Sonntag, 30. Dezember 2012

Ein Abend in der Oper - "Artaserse" in Köln

Am 27. Dezember habe ich in der Kölner Oper am Dom die letzte von lediglich drei konzertanten Aufführungen der im Jahre 1730 in Rom uraufgeführten Oper Artaserse des hauptsächlich in Neapel tätig gewesenen Leonardo Vinci (ca. 1690-1730) besucht.

Eine klassische neapolitanische Opera seria wie diese bekommt man in Köln nicht gerade häufig im Theater geboten und da diese Operngattung, deren Blütezeit so ca. zwischen 1720 und 1760 anzusetzen wäre, zu meinen absoluten Favoriten gehört, war ich schon beim ersten Blick auf das Programm der Spielzeit 2012/ 13 der Kölner Oper fest entschlossen, mir diese Aufführung keinesfalls entgehen zu lassen!

Im Sommer dieses Jahres war aber noch nicht in Gänze abzusehen, was für ein ungewöhnliches Projekt hinter dieser Produktion steckt:

Sämtliche Rollen dieser Oper (das sind für Opere serie und damit auch in diesem Fall im Regelfall sechs – nämlich zwei weibliche und vier männliche) sollten nämlich ausschließlich mit Männern besetzt werden, ganz so, wie es zum Zeitpunkt der Uraufführung im sittenstrengen päpstlichen Rom auch zu geschehen hatte, da es „Frauenzimmern“ dort aus sittlichen Gründen verboten war, auf einer Bühne aufzutreten!

Aus heutiger Perspektive fällt es schwer, nachzuvollziehen, was denn nun daran so verwerflich sein soll, aber wenn man bedenkt, dass die Oper an sich vielerorts schon als ein wahrer Sündenpfuhl angesehen und in Rom zu Beginn des 18. Jahrhunderts sogar schon mal für mehrere Jahre komplett verboten war, dann muss man wohl dankbar dafür sein, dass dort um 1730 immerhin rein männlich besetzte Opernaufführungen wieder möglich waren!

Wenn man sich Berichte durchliest, wie es in den Opernhäusern der Barockzeit zuging, mag man oft gar nicht glauben, dass hier tatsächlich Opernaufführungen beschrieben werden. Heute gilt der Besuch einer Opernaufführung vielen Mitmenschen quasi als Inbegriff des Konservativen und der gepflegten Langeweile - damals hingegen wurde während (!) der Vorstellung gegessen, dem Glücksspiel gefrönt, man traf Bekannte, knüpfte neue gesellschaftliche und geschäftliche Kontakte, widmete sich amourösen Abenteuern, bejubelte lautstark die Akteure auf der Bühne (oder buhte sie ebenso lautstark aus), empfing Besuche in der eigenen, angemieteten (oder gar erworbenen) Loge und so ganz nebenbei hörte man dann auch gelegentlich mal der Musik zu, die gerade gespielt wurde…

Ich bin nicht sicher, ob ich als Opernfreund so etwas auf Dauer ertragen würde, aber zumindest einmal würde ich zu gerne mal einer solchen Vorstellung beiwohnen wollen, die im wahrsten Sinne der Wortes eine gesellschaftliche, höchst gesellige Veranstaltung darstellte (die Leute hatten ja schließlich kein Kino, kein Fernsehen, kein Fußballstadion oder sonstige Unterhaltungsangebote unserer Zeit) und erst danach auch ein musikalisch-kulturelles Ereignis war, um miterleben zu können, in welchem für heutige Verhältnisse absolut ungewöhnlichen Umfeld die großen Opern der Barockzeit ihre Premieren erlebten!

Dass man in diesem geschilderten Umfeld um das moralische Wohl und die sittliche Unversehrtheit der Damenwelt fürchtete, führte dann wohl auch zu dem oben erwähnten (zeitweiligen) Auftrittsverbot für Sängerinnen auf der Opernbühne – zumindest in Rom. Andernorts gab es natürlich auch damals schon gefeierte Primadonnen, wie z. B. Faustina Bordoni oder Francesca Cuzzoni, denen die Bewunderer scharenweise zu Füßen lagen.

Und dennoch bleibt diese Epoche vor allem als die Blütezeit der Kastraten in Erinnerung – auch sie ursprünglich eine aus der Not heraus geborene „Erfindung“, die man anwendete, um das Gesangsverbot von Frauen in Kirchenchören zu umgehen und dennoch dauerhaft über hohe Gesangsstimmen in geistlichen Kompositionen verfügen zu können (hohe Knabenstimmen gingen ja oft nach nur wenigen Jahren durch den einsetzenden Stimmbruch verloren).

Und da den großen Stars unter den Kastraten auf der Opernbühne sagenhafter Ruhm und Reichtum zuteil wurde, sahen viele verarmte Familien damals ihr Heil darin, mehr oder weniger stimmbegabte Söhne durch eine gefährliche, unter primitivsten Umständen durchgeführte (und noch dazu illegale) Operation verstümmeln zu lassen, um später eventuell an deren im Opernbusiness erzielten Reichtum partizipieren zu können – eine tragische und ausgesprochen unrühmliche Epoche in der Geschichte der Oper!

Jedenfalls standen somit im späten 17. und im 18. Jahrhundert genügend – zum Teil exzellent ausgebildete – Kastratensänger zur Verfügung, um beispielsweise in Rom das Verbot von Sängerinnen auf der Opernbühne dahingehend zu umgehen, dass man die weiblichen Rollen einfach mit jungen Sopranisten und Altisten besetzte, deren entsprechende Kostümierung für viele Zuschauer einen weiteren Reiz darstellte, sich mit der eh schon frivol-faszinierenden, die Logik der Geschlechtergrenzen sprengenden Opernwelt zu befassen – denn auch wenn „echte“ Damen mitspielten, ihre Liebhaber auf der Bühne wurden in der Regel sowieso von Kastraten verkörpert und sangen daher mindestens in derselben Stimmlage wie die Damen (wenn nicht sogar noch ein wenig höher)…
Für viele Kastraten (auch die nachmals weltberühmten wie beispielsweise Farinelli)war es auch andernorts nicht ungewöhnlich, ihre Bühnenlaufbahn zunächst als Darsteller von Frauenrollen zu beginnen, vom Publikum wurde dies, wie gesagt, durchaus goutiert.

Ein solches Projekt im Rahmen der historischen Aufführungspraxis wenigstens annähernd (also mit Countertenören statt Kastraten) in der heutigen Zeit auf die Beine stellen zu können, galt lange Zeit wohl als nicht realisierbar – man musste oft (und dies nicht nur bei Besetzung der Frauenrollen) auf Sängerinnen zurückgreifen, um die virtuosen Alt-, Mezzo- und Sopranpartien dieser Barockopern wenigstens einigermaßen adäquat besetzen zu können.

Wer die Szene in den letzten Jahren beobachtet hat, konnte jedoch feststellen, dass da mittlerweile eine ganze Reihe junger, talentierter und exzellent ausgebildeter Countertenöre vorhanden sind (dieses Stimmfach hat zwischenzeitlich wohl endlich seinen Exotenstatus verloren!), so dass jetzt anscheinend die Zeit reif war, die Umsetzung einer solchen, ausschließlich von Männern besetzten Barockoper nach historischem Vorbild anzugehen.

Das Ergebnis ist nun also der Artaserse von Leonardo Vinci (der bitte nicht mit seinem weitaus berühmteren malenden [Fast-] Namenvetter aus der Renaissance zu verwechseln ist!) – eine ausgesprochen erfreuliche Wahl von hohem Repertoirewert, wie ich finde - schließlich hätte man auch die Oper eines bekannteren Komponisten auswählen können.

Der früh (und wohl auch nicht unter ganz natürlichen Umständen) verstorbene Leonardo Vinci war einer der absoluten Superstars seiner Zeit: In der relativ kurzen Zeitspanne seines kompositorischen Wirkens (von 1719 bis 1730) hatte er zunächst in Neapel mit den dort ausgesprochen beliebten, in neapolitanischem Dialekt verfassten komischen Opern Furore gemacht – die Opera buffa war zu der Zeit noch eine ganz neue eigenständige Gattung – das Publikum liebte seine eingängigen, am Volksliedton orientierten Melodien.
So blieb es dann auch nicht aus, dass Vinci bald auch in der „Königsdisziplin“, der höfisch-repräsentativen Opera seria, große Erfolge verbuchen konnte, so dass auch Bühnen außerhalb Neapels (vor allem in Venedig und eben auch in Rom) Opernkompositionen bei ihm in Auftrag gaben – Neapel war in den 1720er und 1730er absolut tonangebend und stilbildend für die italienische Oper, so dass man auch von der neapolitanischen Oper spricht, wenn man sich auf Opern dieser Epoche bezieht, die in diesem Stil in der Folgezeit natürlich nicht nur in Neapel komponiert wurden, sondern in ganz Italien und (bis auf Frankreich) auch im Rest Europas heiß begehrt waren.

Leonardo Vinci hatte also das Glück, als Opernkomponist nicht nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort tätig gewesen zu sein, seine Bedeutung wurde zusätzlich auch noch dadurch gesteigert, dass der bedeutendste und berühmteste Operntextdichter dieser Epoche, Pietro Metastasio (1698-1782) ihm mehrere seiner maßstabsetzenden Libretti, die in den folgenden Jahrzehnten (!) von zahllosen Komponisten immer und immer wieder neu vertont wurden, als Erstem zur Komposition überließ, was schon eine gewaltige Ehre darstellte!

Mit dem Artaserse verhielt es sich im Jahr 1730 genauso: Diese letzte Oper Leonardo Vincis, die in der Karnevalssaison am 4. Februar 1730 im Rom uraufgeführt wurde, basierte auf dem gleichnamigen brandneuen Textbuch Metastasios und hatte eine der für Opern dieser Art damals übliche Intrigengeschichte zum Inhalt. In diesem Fall spielte die Handlung (die in den Operndieser Zeit fast ausschließlich in der Antike oder dem frühen Mittelalter angesiedelt war) am antiken persischen Hof des Königs Xerxes (Serse), bzw. dessen Sohn Artaxerxes (Artaserse) und die Figurenkonstellation von vier männlichen und zwei weiblichen Rollen entsprach der klassischen Vorgabe für ernste Opern dieser Zeit – eine Konstellation, die durch die absolut stilbildend wirkenden Textbücher Metastasios, die zahlreiche solcher ungeschriebener „Gesetzmäßigkeiten“ enthielten, quasi zum ungeschriebenen Gesetz werden sollte.

Selbst der junge Mozart hat noch einige Arientexte aus dem Artaserse vertont und darüber hinaus natürlich auch mehrere vollständige Libretti Metastasios zu abendfüllenden Opern gemacht – ich erinnere nur an La clemenza di Tito im letzten Jahr!

Artaserse wurde übrigens zum größten Erfolg der viel zu kurzen Laufbahn Leonardo Vincis und in der Folge dieses Triumphs dann auch andernorts aufgeführt (was für Barockopern eigentlich unüblich war und Artaserse zu der wohl erfolgreichsten Opern der damaligen Zeit machte!) – dort dann mit Sicherheit auch mit „echten“ Frauen in den beiden weiblichen Partien…
Viele Zeitgenossen (aber – und das ist im in diesem Punkt erstaunlich kurzlebigen 18. Jahrhundert fast noch bezeichnender – auch Musikliebhaber späterer Generationen) rühmten Vincis Kompositionskunst, seine perfekt an die Gesangsstimme angepasste, eingängige Melodieführung und auch seine neuartige Orchesterbehandlung, die weniger Wert auf raffinierte Behandlung einzelner Stimmen oder Instrumente legte, wie es bislang der Fall gewesen war, sondern verstärkt auf Effekte des Orchesters als Ganzes legte, indem zum Beispiel der Streicherapparat einheitlich und flächig geführt wurde, um hier eine möglichst packende und mitreißende Klangstruktur zu erzielen. Die Hinzufügung einzelner Bläserstimmen (wie Oboen, Hörner oder Trompeten) diente da nur noch als gelegentlicher „Farbklecks“ oder zur Verstärkung bestimmter Effekte. Das alles war damals absolut neu und wirkte natürlich entsprechend stilbildend auf die komponierenden Kollegen.

In dem Zusammenhang war es beispielsweise für mich interessant, festzustellen, wie viel sich der in der Nachfolge des früh verstorbenen Leonardo Vincis europaweit berühmt gewordene Johann Adolf Hasse von diesem abgeschaut und angeeignet hat!
Während man in den vergangenen Jahren Musik von Hasse immer wieder – nicht zuletzt auch auf CD – anhören und für sich entdecken konnte, führten die Kompositionen Vincis bislang ein absolutes Schattendasein (warum auch immer?) und sein Name war mir bislang eigentlich nur in dem Zusammenhang bekannt, dass er eben – wie erwähnt – in mehreren Fällen der erste in einer schier endlosen Reihe (bekannter wie heute unbekannter) Komponisten war, der die Textbücher Pietro Metastasios vertont hat.

