken. 1854 werden immerhin seine ersten Klavierwerke (darunter ein Grande Valse de concert in Es-Dur als Opus 1) gedruckt.
Außerdem hatte er 1854 einen Klavierauszug von Charles Gounods Oper La Nonne sanglante verfasst - eine gewisse Affinität zur Oper ließ sich nicht leugnen. Diesem Klavierauszug folgte noch ein Klavierarrangement (zu vier Händen) von Gounods 1. Sinfonie D-Dur - dies gab wohl den entscheidenden Anstoß für Bizet, sich auch einmal selber an der Gattung der Sinfonie zu versuchen und er komponierte in aller Stille und nur für sich (evtl. war es aber auch eine genial gelöste Übungsaufgabe, die ihm einer seiner Lehrer stellte?) das erwähnte Stück in C-Dur!

Diese Sinfonie ist wirklich ein echtes Meisterwerk! Wenn man bedenkt, wie wenig praktische Erfahrung Bizet hatte, muss man den Hut ziehen vor dieser Leistung, die sich nahtlos in eine Reihe beispielsweise mit Felix Mendelssohns Ouvertüre zum "Sommernachtstraum" einreihen lässt (Mendelssohn war ebenfalls 17 Jahre alt, als er diese Ouvertüre komponierte, hatte zu diesem Zeitpunkt aber schon etliche Streichersymphonien und weitere ausgesprochen gelungene Werke verfasst) und die – obwohl vom Charakter her ganz anders geartet - auch den Vergleich mit der berühmten "kleinen" g-moll-Sinfonie des 17-jährigen Mozart nicht zu scheuen braucht!

Das gut halbstündige 4-sätzige Werk ist sowieso deutlich an der Wiener Klassik, wie auch an Mendelssohn, Schubert und Rossini orientiert - angefangen bei der "klassischen" Orchesterbesetzung, bis hin zur Verwendung der Sonatensatzform in den Ecksätzen.
Auch der Tonfall des ganzen Werks erinnert an die erwähnten Vorbilder, dennoch findet Bizet schon hier seine ganz eigene musikalische Handschrift, wie z. B. im 2. Satz, einem ausdrucksvollen Adagio in a-moll, in dem die Oboe und danach die Streicher schwelgend orientalisch anmutende Klänge produzieren – eventuell ein Tribut an den zu der damaligen Zeit in Frankreich gerade sehr beliebten Exotismus, den Bizet unter anderem 1863 in seiner Oper Die Perlenfischer wieder aufgreifen sollte.
Der dritte Satz, betitelt mit Allegro vivace – Trio ist ein Scherzo, in dessen Trio eine Art Musette erklingt – die Bässe spielen lang ausgehaltene Töne, die an traditionell verwendete Sackpfeifen mit ihren charakteristischen Bordunbässen erinnern. Der vierte Satz enthält ein unwiderstehlich eingängig dahineilendes Perpetuum mobile-Thema und lässt die Sinfonie sehr schwungvoll enden.

Ich mag dieses Werk ganz besonders gern – es ist wunderbar geeignet, um gute Laune zu bekommen:
Alles wirkt so heiter und unwiderstehlich unbeschwert – die jugendliche Frische und der zuversichtliche, optimistische Tonfall springen den Hörer geradezu an und reißen ihn unwillkürlich mit! ;-)

Wenn man bedenkt, dass –gerade in Deutschland und Österreich- in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die Gattung Sinfonie eher ein irgendwie bedeutungsschwangerer, gewichtig-mächtiger Nimbus umwehte, dann ist es schön, mit diesem Werk ein Gegenbeispiel aus derselben Epoche aufzeigen zu können, das ohne Weiteres in seiner unterhaltsamen Unbefangenheit (ohne sich in Banalitäten zu verlieren) aus der Zeit der Wiener Klassik stammen könnte – es war also durchaus möglich, auch Mitte des 19. Jahrhunderts solche Sinfonien zu komponieren – allerdings war es hierbei dann wohl eher von Vorteil, kein deutscher Komponist zu sein und sich einer von Beethoven herrührenden imaginären „Verantwortungslast“ ausgesetzt zu sehen (man denke nur an Brahms und seine jahrelangen „sinfonischen Hemmungen“!) ...