Umso erfreulicher, dass man mit dieser spektakulären Neuproduktion des Artaserse einen schlagkräftigen Beweis angetreten hat, dass die Musik Leonardo Vincis diese schmähliche Nichtbeachtung absolut nicht verdient hat und man mit Sicherheit in den nächsten Jahren noch weitere Werke von diesem Komponisten wird hören können – das würde ich mir jedenfalls wünschen!

„Spektakulär“ kann man die aktuelle Neuproduktion des Artaserse vor allem deshalb nennen, weil es hierfür tatsächlich gelungen ist, quasi die „Crème de la crème“ der aktuellen Countertenor-Szene (die ja nun weiß Gott sooo groß nun auch wieder nicht ist!) zu verpflichten.
Die Besetzungsliste vom vergangenen Donnerstag liest sich dann auch entsprechend wie ein „Who is who“:

Artaserse: Philippe Jaroussky
Mandane: Max Emanuel Cencic
Arbace: Franco Fagioli
Artabano: Juan Sancho
Semira: Valer Barna-Sabadus
Megabise: Yuriy Mynenko
Concerto Köln
Leitung: Gianluca Capuano


Diese absolut ungewöhnliche Besetzung führte zu der kuriosen Situation, dass der Tenor Juan Sancho in diesem Ensemble die tiefste Partie zu singen hatte und – für einen Tenor sicherlich eine sehr ungewöhnliche Erfahrung – auch noch die Rolle des Bösewichts übernehmen musste…! Er schlug sich zwar wirklich wacker mit seiner flexiblen, schlanken und klangschönen Stimme, konnte es aber dennoch nicht verhindern, dass seine Countertenor-Kollegen ihm die Schau stahlen, die Faszination ihrer hohen Gesangsstimmen war einfach zu groß.

Für den erkrankten Dirigenten Diego Fasolis war kurzfristig der Cembalist des Concerto Köln, Gianluca Capuano, eingesprungen, der seine Sache aber mindestens ebenso gut machte und sogar passagenweise die Cembalostimme in den Orchesterstücken – ergänzend zu seinem Kollegen, der ansonsten das zweite Cembalo bediente – mitspielte, wohl auch, um den Gesamtklang des nicht allzu großen Orchesters noch zu verstärken, was aber eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre. Ungewöhnlich fand ich, dass der Dirigent sein Cembalo im Stehen bespielte, das habe ich so auch noch nicht gesehen – da das Instrument auf dem leicht erhöhten Orchesterpodest vor ihm stand, hatte Signor Capuano die Tastatur unmittelbar in passender Höhe direkt griffbereit vor sich.

Das Orchester bestand – historischen Vorbildern folgend – lediglich aus je vier ersten und zweiten Violinen, je zwei Bratschen und Celli sowie einem Kontrabass, einem Fagott, einer Laute (Theorbe) und den beiden schon erwähnten Cembali. Dazu kamen neben einem Paar Kesselpauken noch je zwei Oboen, Hörner und Trompeten, die aber allesamt über weite Strecken der Partitur zu pausieren hatten.
Die Instrumente waren – soweit sich das erkennen ließ – nach historischen Vorbildern gefertigt, was zum Beispiel bedeutete, dass die Hörner und Trompeten keine Ventile besaßen.
Der Orchesterklang wirkte – vielleicht auch durch die raffinierte Kompositionsweise Vincis bedingt – ausgesprochen füllig und dennoch transparent und bekam durch das schwungvolle Dirigat gerade in den schnellen Nummern eine sehr akzentuierte, knackig-rhythmische Komponente, die nicht nur die Sänger wunderbar unterstützte sondern auch das Publikum immer wieder mitriss! (Da soll noch einer behaupten, Barockmusik hätte etwas antiquiert-akademisches!)

Meine anfänglichen Bedenken in Bezug auf die nicht ganz so optimale Akustik im ehemaligen Musical Dome erwiesen sich zum Glück als unbegründet: Da es sich um eine konzertante Aufführung handelte, musste das Orchester nicht in den meiner Meinung nach viel zu tief geratenen Orchestergraben verbannt werden, von wo ja schon das wesentlich größer besetzte Orchester der Macht des Schicksals Schwierigkeiten hatte, sich klanglich durchzusetzen – das Barockorchester hätte dort unten komplett auf verlorenem Posten gespielt!
In den Rezensionen zu der in dieser Ausweichspielstätte zwischenzeitlich (ebenfalls konzertant) aufgeführten Oper Fidelio und dem aktuell dort noch laufenden Musical My Fair Lady wurden ebenfalls kritische Bemerkungen zur dortigen Akustik gemacht und ich war wirklich froh, dass neben dem Orchester auch die unmittelbar davor am Bühnenrand positionierten Solisten problemlos vernehmbar waren und nicht gegen widrige akustische Verhältnisse anzukämpfen hatten!

Alle fünf Countertenöre waren wirklich grandios – angefangen bei dem jungen Ukrainer Yuriy Mynenko, dem sicherlich bislang noch unbekanntesten Sänger in dieser prominenten Riege, von dem man in Zukunft sicher noch einiges zu hören bekommen wird, genauso wie von dem gebürtigen Rumänen Valer Barna-Sabadus, der eine eindrücklich-gefühlvolle und sehr glaubwürdige Interpretation der Frauenrolle der Semira ablieferte.

Die beiden bekanntesten Sänger dieser Aufführung (die auch als prominente Zugpferde für das Marketing herhalten mussten) waren der ursprünglich aus Kroatien stammende Max Emanuel Cencic in der Frauenrolle der Mandane und dann natürlich vor allem der Franzose Philippe Jaroussky in der Titelrolle, die sich routiniert in das Ensemble einfügten und von denen ich persönlich den Eindruck hatte, dass sie am mühelosesten diese unwirklich hohen Gesangstöne zu produzieren imstande waren – das klang alles auch an den schwierigsten Stellen derart selbstverständlich, dass man immer wieder staunen konnte über die stupende Technik, die hinter diesem Gesang steckt! Jaroussky hatte ich zuletzt vor anderthalb Jahren in der Kölner Philharmonie mit seinem für einen Countertenor etwas ungewöhnlichen Konzertprogramm mit französischen Kunstliedern aus dem Fin de siècle gehört. Es war interessant, ihn jetzt einmal in seinem „natürlichen“ musikalischen Umfeld in Aktion erleben zu dürfen.

Obwohl Max Emanuel Cencic die Rolle der Primadonna übernommen hatte, gehörte die Krone des Abends jedoch definitiv dem Argentinier Franco Fagioli, der mir vor zwei Jahren schon als Nero in der Krönung der Poppea so gut gefallen hatte!
Ihm fiel die ausgesprochen dankbare Rolle des Arbace, also des Primo uomo (dem männlichen Gegenstück zur Primadonna) zu, eine Rolle, die bei der Uraufführung dem berühmten Kastraten Giovanni Carestini in die geläufige Gurgel komponiert worden war. Somit konnte er nicht nur die meisten, sondern auch einige der dankbarsten und schönsten Arien dieser Oper für sich verbuchen. Ihm sah man mitunter zwar an, dass Singen auch körperlich eine ausgesprochen anstrengende Sache ist, aber was man von ihm zu hören bekam, überzeugte wohl jeden davon, dass sich diese Anstrengung lohnt – ganz große Kunst, nicht nur in den zahlreichen atemberaubenden Trillern und Verzierungen, die am Ende der Arien in den hier vorgesehenen Kadenzen improvisiert werden müssen!
Arbaces berühmte Arie am Ende des ersten Aktes “Vo solcando un mar crudele“, die noch Jahrzehnte später von Komponistenkollegen als perfektes Beispiel für die ideale Kombination von optimal geführter Gesangsstimme und Instrumentalbegleitung gelobt wurde, hat mir denn neben dem einzigen (!) Duett dieser Oper im dritten Akt (Arbace - Mandane) auch mit am besten gefallen, wobei es bei den zahlreichen abwechslungsreichen Höhepunkten, die hier von allen Beteiligten wie an einer kostbaren Perlenschnur aufgereiht dargeboten wurden, schwerfällt, einen eindeutigen Favoriten zu finden!

Eine weitere Besonderheit dieser an sich ja schon bemerkenswerten Opernproduktion war außerdem die Tatsache, dass im Vorfeld eine Gesamtaufnahme des Artaserse auf CD erschienen war, die bis auf die Besetzung der Rolle des Artabano mit dem Tenor Daniel Behle genau dem Ensemble entsprach, das nun ein gutes Jahr nach der Aufnahme (die im September 2011 in Köln im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks und damit nur wenige hundert Meter von meinem Zuhause stattgefunden hatte!) zunächst in Nancy mit einer szenischen und jetzt in Köln mit drei konzertanten Aufführungen diese Opernrarität live präsentierte.

Aus dem Bereich der Popmusik kennt man so etwas ja: Eine Band nimmt ein neues Album auf und geht dann mit den neuen Songs auf Tour.
Im Bereich der Klassik kannte ich so etwas bislang höchstens in der Reihenfolge, dass ein Konzert oder eine Opernaufführung auf CD oder DVD aufgezeichnet wurde und einige Zeit danach dann im Handel erhältlich ist. Dass hier nun quasi der umgekehrte Weg eingeschlagen wurde und man so jetzt auch am vergangenen Donnerstag gleich die zugehörige CD zur soeben gehörten Opernaufführung noch im Foyer erwerben (und sich im Rahmen einer Autogrammstunde von allen Solisten auch noch signieren lassen) konnte, habe ich in der Form auch noch nicht erlebt; allenfalls, wenn es hierbei mal um einen Einzelkünstler ging, aber nicht gleich um ein gesamtes Opernensemble nebst Orchester und Dirigent!

Etwas merkwürdig fand ich die Tatsache, dass die erwähnte szenische Produktion aus Nancy mit – den Fotos nach zu urteilen, die ich in der Presse und im Programmheft gesehen hatte - sehr aufwendigen barocken Kostümen nicht mit nach Köln gebracht worden war; eine Bühne hätte hier vor Ort ja zur Verfügung gestanden?! Aber ich sehe das mal positiv: Auf den Fotos waren die grellweiß geschminkten, in den üppigen Federn und weiten Gewändern ihrer Kostüme fast versinkenden Sänger kaum noch zu erkennen.
In Köln trugen hingegen alle Sänger, die Herrenrollen zu spielen hatten, ganz normale schwarze Anzüge (wie für eine konzertante Aufführung üblich) und die beiden Darsteller der Frauenrollen waren – vielleicht auch um dem Publikum die Identifikation ihrer Rollen zu erleichtern – zusätzlich in orientalische anmutende Mäntel (oder Kaftane) mit bunten Ornamenten bzw. funkelnden Strass-Steinen gehüllt. Das war aber auch schon das Extravaganteste, was man an diesem Abend in optischer Hinsicht geboten bekam.
So gesehen war die puristische Version, die wir in Köln geboten bekamen, dann vielleicht doch die bessere Lösung, denn man konnte alle Künstler so viel besser bei ihren Vorträgen beobachten und außer den überbordenden Kostümen dürfte es in Nancy auch nicht viel mehr zu sehen gegeben haben, denn Barockopern wie diese sind meist recht handlungsarm (kein Wunder, bei den sperrigen Kostümen, die man damals getragen hat!) und auch in dieser konzertanten Version spielten sich die Solisten während der Rezitativszenen an, so dass man hier eigentlich nicht viel szenische Aktion vermisste. Etwas gewöhnungsbedürftig fand ich allein die Regelung, dass alle Darsteller, die bei Beginn einer Arie sonst untätig auf der Bühne herumgestanden hätten, diese dann regelmäßig verließen, so dass die Bühne dann dem mit der Arie bedachten Solisten allein gehörte, was den konzertanten Charakter dieser Aufführung natürlich verstärkte. Dadurch, dass in der Regel jedoch die unmittelbar zuvor abgegangenen Gesprächspartner nach Beendigung der Arie erneut auf der Bühne zu stehen haben (weil sie diese ja eigentlich in einer szenischen Produktion auch nicht verlassen haben), um die Handlung an dieser Stelle weiterzuführen, entstand an diesen Stellen dann ein zum Teil etwas unnötiges Hin-und Hergerenne – wie hat man das Problem denn in Nancy gelöst?

Etwas irritierend war außerdem noch die Tatsache, dass das recht aufwendige Bühnenbild der derzeit im Musical Dome laufenden Produktion von My Fair Lady an beiden Seiten der Bühne unverändert aufgebaut war:
So sah man rechts die klassizistischen Säulen von Covent Garden, passenderweise nebst einer überlebensgroßen Statue der Galathea davor (schließlich basiert My Fair Lady ja auf der antiken Pygmalion-Sage), was als Kulisse für eine Barockoper ja noch ganz gut passte, wenn nicht die linke Seite der Bühne von einer heruntergekommenen Fassade aus einem Londoner Arbeiterviertel dominiert worden wäre! Durch die Schwingtüren der sich dort befindlichen Eck-Spelunke namens „King George“ traten dann auch regelmäßig die Solisten unserer Oper auf, so wie es wahrscheinlich Müllkutscher Alfred Doolittle im Musical auch tut – was dem Ganzen eine unfreiwillig bizarre bis komische Note verlieh (das muss auch in der schon erwähnten konzertanten Produktion von Fidelio so gehandhabt worden sein, wie ich einer Rezension entnehmen konnte) – hätte man das nicht vielleicht durch einen hier dezent angebrachten Vorhang irgendwie ein bisschen kaschieren können…?