Kein Wunder, dass sich Bizets Sinfonie heutzutage einer zaghaften, aber durchaus vorhandenen Beliebtheit erfreut, nicht zuletzt auch bei Musikern, die das dankbare Stück immer wieder gern spielen.

Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass Bizet selber dieses Werk zu seinen Lebzeiten nie gehört hat – das Manuskript wanderte unaufgeführt in die Bibliothek des Pariser Conservatoire und niemand schenkte ihm weiter Beachtung, bis 1935 der britische Musikhistoriker D. C. Parker (er hatte 1926 eine Bizet-Biographie verfasst) den Dirigenten Felix von Weingartner zur Uraufführung der 80 Jahre zuvor entstandenen Sinfonie bewegen konnte:
So wurde das Werk am 26.06.1935 in Basel unter Weingartners Leitung dann auch endlich uraufgeführt!

Ein Schicksal, das übrigens mehrere Werke Bizets teilen – viel zu lange verstaubten viele von ihnen vergessen in den Archiven...
Auch wenn die Sinfonie in C-Dur ihren etwas abwertenden Ruf als „Jugendwerk“ und den Charakter der bloßen „Unterhaltungssymphonik“ nie ganz losgeworden ist, hat mittlerweile doch zumindest sie (als einziges der hier heute vorgestellten Werke) einen gewissen Repertoire-Charakter inne. Qualität setzt sich eben irgendwann durch!

Das zweite Werk Bizets aus dem Jahr 1855, das ich vorstellen möchte, ist seine sogenannte Erste Ouvertüre (Première Ouvertüre), ein ungefähr 14-mintüiges Werk, das ebenfalls zu Bizets Lebzeiten unaufgeführt blieb und erst im Jahre 1938 (anlässlich der Gedenkfeiern zu seinem 100. Geburtstag uraufgeführt wurde!
Auch dieses effektvolle Stück scheint bei der Komposition eine reine Übung für Bizet gewesen zu sein.
Vom Aufbau her orientiert sich die Ouvertüre an den damals anscheinend noch immer sehr beliebten Ouvertüren Rossinis, Boieldieus oder Aubers. Gerade Rossinis Ouvertüre zu seiner 1829 in Paris uraufgeführten letzten Oper Wilhelm Tell scheint für Bizet konkretes Vorbild gewesen zu sein:
Wie sie ist auch seine Ouvertüre 4-teilig; einer langsameren Einleitung folgt ein stark bewegter Teil, der wie die Tell-Ouvertüre durchaus einen Sturm schildern könnte.
Dann folgt ein sehr lyrisches, vom Tonfall an italienische Opern erinnerndes Andante espressivo, dem – eingeleitet mit einer Fanfare, die mit der entsprechenden Stelle in der Tell-Ouvertüre fast identisch ist- ein abschließender schneller Teil folgt.
Während bei Rossini hier nun das weltberühmt gewordene „Tell-Thema“ folgt, lässt Bizet es nicht ganz so geschwind angehen, sondern verwendet unter anderem von den Holzbläsern dominierte Phrasen, die eher an Passagen aus anderen Rossini-Ouvertüren (wie z. B. La Cenerentola oder Der Barbier von Sevilla) erinnern. Jedenfalls stand meiner Meinung nach Rossini eindeutig Pate für diese schöne Ouvertüre, die im Gegensatz zur oben erwähnten C-Dur-Sinfonie allerdings nahezu unbekannt geblieben ist.

Beide Stücke sind auf der DECCA-Doppel-CD mit dem Orchestre symphonique de Montréal unter der Leitung von Charles Dutoit zu hören.
Die Einspielung aus dem Jahr 1995 enthält außerdem noch die beiden Carmen- und Arlésienne-Suiten, die Ouverture dramatique "Patrie" op. 19, sowie die Scènes bohémiennes aus der Oper La Jolie Fille de Perth und ist somit ein idealer Einstieg in die Orchestermusik Bizets, zumal mit den beiden Arlésienne-Suiten (eine Auswahl von Musik, die Bizet zu dem gleichnamigen Schauspiel schrieb) natürlich auch die populärsten Orchesterwerke Bizet vertreten sind (obwohl die zweite Suite von Bizets Freund Ernest Guiraud nach dem frühen Tod des Komponisten zusammengestellt und arrangiert worden ist) – Musik, die mich immer spontan (und zu jeder Jahreszeit) gedanklich direkt in den mediterranen Sommer versetzt!

Ein weiteres Jugendwerk Bizets (jetzt kommt zur Abwechslung aber auch mal ein Bühnenwerk) ist die im April 1857 uraufgeführte Operette Le Docteur Miracle, deren Entstehungsgeschichte darüber hinaus sehr interessant ist:

Der Kölner Jacques Offenbach (1819-80) hatte sich Mitte der 1850er Jahre in Paris mit seinen erfolgreichen, oft sehr frechen und gesellschaftskritischen Opéras-bouffons oder auch Bouffonneries musicales einen Namen gemacht und gründete 1855 -nunmehr ganz etabliert- an den Champs-Élysées sein eigenes Theater, die Bouffes-Parisiens .

Instinktsicher hatte Offenbach erkannt, dass die traditionelle französische Opéra comique, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts sehr erfolgreich und beliebt gewesen war, in ihrer althergebrachten Form nicht mehr ganz zeitgemäß war und hatte daraufhin die frechen und parodistischen sogenannten Opéras-bouffons kreiert, aus denen sich dann relativ schnell die Operette als neue Gattung entwickeln sollte. Der Publikumserfolg gab ihm Recht!

Es spricht für Offenbach, dass er sein Theater jungen französischen Komponisten zur Verfügung stellen wollte, um die Nachwuchs-Kollegen zu fördern, aber auch im eigenen Interesse die Bekanntheit der jungen Gattung der Opérette zu fördern.

Er kam auf die Idee, einen Wettbewerb auszuschreiben:
Das Libretto mit dem Titel Le Docteur Miracle von Léon Battu und Ludovic Halévy (übrigens ein Neffe des gleichnamigen Komponisten und Bizet-Lehrers) sollte vertont werden - im Stück kommen 4 handelnde Personen vor; das Werk sollte ungefähr dreiviertel Stunden dauern; das zur Verfügung stehende Orchester bestand aus 30 Musikern.

"Das Theater, das ich Ihnen öffne, verlangt nur drei Dinge von Ihnen: Geschicklichkeit, Kenntnisse und Einfälle" schrieb Offenbach in seinem Aufruf im Le Figaro am 17.07.1856.
Er traf damit ins Schwarze: Knapp 80 (!) Komponisten nahmen an dem Wettbewerb teil, dem zusätzlich zur Aufführungsoption noch ein Preisgeld in Höhe von 1.200 Francs beigegeben wurde.

In der hochkarätigen Jury saßen berühmte Männer der Pariser Musik- und Theaterszene, neben Offenbach waren dies die Herren Auber, Gounod, der Erfolgslibrettist Eugène Scribe und der Komponist Ambroise Thomas.

Nach einer ersten Vorauswahl bekamen dann 12 Kandidaten das Libretto zur Vertonung und am Ende konnte sich die Jury nicht zwischen zwei Beiträgen entscheiden und teilte den Preis auf zwischen dem 18-jährigen Bizet und seinem 6 Jahre älteren Studienkollegen Alexandre Charles Lecocq ( 1832-1918), der später dann tatsächlich ein populärer Operettenkomponist werden sollte.