Die heute üblichen deutschsprachigen Obertitel gab es auch nicht, dafür hätte sich der Aufwand für die lediglich drei Gastspiele wahrscheinlich einfach nicht gelohnt. So enthielt das Programmheft zwar dankenswerterweise den kompletten italienischen Operntext nebst deutscher Übersetzung, aber im dunklen Zuschauerraum nutzte das während der Vorstellung auch niemandem. Aber bei dieser Aufführung war die eh nicht so entscheidende Handlung sowieso nicht wichtig – hier zählte wirklich allein nur die Musik!

Schade, dass für die Aufführung ca. ein Viertel der Oper gestrichen worden war, neben einigen Arien fielen vor allem in den Rezitativen einige längere Abschnitte weg, aber das, was an dem Abend geboten wurde, war ja eigentlich schon mehr als ausreichend – wer mag, der kann sich die ungekürzte Oper ja auf der sehr gelungenen CD-Einspielung, die aber der Spontaneität und mitreißenden Unmittelbarkeit der Live-Aufführung nicht auch nur annähernd nahekommt, anhören.

Naja – aber das ist jetzt wirklich Mäkeln auf hohem Niveau!
Der Abend, der (inklusive einer ca. 20-minütigen Pause) immerhin von 19:30 Uhr bis 22:50 Uhr dauerte, war so kurzweilig und musikalisch so begeisternd, dass er wie im Fluge verging!

Die Vorstellung war restlos ausverkauft und das dürfte auch für die beiden vorangegangenen Abende am 17. und 19.12. gegolten haben) und somit ein überzeugendes Plädoyer für diese wirklich gelungene Ausgrabung einer zu Unrecht vergessenen und zu ihrer Zeit verdientermaßen hochgerühmten Oper eines lange vernachlässigten Komponisten! Das hätte ich ehrlich gesagt bei einem so unbekannten Werk nicht erwartet, aber es spricht für das Interesse, das das Publikum mittlerweile dieser Musik und der Kunst der Countertenöre entgegenbringt – schön, dass sich das Risiko für die Veranstalter dieses ambitionierten Projektes gelohnt hat!

Am Ende gab es Standing Ovations für alle Beteiligten und eine Zugabe in Form des abschließenden, für eine Oper dieses Typ ganz typischen kurzen Schlussensembles. Große Begeisterung und zufriedene Gesichter bei allen Leuten auf und vor der Bühne!

Ein grandioser Abschluss dieses Theaterjahres, das – wie ich gerade feststelle – für mich im Januar bereits mit einer Aufführung begonnen hatte, in der ebenfalls ein Mann eine Frauenrolle übernommen hatte (Die Csárdásfürstin) – so schließt sich auf recht ungewöhnliche Weise der Kreis…

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Freitag, 28. Dezember 2012

Maurice Ravel - 75. Todestag

Kurz vor Jahresschluss gibt es heute noch einen weiteren prominenten “Jubilar“ des Jahres 2012, dessen man heute besonders gedenken kann, wenn man mag:

Heute vor genau 75 Jahren verstarb der französische Komponist Maurice Ravel nach längerer Krankheit (unmittelbar jedoch an den Folgen einer Schädeloperation) im Alter von 62 Jahren.

Der 1875 geborene Sohn eines Schweizers und einer französischen Baskin hat ein vielgestaltiges Werk hinterlassen, das sowohl Orchesterwerke, wie Klavier-, Vokal- und Kammermusik aber auch Bühnenwerke (Ballett und 2 kürzere Opern) umfasst.

Im Gegensatz zu seinem Landsmann Claude Debussy, zu dem er ein durchaus freundschaftliches, aber nicht immer ganz ungetrübtes Verhältnis hatte, sah er sich selber als Klassizisten, der althergebrachte musikalische Formen gern mit seinen neuartigen Rhythmen (die in seinem Spätwerk dann auch mal vom damals über Europa kommenden Jazz beeinflusst wurden) und modernen Harmonien anreicherte und der hiermit gern unerwartete und überraschende Effekte erzielte, die allerdings nicht immer bei seinem damaligen, eher konservativen Publikum ankamen. Wie so oft, haben erst nachfolgende Generationen seine Musik vollends zu schätzen gewusst.

Interessant ist, dass auch Ravel eine Faszination für (ein allerdings eher idealisiertes) Spanien und dessen musikalisches Kolorit hatte – gerade (aber natürlich nicht nur) französische Komponisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts scheinen von Spanien geradezu magisch angezogen worden zu sein, da gäbe es zahlreiche weitere Beispiele unter anderem von Emmanuel Chabrier (1841-94) oder Georges Bizet (1838-75), dessen 1875 uraufgeführte Oper Carmen ja weltweit quasi als die Spanien-Oper überhaupt gilt, obwohl sie von einem Franzosen komponiert wurde…

Und so überrascht es nicht, dass auch – neben einigen anderen spanisch-kolorierten Werken – der 1928 entstandene Boléro (bis heute mit Abstand Ravels bekannteste Komposition) einen Tanz von der iberischen Halbinsel mit markantem Rhythmus zum Thema hat…

Dieses Werk, das von Anfang an ein großer Erfolg war (eine Tatsache, die Maurice Ravel im Verlauf seiner künstlerischen Laufbahn wahrlich nicht oft erleben durfte), betrachtete der Komponist eigentlich als gar nichts Besonderes, er äußerte gar, dass der Boléro eigentlich gar keine Musik enthalte, was sich wohl darauf bezieht, dass in diesem gut viertelstündigen Orchesterstück ein und dieselbe Melodie ständig wiederholt wird und sich dabei lediglich die Instrumentierung und die Lautstärke ändert, mit der diese Bolero-Melodie vorgetragen wird.
Aber dieses „lediglich“ ist eigentlich schon eine Anmaßung, denn das Stück ist ein Meisterwerk der Instrumentierungskunst, das zeigt, was für ein begnadeter Klangzauberer Ravel war, der dem Instrument „Orchester“ die raffiniertesten Klangfarben entlocken konnte!
Außerdem ist der Boléro auch ein Musterbeispiel für eine ausgesprochen gelungene und effektive Spannungssteigerung über einen längeren Zeitraum hinweg:
Während des Anhörens dieses Stückes empfindet man als Zuhörer keinen Moment der der Langeweile – im Gegenteil:
Man wird unweigerlich in den unwiderstehlichen Sog dieser Melodie und dieses einprägsamen Rhythmus hineingezogen, der immer mächtiger und dominanter wird. Ich kenne niemanden, der sich der Wirkung dieses Werkes entziehen könnte!
Die große Begeisterung, die gerade der Boléro beim Publikum ausgelöst hat, ist vielleicht symptomatisch für das von Maschinen und Industrie geprägte 20. Jahrhundert, das musikalisch definitiv ein ausgesprochen rhythmusdominiertes geworden ist – ich sehe da durchaus eine gewisse Wechselwirkung zwischen Musik und Technik.

Ravels Instrumentierungskunst hat übrigens auch den eigentlich als Klavierzyklus komponierten Bildern einer Ausstellung des früh verstorbenen Russen Modest Mussorgski (1839-81) endgültig zum Durchbruch verholfen – in seiner raffinierten Orchesterversion aus dem Jahr 1922 erklingt diese Komposition seither in den meisten Fällen.

Neben anderen Orchesterwerken wie der 1908 uraufgeführten Rhapsodie espagnole oder La Valse (1920) und den beiden Klavierkonzerten (entstanden in den Jahren 1929 bis 1931) hat es mir vor allem die Klaviermusik Ravels angetan – gerade auch im Vergleich (oder als Ergänzung) zu der von Debussy. In dem Zusammenhang sollte auch erwähnt werden, dass Ravel seinen Zeitgenossen Erik Satie und dessen zukunftsweisende, oft nüchtern und auch skurril anmutende Kompositionen bewunderte.

Ach ja – die witzige Oper L’Enfant et les Sortilèges („Das Kind und der Zauberspuk“), die 1925 in Monte Carlo uraufgeführt wurde, ist unbedingt auch noch erwähnenswert!

Auch wenn Maurice Ravel also das Schicksal vieler Komponisten teilt, die nur für ein (und nicht einmal unbedingt ihr bestes) Werk Berühmtheit erlangt haben, gibt es auch bei ihm eine Menge interessanter Musik zu entdecken, die am Beginn der Moderne steht und viele Einflüsse und Entwicklungen des frühen 20. Jahrhunderts aufnimmt, auf eigene Art reflektiert und verarbeitet und ihren ganz eigenen Weg in die Zukunft weist!

Sonntag, 23. Dezember 2012

Merry Christmas - prettige kerstdagen...

... und natürlich "Fröhliche Weihnachten" wünsche ich auf diesem Wege allen, die regelmäßig, gelegentlich oder auch nur zufällig hier in diesem Blog zu Gast sind!

Alles ist vorbereitet, die Geschenke sind verpackt, die Weihnachtspost geschrieben und verschickt, Plätzchen gebacken und die Zutaten für den Weihnachtsschmaus organisiert. Im Hintergrund läuft gerade das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian B. (ein Konzertmitschnitt meines Chors - ich kann mir also quasi selbst beim "Jauchzen und frohlocken" zuhören...) - es kann losgehen, die Feiertage können kommen!

Ich wünsche viel Freude (auch und gerade an den kleinen Dingen), denn dafür ist Weihnachten schließlich da - und natürlich viel gute Musik - egal, ob selbst gemacht oder zum Zu- und Anhören!!

In diesem Sinne - man liest sich... 

Freitag, 21. Dezember 2012

Das Bonmot für Zwischendurch...

Passend zum heutigen Tag möchte ich einen Text aus der 1899 uraufgeführten Operette Frau Luna (also quasi der „Urmutter der Berliner Operette“) von Paul Lincke (1866-1946) präsentieren:

Oftmals ward es uns schon prophezeit
Von gelehrten Leuten weit und breit,
Dass nach ihrer Rechnungsübung
Eintritt 'ne Planetenschiebung,
Die uns überrascht mit Heftigkeit!

Von dem Mars soll ausgeh’n dieser Putsch,
Eines Tages mit 'nem großen Rutsch
Wirft er sich, oh wie entsetzlich,
Auf die arme Erde plötzlich
Und dann sind wir alle, alle futsch!

‘S geht alles in Scherben, wir müssen verderben,
Drum bis das Ende naht, folgt meinem Rat:

Ist die Welt auch noch so schön,
Einmal muss sie untergeh‘n,
Darum singt, darum springt, darum trinkt
Und genießt, was der Tag euch noch bringt!
Wenn der Erdenball zerplatzt,
Sind wir sowieso verratzt!
Flott gelebt, flott geliebt, eh’s zu spät
Und mit 'nem Knall die Erde untergeht!


Dieses ausgesprochen schmissige Lied mit seinem eingängigen Refrain wurde von Paul Lincke in eine spätere Fassung von Frau Luna integriert.
Entstanden ist dieses Lied im Jahr 1910 und es wird hier recht eindeutig Bezug genommen auf das Erscheinen des Halleyschen Kometen in jenem Jahr, dessen relativ naher Vorbeiflug an der Erde viele Leute in Angst und Schrecken versetzte und (wieder einmal) an das bevorstehende Ende der Welt glauben ließ…

Na denn – bis zum nächsten Mal! :-)

Donnerstag, 20. Dezember 2012

Neuerwerbung

In der diesjährigen Adventszeit bin ich zu meinem großen Verdruss gar nicht dazu gekommen, hier im Blog - wie schon in den Vorjahren - ein paar weitere musikalische Weihnachtstipps vorzustellen.
Ich weiß auch nicht, was in diesem Jahr los war - beruflicher Vorweihnachtsstress in Reinform! Warum muss partout alles noch im alten Jahr passieren? Und warum fällt das den meisten Leuten anscheinend immer erst Anfang (oder besser noch Mitte) Dezember ein? So ein Jahresende kommt ja auch immer so völlig unerwartet…!

Naja – was nützt es, zu klagen? Eben!
Immerhin möchte ich noch die Gelegenheit nutzen, meine persönliche Weihnachtsplatte des Jahres 2012 vorzustellen:

In diesem Herbst bei der Deutschen Grammophon neu erschienen – das Album Weihnachtslieder, eine an nur zwei Novembertagen des Jahres 1970 entstandene Zusammenstellung selten zu hörender Weihnachtslieder aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, die der legendäre, in diesem Jahr leider verstorbene Bariton Dietrich Fischer-Dieskau zusammen mit seinem langjährigen Klavierbegleiter Jörg Demus aufgenommen hat.