Das Los entschied, dass Lecocqs Version am 08.04.1857, Bizets Operette am 09.04.1857 uraufgeführt werden sollte.
Die musikalischen Rahmenbedingungen in Offenbachs Theater waren natürlich exzellent und so wurde aus Offenbachs genialer Marketing-Idee ein voller Erfolg. Es folgten je weitere 11 Vorstellungen, dann gerieten beide Werke in Vergessenheit, bis man zumindest Bizets Werk dann im Jahr 1951 erstmals wieder aufführte!

Bizets Version des Docteur Miracle wurde von der Kritik sogar als origineller und witziger gelobt, Lecocq fand sie wohl auch nicht übel, "aber in manchen Teilen ein bisschen zu schwerfällig..." - naja

Bizets Operette besteht aus einer Ouvertüre und sieben Musiknummern und gerade die Ouvertüre schließt quasi nahtlos an den quirligen Finalsatz der C-Dur Sinfonie an: Sprühende Lebensfreude pur!
Der Einakter ist von der Handlung wohl bewusst einfach gehalten und beinhaltet die klassische Komödiensituation: Reicher Vater hat hübsche Tochter, die wiederum einen Liebhaber hat, der dem gestrengen Herrn Papa nicht zusagt. Mit einer List der Verliebten wird dieser jedoch am Ende zur Einwilligung in die Liaison gebracht.

Offenbach hatte ja selbst mit kleinen Einaktern seine Karriere in Paris begonnen und hielt diese übersichtliche Form anscheinend für den idealen Einstieg in das Genre.
Bizet findet auch hier schon seinen ganz charakteristischen Tonfall und komponiert beschwingt und komödiantisch, inspiriert von der italienischen Opera buffa. Er zeigt sich erneut als genialer Melodienerfinder und geschickter Instrumentator.
In der Arie der Tochter Laurette, eine Romance, in der sie ihre unglücklich-hoffnungslose Liebessituation zu Beginn des Stücks beklagt, kann er neben den burlesken auch gefühlvoll-schwärmerische Töne anbringen.

Der Höhepunkt des Werks ist eindeutig das recht bekannte gewordene Omelett-Quartett, in dem der später als rettender Wunderdoktor verkleidete Liebhaber dem gestrengen Herrn Papa ein (vermeintlich vergiftetes) Omelett zubereitet. Ein herrlich groteskes, musico-gastronomisches Stück, in dem Zeilen fallen wie
Voici l'omelette!
Elle se compose,
Notez bien la chose,
De beurre et puis d'oeufs
Bien battus entre eux!
Wo hat man schon mal die Gelegenheit, ein komponiertes Kochrezept zu hören… :-)
Auch hier bewundere ich wieder Bizets kompositorische Raffinesse und Treffsicherheit - er hatte zu dem Zeitpunkt bis auf ein lediglich im Freundeskreis (und nur mit Klavierbegleitung) aufgeführtes "Bühnenwerk" namens Le Maison du Docteur im Jahr 1855 komponiert (dem Titel nach eine Opéra comique in einem Akt) und verfügt doch quasi aus dem Stand über sämtliche technischen und dramaturgischen Kniffe, die für die Komposition eines solchen Werks notwendig sind!

Er hatte allerdings jede Menge theoretischer Kenntnisse im Opernsektor gesammelt, z. B. durch die Erstellung von Klavierauszügen - aber was ist schon Theorie gegen ausübende Praxis, wenn es "drauf ankommt"?

Ich hatte das Glück, den Docteur Miracle vor einigen Jahren in der Reihe "Oper am Klavier" an der Bonner Oper erleben zu dürfen.
Parallel zu einer Neuinszenierung der Carmen wurde hier eine konzertante Aufführung (jedoch "gewürzt" mit einiger szenisch-gestischer Interaktion der Sänger, die sehr komisch war) im Foyer des Opernhauses dargeboten. Ich war sofort hellauf begeistert!

Von diesem wieder einmal leider relativ unbekannten Werk gibt es begreiflicherweise nicht allzu viele Einspielungen auf dem Tonträgermarkt.
Die erst in diesem Jahr neu erschienene Aufnahme mit dem Orchestre Lyrique de Région Avignon Provence und einem jungen, rein französischen Ensemble unter der Leitung von Samuel Jean kann ich aufgrund ihrer Aktualität daher besonders empfehlen (nicht zuletzt auch deswegen, weil hier die gesamten Dialoge dieser Operette löblicherweise gleich mit aufgenommen wurden)!

Man sieht also an diesen nur wenigen Beispielen: Georges Bizet ist weit mehr als nur der Komponist der Carmen!

Mittwoch, 9. Oktober 2013

Giuseppe Verdi - 200. Geburtstag

Nach dem 200. Geburtstag von Richard Wagner steht heute nun der 200. Geburtstag von Giuseppe Verdi an – es ist und bleibt ein kurioser Zufall der Musikgeschichte, dass die beiden berühmtesten und einflussreichsten Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts im selben Jahr geboren wurden!

Heute vor genau 200 Jahren (manchen Quellen zufolge auch erst am 10. Oktober – aber was macht das letztlich für einen Unterschied?) wurde Verdi im Dorf Le Roncole im Herzogtum Parma geboren. Er starb im (besonders für einen Komponisten) hohen Alter von 87 Jahren am 27. Januar 1901 in Mailand und überlebte Wagner damit immerhin um fast 18 (!) Jahre und schuf im hohen Alter mit Otello und Falstaff auch noch zwei seiner bedeutendsten Meisterwerke!

So schwer ich mich mit Wagner und seinen Kompositionen tue, so sehr flog mir schon ganz früh Verdis Musik zu - Aida und La Traviata gehören (neben Mozarts Klassikern) zu den ersten Opern, die ich kennen und lieben gelernt habe. Eine Faszination, die mich seitdem nicht mehr losgelassen hat! An dem verbreiteten Diktum, dass man sich als Opernfreund entweder für Wagner oder für Verdi entscheiden muss (ob nun bewusst oder unbewusst) und es sich hierbei um zwei nahezu unvereinbare musikalische Welten handelt, scheint also – zumindest aus meiner Perspektive - durchaus was dran zu sein…

Zugegeben: Wenn man sich Wagners bewegte Biographie ansieht, ist Verdis Leben im Vergleich dazu zwar auch ereignisreich aber bei Weitem nicht so dramatisch, ja opernhaft verlaufen (vom Tod seiner beiden Kinder und seiner ersten Ehefrau innerhalb kürzester Zeit zu Beginn seiner Karriere vielleicht mal abgesehen) wie das seines sächsischen Kollegen. Der Vergleich zwischen diesen beiden bedeutenden Künstlern reizt eben nicht nur in musikalischer Hinsicht…

Es ist ein weiterer merkwürdiger Umstand, dass Verdi und Wagner sich nie persönlich begegnet sind – genau wie die beiden großen Barockkomponisten Bach und Händel, die ebenfalls in ein und demselben Jahr (nämlich 1685) geboren wurden. Was wäre wohl gewesen, wenn sich diese beiden Künstler mal getroffen hätten?