Eine schöne Idee der Deutschen Grammophon, quasi als Hommage an den großen Liedsänger Fischer-Dieskau, der dem Label über viele Jahre fest verbunden war, dieses Weihnachtsalbum, das 1972 erstmalig als LP erschienen war, nun im nostalgischen Design (und mit dem auch auf dem Original-Cover abgebildeten Wintergemälde von Breughel) erstmals mit allen seinerzeit eingespielten Titeln auch auf CD zu veröffentlichen.

Dass Dietrich Fischer-Dieskau zu meinen absoluten Lieblingssängern gehört, habe ich andernorts wohl schon mehrfach erwähnt. Diese Weihnachtsliedersammlung besticht nicht nur durch ihren großen Repertoirewert (bis auf das Cantique de Noël des Franzosen Adolphe Adam kannte ich zuvor keinen einzigen der übrigen 13 Titel!), sondern eben auch durch Fischer-Dieskaus großes Talent, den von ihm gesungenen Text so unglaublich plastisch, verständlich und eindringlich rüberzubringen und dabei seine prägnante Stimme gleichzeitig immer gesanglich angenehm und nie aufdringlich oder forciert einzusetzen – das wird in dieser Einspielung noch einmal ganz besonders deutlich. Der ganze, knapp 50-minütige Vortrag klingt so wunderbar selbstverständlich und natürlich und ist doch ganz große Gesangskunst!

Und auch wenn ich mit Sicherheit eine Weihnachtslieder-Sammlung erstanden hätte, auf der Dietrich Fischer-Dieskau „nur“ altbekannte, -zig mal schon zuvor (und natürlich auch danach) eingespielte Weihnachtslieder zum Besten gegeben hätte, so ist doch die Freude umso größer, dass man mit dieser Aufnahme zugleich auch noch eine ganze Reihe selten (oder nie) zu hörender Kunstlieder auf weihnachtliche Texte präsentiert bekommt, von deren Existenz man bislang gar nichts geahnt hat…

Wie bereits erwähnt: Das bekannteste Stück dieser Aufnahme ist wohl das 1847 entstandene französischsprachige Cantique de Noël von Adolphe Adam (1803-56), das dem Publikum heutzutage – wenn überhaupt - eher mit dem englischen Text "O Holy Night" geläufig sein dürfte und gern im bombastisch-pathetischen Orchestersound daherkommt. Laut Booklet soll es sich bei der auf dieser CD enthaltenen Einspielung um die Originalversion für Gesangsstimme und Klavierbegleitung handeln, wobei ich mich schon frage, warum dann in der Tracklist unter dem Titel “arr. Hans Schmidt“ steht…?
Auf der ursprünglichen LP von 1972 war dieses Lied übrigens nicht vertreten - vermutlich, weil es sich hierbei um den einzigen nicht-deutschsprachigen Titel des ganzen Programms handelt?!? Schön, dass man ihm nun für diese Neu-Edition den ihm gebührenden Platz eingeräumt hat!

Weitere vertretene Komponisten sind unter anderem Carl Loewe (1796-1869), Engelbert Humperdinck (1854-1921), Peter Cornelius (1824-74), Carl Reinecke (1824-1910) oder Max Reger (1873-1916) - also quasi ein „Who-is-who“ deutschsprachiger Komponisten der Romantik (deren Musik gleichwohl heutzutage nicht unbedingt häufig gespielt wird…), ergänzt um einige Namen, die mir bislang auch nichts (oder zumindest nicht viel) sagten, wie z. B. Friedrich Mergner (1818-91) oder Armin Knab (1881-1951).

Besonders interessant finde ich die Weihnachtskantilene (mit 17 Minuten Dauer zugleich auch das längste Stück dieser Einspielung!) von Hermann Reutter (1900-85) (womit wir dann sogar noch bei zeitgenössischen Komponisten angekommen wären), der 1952 einen Text von Matthias Claudius (1740-1815) vertonte und dabei mehrere deklamatorisch-rezitativische und eher gesangsbetonte Abschnitte zu einem ausdrucksvollen gesungenen Vortrag der Weihnachtsgeschichte verband, wobei das begleitende Klavier auch noch immer wieder Zitate bekannter Weihnachtslieder beisteuert – das Stück ist für mich eine echte Entdeckung!

Und so komme ich dann wenigstens beim Anhören dieses alternativen Weihnachtsprogramms – neben meinen persönlichen, alljährlich erklingenden Klassikern wie den barocken Weihnachtskonzerten oder dem Weihnachtsoratorium von Camille Saint-Saëns, doch noch dazu, mich wenigstens ein bisschen vom Vorweihnachtsstress zu erholen…

Mittwoch, 19. Dezember 2012

Heute in der Lunch-Time-Orgel

Vorweihnachtszeit – warum muss man grade jetzt immer sooo viele Termine haben, obwohl man gerade diese Zeit im Jahr doch so gerne etwas ruhiger und besinnlicher angehen würde?
In diesem Jahr ist es wirklich wie verhext, so schlimm war es schon lange nicht mehr – ich musste sogar (und das will schon etwas heißen) in den beiden vergangenen Wochen die Lunch-Time-Orgel ausfallen lassen, weil ich just an den Mittwochen (ist das wirklich der korrekte Plural?) nicht in Düsseldorf sein konnte!

Umso schöner, dass ich es wenigstens heute geschafft habe, die letzte Lunch-Time-Orgel dieses Jahres noch mitnehmen und mir eine gute halbe Stunde Auszeit bei weihnachtlicher Orgelmusik gönnen zu können!

Das Programm des heutigen Mittagskonzerts war natürlich bereits ganz von weihnachtlicher Atmosphäre geprägt - Organist Wolfgang Abendroth spielte folgende Stücke für uns:

Georg Böhm (1661-1733)
Choralbearbeitung „Allein Gott in der Höh‘ sei Ehr‘!“
Variationen über das Weihnachtslied „Gelobet seist du, Jesu Christ“

Dietrich Buxtehude (1637-1707)
Choralbearbeitung „In dulci jubilo“
Choralbearbeitung „Puer natus in Bethlehem“

Marcel Dupré (1886-1971)
Variations sur un Noël op. 20


Zu Beginn erklangen vier kürzere Stücke von zwei Meistern des norddeutschen Orgelbarocks – Variationen und Bearbeitungen schöner alter Weihnachtslieder.

Das Hauptstück des heutigen Konzerts bildeten dann aber die 10 Variationen des Franzosen Marcel Dupré über ein altes französisches Noël (also ein Weihnachtslied):
Das charakteristische, wohl aus dem 15. Jahrhundert stammende Lied Noël nouvelet, das man auch heutzutage und hierzulande immer wieder mal auf Weihnachts-CDs finden kann und das ich wegen seiner eingängigen Melodie und seines Rhythmus‘ sehr gerne mag.
Ich wusste gar nicht, dass Dupré über dieses Lied Variationen für Orgel komponiert hat – ausgesprochen raffinierte Variationen, wie man sagen muss:
Es gibt da unter anderem mehrere Kanons, in denen die Liedmelodie in klassischer Kanon-Manier (aber auf unterschiedlichen Tonhöhen!) sich selber hinterherläuft; einige recht skurril bzw. amüsant anmutende, ausgesprochen schnelle Virtuosenstücke und das Ganze wird dann noch von einem Fugato und einer wilden Toccata gekrönt und abgeschlossen, die dem Organisten noch einmal alles abverlangen an Finger- und Fußfertigkeit!

Ein schöner und passender Abschluss eines weiteren Orgelmusikjahres – ich freue mich schon auf das nächste!

Mittwoch, 28. November 2012

Heute in der Lunch-Time-Orgel

Vergangene Woche musste die Lunch-Time-Orgel ausfallen, denn da war Buß- und Bettag und in der Düsseldorfer Johanneskirche fand eine halbstündige Mittagsandacht statt – für mehr ist zumindest tagsüber an diesem Tag ja leider keine Zeit mehr, da der Buß- und Bettag seit nunmehr auch schon fast 20 Jahren (!) als Feiertag abgeschafft worden ist!

Dafür stand das Programm des heutigen Mittagskonzerts ganz im Zeichen des Kirchenjahresendes (letzten Sonntag war Totensonntag) und dem Beginn der Adventszeit (und damit des neuen Kirchenjahres) am kommenden Sonntag.

Organist Wolfgang Abendroth spielte folgende Orgelwerke für uns:

J. S. Bach (1685-1750)
aus: Sechs Choräle von verschiedener Art
(„Schübler-Choräle“)
Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ BWV 649
Kommst du nun, Jesu, vom Himmel herunter BWV 650

Max Reger (1873-1916)
Phantasie über den Choral
„Wachet auf, ruft uns die Stimme“ op. 52 Nr. 2


Besonders der Choral aus der Fantasie von Reger, der das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen aufnimmt (wer es nicht kennt, kann gerne mal unter Matthäus, Kapitel 25, 1-13 nachschlagen), gehört liturgisch exakt in diese unmittelbare voradventliche Zeit, in der es um die bevorstehende, aber zeitlich noch ungewisse Ankunft des Messias geht (während die Adventszeit als Vorbereitungszeit auf die Geburt des Messias an Weihnachten ja auf einen konkreten Zeitpunkt hinausläuft). Auch Bach hat für den letzten Sonntag des Kirchenjahres eine schöne Kantate geschrieben, in der der Choral „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ eine zentrale Rolle spielt (BWV 140).

Und so stand nach den beiden kürzeren Choralbearbeitungen dann auch im heutigen Konzert Max Regers große, spätromantisch überbordende Choralfantasie im Zentrum. Eine tolle, teilweise schon erstaunlich modern klingende Komposition (dann aber auch wieder im Wechsel mit betont traditionellen Elementen), in der die große Orgel wieder mal zeigen konnte, was an üppiger Klangentfaltung so alles in ihr steckt!

Nach einem recht düsteren Beginn (die Nacht und die beim Warten auf den Bräutigam eingeschlafenen Jungfrauen illustrierend), in den recht schroffe „Klangblitze“ hereinfahren, steigert sich das Ganze Stück für Stück in die musikalische Schilderung (wobei auch die Choralmelodie zitiert wird) der prachtvollen Ankunft des langerwarteten Bräutigams.
Nach einem kürzeren, ruhigen Mittelteil beginnt die abschließende Fuge, für die Reger ein fröhlich-tänzerisches Thema wählte, wohl, um die Freude im Himmel und auf der Erde über die Ankunft des Messias angemessen zu charakterisieren. Das Ganze steigert sich nun ausgesprochen wirkungsvoll immer mehr, die Choralmelodie taucht parallel zur Fuge in der Bass-Stimme wieder auf und vermischt sich dann zum krönenden Abschluss mit dieser, so dass schließlich alles zu einem strahlenden Abschluss geführt wird.

Nicht zuletzt wegen Stücken wie diesem weiß ich, warum ich so gerne Orgelmusik höre!

Montag, 26. November 2012

KLASSIKers Lieblingsstücke (V): Antonín Dvorák - Requiem

Heute nun zu einer Requiem-Vertonung, die mir persönlich ganz besonders am Herzen liegt – ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass ich, wenn ich denn unbedingt eine Wahl treffen müsste (was für ein Glück, dass man das in diesem Zusammenhang aber sowieso nicht muss!), mich sogar für dieses Requiem als meinen persönlichen Favoriten unter den musikalischen Totenmessen der Musikliteratur entscheiden würde:

Die Rede ist vom 1891 uraufgeführten Requiem b-moll op.89 von Antonín Dvorák (1841-1904) - so sehr ich auch die Requiem-Vertonungen beispielsweise von Mozart, Suppé und Verdi liebe (die kämen in meiner persönlichen Favoritenskala dann auf den Plätzen 2 bis 4), Dvoráks Version hat mich bislang noch am meisten gepackt und fasziniert, was sicher auch daran liegt, dass ich dieses Werk als Mitglied des 2. Tenors in meinem Chor intensiv einstudiert und mehrfach in Aufführungen mitgesungen habe (unter anderem in der Kölner Philharmonie, in der Bonner Beethovenhalle und im Altenberger Dom) – so etwas hinterlässt Spuren und persönliche Bindungen an ein solches Musikstück, die sich einfach nicht leugnen lassen. Und außerdem wollte ich mich jetzt auch einfach mal festlegen! :-)

Dvoráks Chormusik steht immer –und das sehr zu Unrecht!- im Schatten seiner Sinfonien und des übrigen Instrumentalwerks. Auch seine zahlreichen Opern fristen gerade hierzulande auch immer noch ein Nischendasein – wenigstens seine Märchenoper Rusalka (UA 1901) findet sich gelegentlich auf dem ein oder anderen Spielplan...

Im Rahmen des Dvorák-Jahres 2004 (anlässlich des 100. Todestages) hatte ich nun wie erwähnt das Glück, sowohl sein Stabat mater op 58 wie eben auch sein Requiem op. 89 einstudieren und im Konzert singen zu dürfen.