Wagner hat sich wohl das ein oder andere Mal etwas geringschätzig gegenüber Verdis Musik geäußert, wenn ich das richtig in Erinnerung habe (damit aber sicherlich eher die zeitgenössische italienische Oper im Allgemeinen gemeint, deren prominentester Vertreter Verdi nun einmal war), von Verdi hingegen ist überliefert, dass er nach dem Tod Wagners das Ableben dieses großen Künstlers bedauert hat und sich wohl auch mit Partituren seines Kollegen beschäftigt hat – die beiden waren aber wohl einfach zu verschieden in ihren Ansichten und in ihren Schaffensprozessen, da gab es wahrscheinlich zu wenig gemeinsame Schnittmengen, um ein ernsthaftes Interesse an einer gegenseitigen Kontaktaufnahme zu haben, vermute ich mal…

Am Menschen Verdi finde ich seine Beharrlichkeit, sein stetes Bemühen um das Erzielen des optimalen künstlerischen Ergebnisses (auch um den Preis des Scheiterns eines Projektes) sehr bewundernswert – und da gab es durchaus auch unkonventionelle Ideen, die Verdi vehement umzusetzen versuchte, zum Beispiel seine Vorstellung von der Art und Weise wie die Sängerin der Lady Macbeth ihre Rolle gestalten sollte: Mit dem damals üblichen Belcanto hatte das nichts mehr zu tun…!

Verdi muss das gewesen sein, was man als „alten Grantler“ bezeichnet: Immer mit irgendwas unzufrieden und – auch in seinen zahllosen Briefen - vor sich hingrummelnd (und es gab viele Ärgernisse im Lauf seines langen Lebens, z. B. die ermüdenden und absurden Kämpfe mit den Zensurbehörden!) – aber er war im tiefsten Inneren auch ein großer Menschenfreund, dem es überdies auch noch vergönnt war, den von vielen seiner Landsleute damals lange ersehnten politischen Einigungsprozess Italiens nicht unmaßgeblich begleiten zu können.

Über Verdis Leben ist von berufeneren Leuten schon viel geschrieben worden, deshalb will ich mich hier auch gar nicht weiter mit biographischen Details befassen – mir geht es vorrangig um meine persönliche Beziehung zu Verdis Musik.

Was mich von Anfang an begeistert hat, ist Verdis unvergleichliches Talent, einprägsame Melodien und mitreißende dramatische Szenen zu erfinden und miteinander zu kombinieren. Dabei wird er jedoch nie trivial (oder besser: banal) – seine Kompositionen besitzen immer auch Tiefe und Anspruch. Dieses Talent hat er mit Mozart gemein, der ja ebenfalls zahllose wunderbare, oft verblüffend einfache Themen aus dem Ärmel zu schütteln verstand und gleichzeitig ein hohes künstlerisch-kompositorisches Niveau bewahrte.

Wie Mozart besitzt auch Verdi das Talent, seinen Opernfiguren eigenständige Charaktere zu verleihen und ihre Gefühle, Leidenschaften und Nöte den Zuhörern auf eindrückliche Weise nachvollziehbar nahezubringen. Das macht sicher einen Großteil seines anhaltenden Erfolges aus – von keinem anderen Komponisten dürften so viele Opern seit ihrer jeweiligen Uraufführung niemals aus den Spielplänen der Opernhäuser verschwunden sein!

Anders als Mozart, der ja so ziemlich in allen nur erdenklichen musikalischen Gattungen Geniestreiche vollbrachte, beschränkt sich Verdis Schaffen fast ausschließlich auf das Gebiet der Oper (das ist mal eine Tatsache, die er mit Wagner gemeinsam hat!) – es scheint fast schon schicksalhaft gewesen zu sein, dass ein italienischer Komponist im 19. Jahrhundert zuallererst und hauptsächlich im „Opernbusiness“ tätig zu sein hatte!
Ausnahmen (wie Paganini) bestätigen natürlich die Regel und auch Verdis andere Kompositionen (wie z. B. seine als Spätwerke entstandenen Quattro Pezzi Sacri) kann man als solche – immerhin sehr gelungenen Ausnahmen – betrachten. Seine 1873 entstandene Messa da Requiem würde ich großzügig und augenzwinkernd eher in den Kanon seiner Opernkompositionen einreihen wollen, die gern verwendete Bezeichnung dieser Totenmesse als „Oper im Kirchengewand“ ist sicher zutreffend, sagt aber auch sehr viel über Verdis Verständnis von Religion, Leben und Tod im Allgemeinen und eben auch seinen „weltlichen“ Opern aus (die er als eigenständige Kunstwerke mit ihren jeweiligen, tiefempfundenen Aussagen zu menschlichen Gefühlen, Freuden und Leiden immer sehr ernst nahm):
Dass es da offensichtlich keine hörbaren Unterschiede zwischen kirchlicher und weltlicher Musik gibt, zeigt für mich, dass Verdi in seinen Opern eigentlich dieselben elementaren, zeitlosen und damit alle Menschen betreffenden Geschichten erzählt, wie er es eben auch in seiner bedeutendsten geistlichen Komposition tut!