Und man lernt ein Werk eben am besten kennen (und lieben), wenn man die Gelegenheit hat, sich intensiv auch mit kleinen Details und Feinheiten beschäftigen zu können. Viele davon gehen beim bloßen (und eventuell gar nur einmaligen) Hören des Werkes einfach in ihrer schier unüberschaubaren Fülle unter – das ist schade, aber wohl nicht zu ändern.

Kurz zur Entstehung des Werkes:

Dvorák komponierte sein Requiem 1889/90 unmittelbar nach seiner 8. Sinfonie.
Es war ein Auftragswerk des Festivalkomitees des Birmingham-Chorfestivals, eines der schon damals größten und traditionsreichsten Chormusikfestivals der spätestens seit den Tagen Georg Friedrich Händels sehr chormusikbegeisterten Engländer.
Bei diesem Festival (aber auch in London und in anderen Städten Englands) hatte Dvorák bislang mit seinen Chorwerken (beginnend mit Aufführungen seines Stabat mater 1884/85) den größten Erfolg gehabt.
Er hatte für die Chorfestivals in Birmingham und Leeds daraufhin die Chorwerke Die Geisterbraut (1884) und Die heilige Ludmilla (1886) komponiert, die leider heute (zumindest wohl außerhalb Tschechiens) ähnlich seinen Opern ebenfalls einer fast totalen Vergessenheit anheimgefallen sind!

Diese beiden Chorwerke fanden zwar eine wohlwollende, aber nicht die enthusiastische Aufnahme wie zuvor das Stabat mater.
Dies kann an der böhmisch-folkloristischen Thematik oder der nicht ganz glücklichen Übertragung der tschechischen Originaltexte ins Englische gelegen haben, die mit dem Duktus der Musik wohl nicht so richtig harmonierte.

Dvorák wollte daher eigentlich lieber wieder zu lateinischen, allgemeingültigen Texten zurückkehren.
Man bot ihm vergeblich das Gedicht The dream of Gerontius zur Vertonung an (es wurde erst im Jahr 1900 durch Edward Elgar vertont); schließlich entschied sich Dvorak jedoch für den Vorschlag von Alfred Littleton vom Musikverlag Novello, ein Requiem zu vertonen.

Seine eher kammermusikalische Messe in D-Dur op. 86 aus dem Jahr 1887 erschien ihm –begreiflicherweise- kein geeignetes Werk für den Rahmen eines solchen Chorfestivals zu sein, das nach abendfüllenden, reich orchestrierten Stücke verlangte.

Dvorák kannte die Requiem-Vertonungen von Verdi (1874) und Brahms’ eigenwilliges Deutsches Requiem (UA 1869) und hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, sich ebenfalls mit der Textvorlage der lateinischen Missa pro defunctis kompositorisch auseinanderzusetzen.

Mit ersten Skizzen begann Dvorák dann im Jahre 1889; auch während der im Jahr 1890 stattfindenden Reisen und Gastkonzerte arbeitete er an seiner Komposition. So notierte er über der Skizze zum Lacrimosa beispielsweise geschrieben in Köln am Rhein auf der Reise nach London.

Im Sommer vollendete er das Werk in seinem Landhaus Vysoká. Es folgten noch die Reinschrift und einige Korrekturen in den folgenden Monaten.

Die Uraufführung dieses Requiem fand dann am 9. Oktober 1891 in Birmingham unter Dvoráks Leitung statt – es war ein überwältigender Erfolg, dem sich zahlreiche weitere äußerst erfolgreiche Aufführungen auf dem europäischen Festland (und den USA!) anschlossen, nicht zuletzt auch in Wien (1901), wo Dvoráks Werke zuvor eher weniger Erfolg hatten.

Dvorák teilt die 9 Teile des Requiem-Textes wie folgt in 13 einzelne Sätze auf:

-Introitus: Requiem & Kyrie eleison
-Graduale: Requiem aeternam
-Sequenz: Dies irae
--Tuba mirum
--Quid sum miser
--Recordare
--Confutatis
--Lacrimosa
-Offertorium: Domine Jesu Christe
--Hostias
-Sanctus
-Pie Jesu
-Agnus Dei (& Communio)

Wie man sieht, hat sich Dvorák gerade in der Sequenz, also dem textlich umfangreichsten Teil der Missa pro defunctis, für eine recht traditionelle Aufteilung in einzelne Abschnitte entschieden, lediglich das oft als separater Satz komponierte Rex tremendae fehlt – es ist bei Dvorák Teil des Quid sum miser. Dvorák hat (anders als beispielsweise Suppé oder Verdi) darauf verzichtet, das eigentlich sowieso nicht nur Missa pro defunctis gehörende Libera me als letzten Satz seines Requiem zu vertonen.
Anders als sonst häufig gibt es bei Dvorák auch keinen eigenen Satz für das Benedictus - es ist hier ein Teil des Sanctus, so wie es liturgisch eigentlich auch korrekt ist, bevor im 18. Jahrhundert gerade dieser Teil in Messkompositionen gern als besonders ausdrucksvoller und inniger Satz fast durchweg vom vorangehenden Sanctus abgetrennt wurde (siehe z. B. Messvertonungen von Haydn, Mozart und Beethoven).
Dafür gibt es bei Dvorák quasi als Ersatz als vorletzten Satz seines Requiem ein Pie Jesu, (ein Satz mit Worten aus dem Lacrimosa) – ein ab Ende des 19. Jahrhunderts (und auch im 20. Jahrhundert) gern vertonter Teil des Requiem-Textes, der nicht nur hier bei Dvoràk gern als ruhig-melodiöser, besinnlich-andachtsvoller Bittgesang ausgestaltet wird, man denke beispielsweise nur an die wunderschönen Pie Jesu-Vertonungen in den Totenmessen von Gabriel Fauré, Andrew Lloyd Webber oder John Rutter!

Am meisten dürfte in Dvoráks Satzaufteilung jedoch die Tatsache überraschen, dass er sich als einer der wenigen Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts das als zweiter Satz erklingende Graduale vorgenommen hat. Die beiden Teile der Liturgie der lateinischen Totenmesse, Graduale und Tractus, sind während der Renaissance noch regelmäßig, ab der Barockzeit dann immer seltener und danach eigentlich gar nicht mehr (warum auch immer) vertont worden. Während Dvorák auch auf den Tractus verzichtet, so hat er doch immerhin das Graduale vertont und das ist schon eine Besonderheit bei diesem Requiem aus dem späten 19. Jahrhundert.

Dvorak wählte für seine Totenmesse die Tonart b-moll. Chopins Trauermarsch ("Marche funèbre") aus der Klaviersonate Nr. 2 in b-moll op. 35 dürfte das wohl bekannteste Stück "Trauermusik" sein, das auch in dieser Tonart steht.

Eine Aufführung von Dvoráks Requiems dauert ca. 95 Minuten – es handelt sich damit um das umfangreichste Chorwerk dieses Komponisten.

Da es für einen Konzertsaal –und nicht für die Kirche (für eine liturgische Totenmesse ist es schlicht zu umfangreich)- gedacht war, besitzt das Werk eine allgemeingültige, nicht unbedingt ausschließlich an die katholische Tradition gebundene Aussage – ähnlich vielleicht wie die vom Protestanten Bach komponierte (und dem katholischen Text folgende) h-moll-Messe. Der geübte und versierte Symphoniker Dvorák macht sich in der gekonnten motivischen Verzahnung der einzelnen Sätze bemerkbar.

Ich muss gestehen: Mir persönlich war dieses Requiem – mit den Proben hierzu begannen wir parallel zur Einstudierung des Stabat mater - zunächst etwas „suspekt“.
Es erschien mir viel „berechnender“ und konstruierter als Dvoráks leidenschaftlich-spontanes und ja auch aus tiefem persönlichen Leid heraus entstandenes Stabat mater.
Kein Wunder – es handelt sich ja beim Requiem auch um ein Auftragswerk, das diesmal ohne biographischen Hintergrund (also kein Todesfall im Familien- oder Freundeskreis) entstand und in dem eben der kompositorische Aspekt, die kunstvolle Verarbeitung symphonisch-thematischer Gedanken (insbesondere eines zentralen „Leitmotivs“) eine größere Rolle spielt – Dvorak wollte sich eben als Meister seines Faches von seiner besten Seite zeigen!

Dvorák hat für dieses Auftragswerk ganz selbstbewusst eine Art Summe seines damaligen Könnens gezogen und viele raffinierte "Zutaten" in die Komposition hineingepackt:

So hat er sein Requiem quasi unter das Motto eines Leitmotivs, einer Idée fixe gestellt.
Das sich in mannigfacher (auch rhythmischer) Variation durch das gesamte Stück ziehende Requiem-Motiv taucht nicht nur in den Orchester- sondern immer wieder auch in den Gesangsstimmen auf und gibt dem Ganzen einen „roten Faden“.

Die äußerst konsequente Verwendung dieses charakteristischen Motivs ist im Sinne einer für Dvorák nicht untypischen thematischen Vereinheitlichung ein Beleg für die symphonische Konzeption dieses Werkes – auch wenn man das Motiv schnell im Ohr hat, wird es nie langweilig, ihm im Verlauf des Requiem immer wieder zu begegnen, zu abwechslungsreich und oft überraschend sind die neuerlichen „Treffpunkte“. Dvorak hat das wirklich ganz meisterhaft gelöst.

Der Musikwissenschaftler Peter Gatty schreibt sehr treffend (und wie ich finde, auch sehr poetisch) hierzu:
Die motivische Keimzelle des ganzen Stücks wird – ähnlich wie bei Wagners Tristan – in den ersten 3 bis 4 Takten vorgestellt, eine thematische Figur, die sich in chromatischen Schritten schmerzlich um den Dominantton f windet und gleichsam eine Frage stellt, die uralte, weltbewegende Frage nach den letzten Dingen des Lebens und Sterbens.
Dvorak soll dieses auch für mich wie eine Frage wirkende Requiem-Motiv aus einem Thema von Johann Sebastian Bach, dem engschrittigen Fugenthema des 2. Kyrie aus der h-moll-Messe, abgeleitet haben (das müsste ich an der entsprechenden Stelle aber nochmal nachhören).

Dies wäre meines Erachtens ein Beleg für die überkonfessionelle Aussage der Komposition, die einen allgemeingültigen Standpunkt zum alle Menschen bewegenden Themenkreis Tod, Verlust, Trauer, Trost und ewiges Leben einnehmen will und sich nicht an irgendwelche konfessionellen Schranken gebunden fühlt (immerhin wurde das lateinische Requiem ja auch für das anglikanische England komponiert).

Ich hätte wirklich nie gedacht, dass man einem Werk derart anmerken kann, ob es eher absichtsvoll "geplant" und "konstruiert" wurde (das ist jetzt gar nicht negativ gemeint), oder ob es mehr aus persönlichem Bedürfnis heraus, "aus dem Gefühl" geschrieben wurde - gerade beim direkten Vergleich der beiden genannten Dvorák-Chorwerke ist das wunderbar zu vergleichen - und zwar nicht nur vom kompositionstechnischen Hintergrund, sondern eben auch vom "gefühlten" Sing- und Hörerlebnis her - vielen MitsängerInnen im Chor ging es nämlich ähnlich wie mir: Das Stabat mater noch im Ohr habend, wollte sich uns das Requiem zunächst so gar nicht richtig in seiner vollen Schönheit erschließen…

Aber es kam - etwas zögernder vielleicht, aber unaufhaltsam. Denn je mehr wir im Chor an dem Werk herumprobiert haben, desto lieber habe ich es gesungen: Einfach toll, welch große Breite musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten und Stimmungen die einzelnen Sätze umschließen. Und gerade für den Chor ist das Werk sehr dankbar: Außer in der Nr. 6 (Recordare) ist der Chor an allen übrigen 12 Sätzen maßgeblich beteiligt!

Als wir dann endlich aufführungsreif waren, mochte ich zwischenzeitlich das Requiem schon lieber als Dvoráks Stabat mater – aber das geht mir mit (fast) allen Chorwerken so, die wir gerade probieren...

Beide Werke sind große Klasse – überquellend vor wunderbaren Melodien und Stimmungen und jedem Chormusik- und natürlich Dvorák-Freund daher nur wärmstens zu empfehlen! Am besten natürlich live!!!