Wagners künstlerischer Überbau, die ganze Bedeutungsschwere, die er jeder seiner Opern beimisst, ist und bleibt mir irgendwie fremd. Bei Verdi (wie auch bei Mozart) gibt es das nicht – das hat mir den Zugang zu seiner Musik immer erleichtert und ihn mir gleich sehr sympathisch gemacht! Man ist immer sofort mittendrin im Geschehen, selbst wenn man den italienischen Gesangstext grade mal nicht versteht…

Und ja – ich mag es auch, wenn Verdi mal so richtig den Italiener raushängen lässt und es - dramatisch vielleicht nicht immer ganz nachvollziehbar – schön schmissig zur Sache geht! Wer kann sich schon der mitreißenden Wirkung z. B. der Chorszenen im Troubadour, im Nabucco oder Rigoletto entziehen? Oper kann, soll und darf ja auch mal Spaß machen oder etwa nicht?

Auch Verdis stilistische Entwicklung über die vielen Jahrzehnte seines künstlerischen Schaffens finde ich faszinierend:
Er beginnt seine Karriere in der Spätphase der von Komponisten wie Rossini und Bellini geprägten Belcanto-Oper. Während Bellini bereits tot ist und Rossini sich in den 1830er Jahren schon vom "Opernbusiness" zurückgezogen hat, liebäugelt der dritte große Belcanto-Meister Donizetti zu der Zeit schon mit der französischen Oper. Verdis frühe Opern orientieren sich natürlich an diesen Vorbildern (deren fließende Belcanto-Eleganz er aber nie erreichen wird), der junge Komponist bringt aber schon eine Menge eigener Elemente in seine Musik mit ein und befreit sich so allmählich von seinen Vorgängern, indem er seinen eigenen Stil findet und stetig verfeinert.
Er bleibt zeitlebens fremden Einflüssen und Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen und integriert immer wieder neue Ideen in seine Kompositionen - ähnlich wie Mozart, der auch alles für ihn Neue und Interessante in sich aufnahm und daraufhin auf seine ganz persönliche Art wieder in seine eigene Musik einfließen ließ. Bei Verdi ist beispielsweise der Einfluss der zeitgenössischen französischen Opern, wie sie z. B. Gounod oder Meyerbeer mit großem Erfolg komponierten, oft deutlich zu erkennen - und dies nicht nur in seinen explizit für Paris komponierten Werken. Es wirkt kurios und absurd, dass ihm gelegentlich von Kritikern vorgeworfen wurde, dass er sich dem Einfluss Wagners unterworfen habe und nun auch in dessen Stil komponieren würde!

Verdis letzte Opern sind dann bereits raffiniert durchkomponierte musikalische Großformen (bezeichnenderweise allerdings eben nicht in wagnerscher Machart!), die nichts, aber auch gar nichts mehr mit der traditionellen italienischen Nummernoper zu tun haben, die Verdi vorfand, als er seine Karriere als Opernkomponist begann!