Nun aber noch ein paar persönliche An- und Bemerkungen zu den 13 Sätzen dieser wunderbaren Totenmesse:

Nr. 1 Requiem aeternam
Pianissimo in den Streichern erklingt in den ersten Takten also das schon erwähnte Requiem-Motiv (zu Beginn sind es die Töne f-ges-e-f-f), bevor der Chor wenig später requiemüblich ebenfalls düster und im pianissimo einsetzt.
Wenn die „Requiem“-Rufe der einzelnen Stimmen bewegter werden, ist dann auch der erste dynamische Höhepunkt erreicht:
Im fortissimo und unisono intoniert der Chor „Te decet hymnus“ in dreimaliger Steigerung, bevor mit dem Tenor der erste Solist zum Einsatz kommt, die anderen Solisten stellen sich ebenfalls kurz darauf erstmalig vor.
Gegen Ende des ersten Satzes erfolgt dann die erste Überraschung: Eher beiläufig und leise singen die Chorbässe zur Melodie des Requiem-Motivs das „Kyrie eleison“, dem die anderen Stimmen mit dem „Christe eleison“ und dem abschließenden zweiten „Kyrie eleison“ folgen.
Das Ganze erfolgt in aller Knappheit und ist damit bedeutend kürzer als beispielsweise das Kyrie im Mozart-Requiem.
Das überrascht schon, ist doch Dvoráks Requiem vom Gesamtumfang her fast doppelt so lang wie Mozarts Totenmesse – beim Kyrie fasst Dvorák sich aber auffallend kurz.
Es klingt ganz anders als Mozarts gewaltiges, fast schon trotzig wirkendes Kyrie-Fugenthema:
Zerknirscht, ganz leise und demütig bittet der Chor – zuletzt gar a cappella - um Erbarmen – eine sehr sinnfällige klangliche Ausdeutung des Textes, die man in dieser Form aber nicht so häufig antrifft.

Nr. 2 Graduale
Während bei den meisten Requiem-Vertonungen das Kyrie der 2. Satz ist, hat Dvorák ungewöhnlicherweise hier ein Graduale eingefügt – weder bei Verdi noch bei Mozart, Berlioz oder Suppé gibt es diesen Teil.
Es ist hauptsächlich ein lyrisch-sehnsüchtiges Sopransolo, teilweise vom Damenchor unterbrochen. Ganz am Ende des Satzes bekommt der Herrenchor den ersten seiner in diesem Werk noch zahlreich auftretenden a-cappella-Einsätze:
Pianissimo und sehr geheimnisvoll intonieren die tiefen Stimmen nochmals die Worte „Requiem aeternam“ eine Gänsehautstelle!

Nr. 3 Dies irae
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde es nicht unüblich, die drastische, auf die Schrecken des Jüngsten Gerichts hindeutende Sequenz Dies irae auszusparen (z. B. in den Requien von Fauré, Duruflé, u. a.), um den Totenmessen einen einheitlichen, eher meditativ-tröstlichen Charakter zu verleihen.
Dvorák hingegen verzichtet nicht auf diese Textteile, die ja viele Komponisten, allen voran Berlioz und Verdi, zu spektakulären Apokalypse-Vertonungen inspiriert haben.
Nun, Dvorák wählt einen „Mittelweg“ – und meidet die Drastik eines Berlioz oder Verdis (die auch kaum zu übertreffen wären) – sein Requiem trägt auch in Teilen wie diesen eher lyrische Züge:
Der Chor intoniert das „Dies irae“ –nach einem einleitenden tief und bedrohlich klingenden Wirbeln in den Bässen- rhythmisch ganz streng unisono.
Es klingt – wenn der Dirigent den 6er-Rhythmus denn strikt einhält – wie ein bizarrer Schreittanz oder –marsch (die Tempobezeichnung lautet denn auch Allegro impetuoso [Alla marcia]), eben wie eine Art "Totentanz":
Unerbittlich, drohend und immer wieder durchsetzt von schreckensrufartigen Ausbrüchen einzelner Stimmen. Ganz anders in der Wirkung als beispielsweise bei Verdi aber nicht minder beeindruckend!

Nr. 4 Tuba mirum
Erwartungsgemäß eröffnet Dvorák den Satz mit einem Blasinstrument, das zum Jüngsten Gericht ruft – allerdings ist es hier eine Trompete (während man von der berühmten Mozart-Parallelstelle eher die Posaune erwartet hätte).
Doch das Ganze klingt nicht heroisch und majestätisch – es ist das fragende Requiem-Motiv, das hier erneut an prominenter Stelle zum Einsatz kommt.
Solo-Alt, Bass und Tenor tragen den weiteren Text vor, immer wieder unterbrochen vom düster und verzweifelt klingenden Chor.
Zur abschließenden Steigerung des ganzen Abschnitts wiederholt Dvorák dann nochmals den Dies irae-Totenmarsch aus der Nr. 3, der allerdings an dieser Stelle nochmals im Ausdruck und in der Dynamik gesteigert werden sollte – die Orchesterbegleitung ist hier ebenfalls wesentlich dichter und bewegter als beim ersten Dies irae“.
In dieser Wiederholung "dreht" Dvorák dann nochmal am Hebel "Dramatik" und verschärft die Wirkung und Drastik im Gegensatz zum ersten Dies irae - er schreibt nun u. a. auch den zusätzlichen Einsatz von Orgel und (Röhren-)Glocken vor (allerdings wohl ad libitum, da nicht in allen Aufnahmen welche zu hören sind).
Kurz vor Ende dieses Satzes herrscht dann ein Höllenlärm:
Der Chor deklamiert fortissimo erneut die Worte "Tuba mirum spargens sonum", dazu das wild bewegte volle Orchester (plus Orgel) und eben die über alles hinwegtönenden, kraftvoll geläuteten Glocken "des Jüngsten Gerichts" - eine Stelle, die mir jedesmal Gänsehaut bereitet hat!!
Und –was für ein Gegensatz- nach zwei abschließenden Unisono-Takten des vollen Orchesters kehrt von einer Sekunde auf die andere plötzlich Totenstille ein und der Herrenchor singt jetzt abrupt im pianissimo eine weitere a-cappella-Stelle, worauf der Satz mit einem kurzen leisen Nachspiel fast im Nichts endet – was für ein Wahnsinns-Effekt und was für ein Gegensatz zum kurz vorher so abrupt beendeten Forte-Fortissimo!! Schon wieder Gänsehaut...

Nr. 5 Quid sum miser
Ungewöhnlicherweise beginnt Dvorák den nächsten Satz an dieser Textstelle – üblicherweise folgt auf das Tuba mirum das Rex tremendae.
Dvorák geht aber –wie schon erwähnt- eher lyrisch vor und beginnt den Satz ganz zart und ratlos im Tonfall mit den Chorsopranen.
Relativ unvermittelt in diese ratlose Atmosphäre (wiederum eine sehr schöne Textausdeutung!) bricht das in diesen Satz integrierte Rex tremendae herein – ganz traditionell in majestätisch-schreckensvoller Anrufungsform („Rex!“) gehalten. Das abschließende „Salva me“ klingt dagegen wieder ruhig und bittend.

Nr. 6 Recordare
Der einzige Satz des ganzen Werks, in dem der Chor mal Pause hat!
Das Solistenquartett hat hier eine dankbare und äußerst klangschöne Aufgabe zu bewältigen – in diesem Satz klingt Dvoráks Musik ganz typisch „böhmisch“, sowohl vom oft synkopierten Rhythmus als auch von der wunderbar "holzbläserlastigen" Instrumentierung her.

Nr. 7 Confutatis
Das Confutatis klingt wie der Rex tremendae-Teil traditioneller – vor allem der Gegensatz zwischen den bedrohlichen „Confutatis“-Rufen und dem lyrisch klingenden „Voca me!“ ist in ähnlicher Form (z. B. auch von Mozart) gern in dieser Art vertont worden. Der Rhythmus zu Beginn des Satzes ist ein unerbittlich treibendes, sehr ins Ohr gehendes Motiv.

Nr. 8 Lacrimosa
Das auf der Durchreise in Köln skizzierte Lacrimosa beginnt mit dissonanten und schmerzlichen „Lacrimosa“-Rufen – sehr wirkungsvoll ist der im pianissimo vorgetragene kurze „Pie Jesu Domine“-Teil – ein kurzes Innehalten vor den abschließenden, sehr eindrücklichen „Amen“-Rufen, mit denen der 1. Teil endet.

Nr. 9 Offertorium
Mit Beginn des 2. Teils des Requiem ändert sich die Atmosphäre komplett: Nach all dem Schrecken und der Angst beginnt nun der tröstliche Teil des Werks – die Holzbläser intonieren ein friedvoll klingendes Andante, dem kurz darauf erstmalig auch die Harfe beigefügt wird – ein wirkungsvoller 1. Einsatz an dieser Stelle für dieses Instrument!
Das ganze Domine Jesu Christe ist sehr würdevoll vom Ausdruck, voller Zuversicht, stellenweise geradezu hymnisch.
Sehr charakteristisch das mehrfach wiederholte, rhythmisch markante „Libera animas“-Motiv (später auch als „Libera eas“).
Zum Abschluss des Satzes zeigt Dvorák, dass er auch ein Meister der Fugentechnik ist (um 1890 ist die Fuge ja nun wirklich kein besonders übliches Stilmittel mehr!):
Traditionell ist der Textteil „Quam olim Abrahae“ auch bei ihm als ausgedehnte Fuge gestaltet (die Fuge benötigt immerhin vom Umfang her ein Drittel des Satzes!).
Im frischen, fröhlich-zuversichtlichen Allegro-Tempo intoniert zuerst der Chortenor das Fugenthema – hierbei handelt es sich um ein altes böhmisches Kirchenlied aus dem 15. Jahrhundert, dass um 1890 auch noch in den Gottesdiensten in Dvoráks Heimat gesungen wurde und dessen Melodie daher zumindest seinen Landsleuten als „typisch böhmisch“ durchaus bekannt gewesen sein müsste.
Die Fuge ist eine echte Herausforderung für den Chor, wir haben ziemlich zeitintensiv daran herumprobieren müssen.
Aber das Ergebnis lohnt: Wenn es dann (endlich) richtig „läuft“ ist diese Fuge ein echter Ohrwurm – sehr mitreißend und unter raffinierter Ausnutzung sämtlicher satztechnischer Kunstgriffe mit einer grandiosen Steigerung zum Schluss hin ist sie ein echter Höhepunkt!

Nr. 10 Hostias
Die Stimmung wechselt erneut und wird grüblerischer, nachdenklicher, die charakteristischen punktierten Rhythmen einschließlich der „Libera eas“-Rufe aus dem vorangegangenen Satz tauchen aber auch hier wieder auf.
Das Besondere an diesem Satz sind jedoch die beiden längeren a-cappella-Stellen für den vierfach geteilten Herrenchor (“Fac eas, Domine“):
Sehr eindrücklich, harmonisch raffiniert – und ziemlich knifflig in der Ausführung. Lohnt sich aber auf jeden Fall, denn gerade diese beiden Passagen klingen sehr innig und flehentlich. Und a-cappella-Stellen lassen den Zuhörer unwillkürlich immer besonders aufhorchen!
Und weil es so schön war (und die Arbeit bei der Einstudierung sich ja auch lohnen soll) – wird im Anschluss an diesen Teil die komplette „Abraham-Fuge“ aus der Nr. 9 wiederholt!

Nr. 11 Sanctus
Anders als der üblicherweise zu erwartende Sanctus-Jubel, beginnen die Solisten zunächst eher mit etwas gedämpften, weihevollen Lobrufen, bevor der Chor etwas später dann doch unisono im fortissimo mit „klassischen“, blockhaft-hymnischen Sanctus-Rufen einsetzt.
Nach dem kurzen Hosanna-Teil überrascht Dvorák mit einem bemerkenswert kurz gefassten Benedictus.
Überraschend deshalb, weil – wie erwähnt - gerade dieser Textteil für gewöhnlich von vielen Komponisten sehr ausgreifend und sehr anrührend vertont wurde (z. B. in Beethovens Missa solemnis) und man im Rahmen der großen Anlage dieses Requiems eigentlich ähnliches erwartet hätte.
Aber wie schon im Kyrie eleison beschränkt sich Dvorák hier auf eine vergleichsweise knappe Vertonung, die gleichwohl sehr schwärmerisch und zuversichtlich (und darüber hinaus harmonisch äußerst komplex) daherkommt. Ein knappes weiteres Hosanna beendet kräftig im fortissimo den Satz.

Nr. 12 Pie Jesu
Dieser Textteil (aus dem Lacrimosa) findet sich weder in den Requien von Mozart, Berlioz, Suppé oder Verdi an dieser Stelle zwischen Sanctus und Agnus Dei.
Dvorák benutzt ihn, um kurz vor Schluss noch mal eine ganz verinnerlichte „Ruhepause“ einzulegen:
Nach kurzem Vorspiel (Poco adagio) folgt ein weiterer a-cappella-Satz für den vierfach geteilten Herrenchor und die Altistinnen, die wie ein schlichtes Volkslied die Worte „Pie Jesu, Domine“ intonieren.
Zeitweise werden zwar die Stimmen von der Orgel dezent (und mit tiefen, liegenden Tönen) begleitet, dennoch handelt es sich hierbei um die längste a-cappella-Passage des ganzen Werkes, die wiederum ziemlich anspruchsvolle harmonische Entwicklungen aufweist (auch das Requiem-Motiv findet erneut mehrfach Verwendung).
Dass wir auch diesen Satz ziemlich intensiv "beackern" mussten, bevor die Intonation hingehauen hat (Anschluss-Stellen!!), brauche ich wohl nicht extra zu erwähnen... Im Mittelteil des Satzes dürfen dann die Sopran-, Alt- und Tenorsolisten ebenfalls ihre a-cappella-Fähigkeit unter Beweis stellen, bevor erneut der Chor (wiederum ohne den Chorsopran) den Satz a-cappella beschließt.

Nr. 13 Agnus Dei
Der erste Teil des Agnus Dei mit seinen in unterschiedlichen Stimmkombinationen wiedergegebenen “Agnus Die“-Rufen erinnert mich vom Ausdruck her sehr an den Beginn des Agnus Dei in Beethovens Missa solemnis, wo der gleiche, über längere Passagen sich aufbauende, andächtig-bittende, aber zugleich auch reumütig-flehende Grundton vorherrscht.
Dann intoniert der Solo-Sopran die Stelle „Lux aeterna luceat eis“ und plötzlich ändert sich die Stimmung, es ist, als ob das ewige Licht bereits erstrahlen würde:
In wenigen Takten, in denen Chor und Solisten unisono geführt werden, erreicht Dvorák eine gewaltige, monumentale Steigerung, die bis zum forte-fortissimo reicht und sich dann ebenso abrupt in zügigerem Tempo in die „Quia pius es“-Rufe entlädt.
Doch auch diese Episode währt nicht lange und sehr schnell drosselt Dvorák das Tempo wieder und kehrt zur Stimmung des Anfangs zurück.
Der Tonfall wird immer verinnerlichter, der Chor erhält eine letzte kleine a-cappella-Stelle, die von einer dumpfen Pauke begleitet wird.
Und wenn dann –fast flüsternd- zum letzten Mal die Worte „Et lux perpetua luceat eis“ mehr rezitiert als gesungen werden, schwingt sich das Orchester im kurzen Nachspiel noch einmal zum forte auf und intoniert abschließend das Requiem-Motiv, das ja auch ganz am Beginn des Werkes stand - das Motiv verebbt und im pianissimo endet das Requiem in b-moll.
Was für ein Kreis schließt sich da – es ist, als würde ganz am Ende ein gewaltiges Buch zugeschlagen:
Ein Buch, in dem es um dieses Motiv ging, das in unzähligen Veränderungen und Situationen den Hörer ständig begleitet hat und das am Ende dann einfach und friedlich ausschwingt – noch so eine Gänsehautstelle!
Von vorne bis hinten planvoll durchdacht und bis zum Rand gefüllt mit herrlichen Melodien und abwechslungsreichen Klangkombinationen - einfach fantastisch! Was will man mehr...?

Das Ganze überzeugt mich bei Weitem mehr als Berlioz ebenfalls monumentales Requiem, bei dem er sich meiner Meinung nach aber mit den großen Klangorgien bei der Umsetzung des Jüngsten Gerichts im Tuba mirum etwas verzettelt hat, denn ein Requiem besteht nicht nur aus der Sequenz und es gereicht einer Vertonung nicht unbedingt zum Vorteil, wenn alles (ausführende Kräfte wie Publikumsinteresse) nur auf diesen Teil ausgerichtet ist! Durch den Verzicht auf allzu spektakuläre Effekte im Dies irae und den folgenden Sätzen hat Dvorák kluge Selbstbeschränkung bewiesen und dem Requiem als Ganzem damit eine wesentlich geschlossenere Gesamtstruktur und –wirkung verliehen.

Ich habe einige Aufnahmen dieser großen Missa pro defunctis, die meisten davon haben schöne Momente, offenbaren leider aber auch einige Schwächen:

Die älteste Aufnahme, die ich vom Dvorák-Requiem besitze, entstand immerhin schon Anfang 1959 (!) in Prag: Es singt der Tschechische Sängerchor, begleitet von der Tschechischen Philharmonie unter der Leitung von Karel Ancerl. Bei dieser Aufnahme merkt man, dass sie noch aus den Kindertagen der Stereophonie stammt – gerade an den lauteren Stellen, wo Chor und Orchester richtig „aufdrehen“, stößt die damalige Aufzeichnungstechnik für mein Empfinden hörbar an ihre Grenzen und das Ganze wirkt etwas flach und nicht mehr so differenziert. Dafür hat die Aufnahme gerade an den ruhigeren Stellen aber auch ihre schönen und sehr gelungenen Momente.

Im Jahr 1968 entstand in London eine Einspielung mit den Ambrosian Singers und dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von István Kertész. Auch hier überzeugt mich das Klangbild an den turbulenteren Stellen nicht immer (und auch sonst klingt das Ganze irritierendweise mitunter, als ob sämtliche Ausführende lediglich in einem kleinen Raum beieianderstehen), auch wirkt der Chorklang ab und an nicht ganz homogen und streckenweise auch ein bisschen "hemdsärmelig" und nicht besonders elegant aufeinander abgestimmt – dafür hört man hier im Tuba mirum zur Abwechslung mal sehr schön die Röhrenglocken läuten – ein toller Effekt, den es leider nicht in jeder Einspielung zu erleben gibt. Die Solisten dieser Aufnahme sind gut, vielleicht teilweise etwas zu opernhaft im Ausdruck, was nicht ganz so optimal zu diesem Requiem passt.

1981 entstand in Paris die Aufnahme mit dem Nouvel Orchestre Philharmonique et Choeurs de Radio France unter der Leitung von Armin Jordan. Eine solide Aufnahme, die man gut anhören kann, bei der mir aber entschieden die Leidenschaft und Dramatik fehlt - alles wirkt hier brav und ausgesprochen korrekt musiziert, aber eben auch nicht mehr. Schade eigentlich!

Mein Favorit ist und bleibt allerdings die 1984 wiederum in Prag entstandene Aufnahme mit dem Tschechischen Philharmonischen Chor und Orchester unter der Leitung von Wolfgang Sawallisch: Hier stimmt für meinen Geschmack eigentlich (fast) alles – man merkt Chor und Orchester die Leidenschaft und Hingabe für dieses Meisterwerk ihres großen Landsmannes an, die Solisten überzeugen mich auch und auch das Klangbild dieser Aufnahme lässt eigentlich keine Wünsche offen. Einziger Wermutstropfen an dieser Einspielung ist lediglich das teilweise arg langsame Tempo, was mich vor allem in den dramatischen Sätzen der Sequenz doch ziemlich enttäuscht: Ein guter Teil der Wirkung geht verloren, wenn man derart durch Sätze wie das Dies irae oder das Confutatis schleicht, wie es Sawallisch hier tut! Dass er nicht grundsätzlich langsamer unterwegs ist als andere Kollegen, zeigt sich z. B. in der Quam olim Abrahae-Fuge, wo er ein flottes Tempo anschlägt, das sich nicht von dem der anderen hier vorgestellten Einspielungen unterscheidet.

Dienstag, 20. November 2012

Requiem-Vertonungen: Hector Berlioz

Man liest es immer wieder: Zu den drei großen (und beliebtesten) Requiem-Vertonungen gehört nach allgemeiner Auffassung neben Mozarts Requiem (1791) und dem von Giuseppe Verdi (1874) auch die 1837 entstandene Grande messe des morts (op. 5) von Hector Berlioz (1803-69).

Ich muss gestehen: So ganz nachvollziehen kann ich diese Einschätzung nicht – irgendwie werde ich mit diesem Requiem (im Gegensatz zu den Vertonungen von Mozart, Verdi oder auch Suppé) einfach nicht warm! Die Musik und die dahinterstehende Konzeption erschließt sich mir einfach nicht in dem Maße, wie es bei vielen anderen größeren und kleineren Requiem-Vertonungen der Fall ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich bislang leider keine Gelegenheit hatte, mir das Berlioz-Requiem im Rahmen gründlicher Probenarbeit in Vorbereitung auf ein Konzert zu erarbeiten – eine derart intensive Beschäftigung mit einer Komposition lässt einen später viele Dinge mit ganz anderen Augen sehen bzw. mit viel offeneren Ohren hören, diese Erfahrung habe ich bereits mehr als einmal machen können!

Interessehalber habe ich mal in den Aufführungsstatistiken des VDKC (Verband deutscher Konzertchöre – jawohl, auch so etwas gibt es!) nachgeschlagen: In der Tabelle der 50 meistaufgeführten Chorwerke der in diesem Verband organisierten Chöre (im Zeitraum 1995-2004) steht das Mozart-Requiem auf Platz 6, das Verdi-Requiem auf Platz 11, während Berlioz‘ Totenmesse hier gar nicht auftaucht.
Während das Mozart-Requiem im Zeitraum von 1980 bis 2004 in diesen Statistiken mit 374 Aufführungen und das Verdi-Requiem mit immerhin 268 Konzerten vermerkt ist, wurde das Berlioz-Requiem im selben Zeitraum gerade einmal 26 mal aufgeführt.
So gesehen verwundert es dann schon, dass man das Berlioz-Requiem den beiden anderen, mit weitem Abstand häufiger aufgeführten und mit weitaus populäreren Melodien bestückten Totenmessen von Mozart und Verdi gleichstellt – woran könnte das liegen?

Ein Grund für die doch recht selten zu erlebende Aufführung dieser zweifellos großdimensionierten Missa pro defunctis (die Aufführungsdauer beträgt ca. 80 Minuten) dürfte sicherlich in dem gewaltigen, für Berlioz allerdings nicht ganz untypischen personellen und orchestralen Aufwand liegen, der hierfür gemäß den Vorstellungen des Komponisten erforderlich ist:
Das Orchester ist mit 4 Flöten, 2 Oboen, 2 Englischhörnern, 4 Klarinetten, 8 Fagotten, 12 Hörnern, 8 Paar Pauken (bedient von 10 Paukern!), 2 großen Trommeln, 4 Tamtams (Gongs), 10 Paar Becken, 50 Violinen, 20 Bratschen, 20 Celli und 18 Kontrabässen zu besetzen.
Hinzu kommen vier getrennt von diesem Klangkörper zu positionierende Blechbläserensembles (Nr. 1 mit 4 Cornets à pistons [kleines Ventilhorn], 4 Posaunen, 2 Tubas; Nr. 2 und 3 mit je 4 Trompeten und 4 Posaunen; Nr. 4 mit 4 Trompeten, 4 Posaunen und 4 Ophikleiden [Blechblasinstrument in Basslage]).
Dazu kommt neben einem Tenorsolisten dann noch der Chor, nach traditioneller französischer Manier nur mit Sopran, Tenor und Bass, also ohne Altstimmen besetzt (warum auch immer), veranschlagt werden hier 80 Soprane, 60 Tenöre und 70 Bässe.
Und wem das alles noch nicht genug ist, dem gibt der Komponist dann noch folgenden besetzungstechnischen Rat mit auf den Weg:
Diese Zahlenangaben sind nur relativ; wenn es die Räumlichkeiten gestatten, kann man den Chor verdoppeln oder verdreifachen und im gleichen Verhältnis die Orchesterbesetzung vergrößern. Sofern eine außergewöhnlich große Anzahl Stimmen – z. B. 700 bis 800 – zur Verfügung steht, darf der Chor als Ganzes nur im Dies irae, Tuba mirum und Lacrimosa eingesetzt werden. Die übrigen Teile sollten nur von 400 Stimmen ausgeführt werden.

(Meine perönliche Anmerkung zu dieser letzten Vorgabe des Komponisten: Es muss ein wenig komisch wirken, wenn gut die Hälfte des Chores quasi "däumchendrehend" während der übrigen Sätze nichtstuend auf der Bühne rumstehen muss...)

Man fragt sich natürlich, wie es allein zur Idee solch gigantischer Aufführungen kommen konnte – ganz abgesehen davon, wie so etwas wohl klingen mag, wenn mehr als 1.000 Ausführende daran beteiligt sind und das Ganze zwangsläufig schwer kontrollierbar und dann wohl auch etwas schwerfällig und damit unpräzise werden dürfte.

Bereits in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten die Engländer nach dem Tod von Georg Friedrich Händel (1759) im Rahmen der Pflege des Erbes seiner englischsprachigen Oratorien damit begonnen, die Aufführungen mit immer größerem personellen Aufwand zu betreiben. Und mit dem nicht nur personell sondern auch zeitlich jeden bisher bekannten Rahmen einer „herkömmlichen“ Sinfonie sprengenden Umfang seiner 1824 uraufgeführten 9. Sinfonie (mit der „Ode an die Freude“ im Schlusssatz) hatte auch Beethoven einen weiteren Markstein gesetzt – offenbar eine Herausforderung an ein „Höher-Schneller-Weiter“, der sich im weiteren 19. Jahrhundert bis hinein ins 20. Jahrhundert nicht wenige Komponisten stellten (man denke an Richard Strauss' sinfonische Dichtungen bis hin zu Gustav Mahlers 1910 uraufgeführter Sinfonie der Tausend oder den 1913 uraufgeführten Gurre-Liedern von Arnold Schönberg) und die damit durchaus auch dem Zeitgeist dieser Epoche mit ihrem uneingeschränkten Fortschrittsglauben entsprachen.

Vielleicht ist auch das schlichte Fehlen von Möglichkeiten der (elektronischen) Klangverstärkung im 19. Jahrhundert ein Faktor für die häufig immer größer werdende Anzahl der vorgesehenen Ausführenden – wer entsprechend Eindruck schindenden „Sound“ wollte, musste eben gleich mehrere Hundert Musiker vorschreiben, andere Möglichkeiten gab es eben noch nicht!