Viel könnte ich hier noch schreiben – vielleicht noch eine Bemerkung zum bisherigen Verlauf des „Verdijahres“, das eben auch ein „Wagnerjahr“ ist:
Mein im Frühjahr bereits geäußerter Verdacht, dass die Tatsache, dass wir ja bereits 2001 ein solches Verdijahr hatten (100. Todestag) und das letzte Wagnerjahr (auch 100. Todestag) nun schon 30 Jahre zurückliegt, sich auch auf das mediale Interesse zu Gunsten des Bayreuther Meisters auswirkt, scheint sich zu bestätigen:

Die knapp, aber immer fundiert und gut lesbar verfassten Musikbände aus der Reihe C.H. BECK WISSEN kann ich nur empfehlen!
Zwar ist in den letzten Monaten noch der ein oder andere Buchtitel zu Verdi erschienen und es hat auch ein paar neue CDs gegeben (jedoch sieht es in Zeiten des kriselnden Tonträgermarktes bei Wagner und Verdi mit neuen Operngesamtaufnahmen leider eher mau aus!), aber irgendwie ist meinem Empfinden nach der große „Verdi-Hype“ ausgeblieben – um Wagner wurde (wahrscheinlich vor allem hierzulande) irgendwie mehr Theater gemacht (ob das in Italien anders aussieht?).
Eine originelle und naheliegende Idee: Anhand der chronologischen Reihe der einzelnen Opern (ein Zeitraum, der sich immerhin über mehr als 50 Jahre von 1839 bis 1893 erstreckt!) erzählt der Autor aus Verdis Leben, das sich schließlich während all dieser Jahre fast ausschließlich um diese Musikgattung drehte. Es gibt Inhaltsangaben, Kommentar und Interpretation der einzelnen Werke - ich fand es sehr unterhaltsam! 

Immerhin haben die prominentesten Sängerinnen und Sänger unserer Tage mittlerweile schon einige mal mehr, mal weniger originelle und gelungene Verdi-Arien-Recitals abgeliefert: Anna Netrebko, Rolando Villazón, Jonas Kaufmann, Plácido Domingo, etc. – alle sind sie mit von der Partie!
Man beachte die fotografische Hommage des Covers mit dem berühmten Komponistengemälde (s. oben!) - es ist faszinierend, dass Plácido Domingo (DER Über-Tenor der letzten Jahrzehnte!) jetzt eine Arien-CD mit Baritonpartien vorgelegt hat. So hat man diesen berühmten Sänger auch noch nicht gehört - auch wenn für mich seine Stimme nach wie vor eher tenoral als baritonal klingt. Zudem merkt man ihm an vielen Stellen deutlich eine gewisse Anstrengung an und auch reichlich Vibrato wird (freiwillig??) eingesetzt. Das ganze Projekt ist wohl eher als origineller Schlusspunkt denn als Aufbruch in ein neues Stimmfach gedacht...
Und natürlich dürfen die aus den Archiven wieder hervorgekramten älteren Aufnahmen zum Thema auch nicht fehlen, so dass auch bereits verstorbene Künstler wie z. B. Luciano Pavarotti im Reigen neu erschienener Verdi-CDs auftauchen!
Eine Aufnahme aus den späten 1970er Jahren: "Big P" hat hier einige selten zu hörende Arien aus dem Verdi-Repertoire eingesungen, ergänzt von ein paar orchestralen Raritäten wie z. B. der eigentlich für die italienische Premiere (1872) gedachten "Aida"-Ouvertüre, die aber vom Komponisten wieder zurückgezogen wurde. Interessantes Material! 
Naja – Verdi hat eh immer Konjunktur, da muss man nicht erst ein Jubiläumsjahr wie dieses abwarten! Überhaupt wären solche Jubiläen für Komponisten, die unverdienterweise seit Jahrzehnten in der 2 (oder 3.) Reihe ausharren viel wichtiger als für die allseits bekannten Lieblinge aller Klassikfans!