Berlioz kann man jedenfalls in diesem Punkt als einen der Vorreiter dieser immer größere Besetzungen beanspruchenden Aufführungspraxis bezeichnen.
Die Grande messe des morts (so der Originaltitel) entstand 1837 eigentlich als offizielles Auftragswerk anlässlich des Gedenkens an die Opfer der Juli-Revolution von 1830, die für den 28. Juli geplante Aufführung kam dann jedoch aus politischen Gründen nicht zustande, so dass die Totenmesse dann erst am 5. Dezember 1837 zur Ehrung des im Algerienkrieg gefallenen Generals Damrémont im Pariser Invalidendom uraufgeführt wurde – immerhin also in einem monumentalen Gebäude, für das man sich die oben erwähnte Groß-Besetzung von Chor und Orchester dann doch ganz gut vorstellen kann!

Das Requiem muss jedenfalls einen großen Eindruck bei den Zuhörern hinterlassen haben und gehört somit zu den nicht gerade zahlreichen Erfolgen des leider häufig etwas glücklosen Visionärs Hector Berlioz, der – so sehe ich das jedenfalls - seinem Publikum einfach oft um mehrere Jahre (oder gar Jahrzehnte) voraus war!

Um ein Haar hätte es während der Uraufführung sogar eine schwerwiegende Panne gegeben, als der Dirigent Francois-Antoine Habeneck kurz vor der entscheidenden Stelle zu Beginn des Tuba mirum (wo es einen Tempowechsel gibt und die 4 im Raum verteilten Zusatzorchester erstmals zum Einsatz kommen) seinen Einsatz verpasste, weil er damit beschäftigt war, eine Prise Schnupftabak zu sich zu nehmen (!), wie Berlioz berichtet. Glücklicherweise saß er direkt neben dem Dirigenten und sprang auf, als er bemerkte, was da vor sich ging und konnte das neue Tempo durch entsprechende Gestik gerade noch rechtzeitig angeben, so dass letztlich noch alles gut ging. Ob es sich bei dieser aus heutiger Sicht geradezu unglaublich erscheinenden Nachlässigkeit um reine Schusseligkeit oder Boshaftigkeit eines Berlioz-Gegners handelte (von denen es wohl einige gab, da dieser nun wirklich kein unumstrittener Künstler war!), lässt sich nicht mehr eindeutig klären. Bezeichnend ist jedenfalls, dass sich Berlioz weniger darüber aufzuregen schien, dass Habeneck überhaupt während des Dirigierens Schnupftabak zu sich nahm, sondern, dass er es ausgerechnet an dieser Stelle tat!

Der oben erwähnte, nur mit Sopran, Tenor und Bass zu besetzende Chor soll – das habe ich an mehreren Stellen gefunden – französischer Chortradition entsprechen (was das allerdings genau bedeuten soll, ließ sich dann aber leider nicht genau ermitteln…).
Gab es in Frankreich seinerzeit keine Altistinnen oder was soll dieses merkwürdige, ja geradezu diskriminierende Übergehen unserer tiefsingenden Sangesschwestern?
Dass gerade im 19. Jahrhundert die singenden Herren in vielen Chören in der Mehrzahl waren, lässt sich allein schon an zahlreichen Chorwerken ablesen, in denen die Männerstimmen deutlich mehr gefordert werden als die der Damen – das sind natürlich besetzungstechnische Zustände, die aus heutiger Sicht geradezu paradiesisch anmuten und moderne Chorleiter (und Chorleiterinnen natürlich) jedoch immer wieder erneut vor schwere Probleme stellen, da in heutigen Chören leider die Herrenstimmen chronisch unterbesetzt sind und man in der Regel einen deutlichen Frauenstimmenüberhang hat!
Und dann wird man mit einem Werk wie dem Berlioz-Requiem konfrontiert, in dem man strenggenommen sogar noch auf die Altistinnen verzichten soll! Das stellt so manchen Chor wohl vor schier unlösbare Probleme – gut, dass sich für ein großdimensioniertes Konzertprojekt wie dieses in der Regel eh zwei bis drei mittlere bis große Chöre zusammentun sollten, um es überhaupt realisieren zu können (wobei dadurch im so entstehenden Gesamtverhältnis die Herrenstimmen in der Regel weiterhin in der Unterzahl bleiben dürften…)
In der Regel löst man das Problem mit den „vernachlässigten“ Altistinnen dann dahingehend, dass diese den auch im Berlioz-Requiem häufig vorhandenen Part des 2. Soprans übernehmen, dessen Töne in der Regel etwas tiefer liegen als die des 1. Soprans (aber wer übernimmt den Part der mindestens genauso häufig geteilten Tenöre und Bässe, diese raren Exemplare wachsen ja leider nicht auf den Bäumen…?!)
Bezeichnenderweise schafft es selbst Berlioz nicht, diese merkwürdige „Tradition“ konsequent durchzuhalten – im Sanctus ist dann plötzlich und überraschend eine eigene Altstimme in der Partitur vorgesehen (die in der oben erwähnten Besetzungsliste ja gar nicht auftaucht, was ein eindeutiges Zeichen dafür ist, dass sich hinter den 2. Sopranen wohl auch schon zu Berlioz‘ Zeiten bereits die Altistinnen „versteckt“ hielten…). Jedenfalls fragt man sich schon, warum der Komponist dann nicht gleich so konsequent war und von vornherein eine eigene Altstimme notiert hat? (Künstler!!!)

Seine Grande messe des morts unterteilt Berlioz in 10 Sätze:

-Introitus: Requiem und Kyrie eleison
-Sequenz: Dies irae und Tuba mirum
--Quid sum miser
--Rex tremendae
--Quaerens me
--Lacrimosa
-Offertorium: Domine Jesu Christe
--Hostias
-Sanctus
-Agnus Dei (und Communio)

Allein 5 Sätze veranschlagt Berlioz für seine Vertonung der Sequenz – hier liegt also eindeutig der Schwerpunkt dieser Requiem-Komposition.

Die oben aufgelistete Orchesterbesetzung und hier vor allem die 4 zusätzlichen Bläserensembles und das umfangreiche Schlagwerk setzt Berlioz – leider, muss man fast sagen – ausgesprochen sparsam ein:
Lediglich im Dies irae/ Tuba mirum, im Rex tremendae und im Lacrimosa wird diese aufwendige (und live sicher enorm beeindruckende) „Raumklang-Aufstellung“ vorgeschrieben. Die große Trommel und zumindest ein Beckenpaar dürfen dann immerhin im Sanctus nochmal ganz dezent und leise ein paar Töne von sich geben, das war’s dann aber auch schon!

Ehrlich gesagt kann ich verstehen, dass man diesen besetzungstechnischen Aufwand vielleicht auch unter dem Aspekt scheut, dass der ganze Zinnober lediglich für ein paar wenige Minuten einer im Ganzen immerhin fast anderthalbstündigen Komposition veranstaltet werden muss!

Verdi hat in seinem Requiem (das zwar auch einen relativ großen Orchesterapparat vorsieht, aber doch bei Weitem keinen derart aufwendigen) meiner Meinung nach das Ganze praktikabler gelöst: Die wilden (und beim Publikum ausgesprochen populären) Orchesterausbrüche, die bei ihm erstmals zu Beginn des Dies irae über die Zuhörer hereinbrechen, kommen im Verlauf der Komposition mehrfach vor, zuletzt im letzten Satz, dem Libera me, dessen Text sogar das „Dies irae“ nochmal wörtlich zitiert – ich finde diese Lösung auch von der Dramaturgie her weitaus besser gelöst als im Fall von Berlioz‘ Requiem, wo man weiß, dass nach dem Ende des Lacrimosa die Mitglieder der 4 Fernorchester (und die meisten der zahlreichen Schlagzeuger) bereits Feierabend haben, was doch eigentlich schade ist, wo man die Musiker eh schon mal zur Stelle hat!

Berlioz hätte vielleicht noch wie Verdi (oder Suppé) ein Libera me als letzten Satz seiner Totenmesse hinzufügen sollen, das hätte ihm Gelegenheit gegeben, hier noch einmal alle orchestralen Register zu ziehen. So endet das Requiem jetzt ruhig und versöhnlich mit dem Agnus Dei, bzw. der angedeuteten Communio, die sich allerdings als eine bis auf wenige Schlusstakte wörtliche Wiederholung des 2. Teils des ersten Satzes entpuppt (ab den Worten „Te decet hymnus“, die unverändert übernommen werden, was liturgisch gesehen an dieser Stelle so nicht ganz korrekt ist!), was dem Riesenwerk dadurch zwar eine musikalische Geschlossenheit verleiht, weil der Bogen zum Anfang geschlagen wird, zumindest mich als Zuhörer aber doch etwas enttäuscht, weil am Ende so gar nix nennenswert Neues mehr kommt – aber das ist eben die künstlerische Freiheit, für die sich Berlioz genauso bewusst entschieden hat, wie für den oben erwähnten, meiner Meinung viel zu knappen Einsatz der von ihm vorgeschriebenen Schlagzeuger- und Blechbläsermassen.

Ich kann mir gut vorstellen, dass die Effekte, wenn die im Raum verteilten Fernorchester mit Beginn des Tuba mirum loslegen, ziemlich überwältigend sein müssen und sicher auch keinen heutigen Zuhörer unbeeindruckt lassen! Leider hatte ich noch keine Gelegenheit, mir dieses Requiem einmal live im Konzert anzuhören – und die CD ist an diesen Stellen eindeutig überfordert: Sie kann vielleicht noch die losbrechenden orchestralen Gewalten annähernd wiedergeben, aber gerade die so wichtigen räumlichen Effekte bleiben hier natürlich zwangsläufig auf der Strecke…

Im ersten Satz ahnt man noch nichts von diesem Spektakel, denn Berlioz beginnt sein Requiem ganz verhalten und mit eher demütiger Geste. Das recht knapp gehaltene Kyrie, das sich unmittelbar an das einleitende Requiem aeternam anschließt, wirkt ebenfalls verzagt und bittend und steht in ziemlichem Gegensatz zu den fast trotzig-aufbegehrend wirkenden großen Kyrie-Fugen, wie man sie beispielsweise bei Mozart und Suppé an dieser Stelle antrifft!

Und auch den Beginn der Sequenz mit dem Dies irae lässt Berlioz ganz unerwartet sehr ruhig und im Pianissimo angehen (was für ein Gegensatz beispielsweise zu Verdi, bei dem bereits an dieser Stelle die ganze Wucht des Jüngsten Gerichts loszubrechen scheint!) und steigert im weiteren Satzverlauf geradezu genussvoll die Spannung immer mehr, bis es dann endlich mit Beginn des Tuba mirum auch bei ihm richtig „zur Sache geht“ – die Stelle, auf die das Publikum bereits seit Beginn gewartet hat (und die wie erwähnt in der Uraufführung um ein Haar danebengegangen wäre)!
Man muss hier die Bässe bewundern, die zunächst ganz allein gegen diese Wucht des Orchesters ansingen müssen (was dazu verleiten dürfte, aus dem „Singen“ ein „Schreien“ oder gar „Brüllen“ werden zu lassen, was natürlich unbedingt zu vermeiden ist!)

Im Dies irae ist mir übrigens eine Stelle aufgefallen, an der die Tenöre unablässig in einem stets gleichbleibenden motorischen Rhythmus den Text deklamieren, die mich spontan an das Dies irae im Requiem von Karl Jenkins erinnert hat. Ob Mr. Jenkins sich am Ende hier die Inspiration für seine eigene Komposition dieses Satzes geholt hat?

Berlioz hat – das muss man ihm lassen – die einzelnen Sätze seines Requiem wirklich sehr abwechslungsreich gestaltet und eine große stilistische Bandbreite aufgeboten, was (wenn man das denn unbedingt negativ sehen möchte) dem ganzen Werk allerdings auch einen etwas uneinheitlichen Charakter verleiht.

So wechseln sich die groß besetzten Sätze Dies irae, Rex tremendae und Lacrimosa mit den eher kammermusikalisch besetzten, auch vom Umfang her deutlich knapper dimensionierten Sätzen Quid sum miser (bis auf wenige Takte nur von den Tenören bestritten) und Quaerens me (ein ziemlich kniffliger, bis zu sechsstimmiger a-cappella-Chorsatz) ab.

Am meisten überzeugt mich persönlich das wirklich grandios gesteigerte Lacrimosa mit seinen zu Beginn so charakteristisch „zerklüfteten“ Begleitfiguren und den leidenschaftlich bewegten Gesangslinien (an dieser Stelle erklingt für mich das erste Motiv, das beim Hören auch mal „hängenbleibt“, während bis hierhin eher etwas sperrigere und leider nicht besonders eingängige Themen erklungen sind).
In diesem Lacrimosa kommt abschließend nochmal der gesamte orchestrale Wahnsinnsapparat dieses Requiems wirkungsvoll zum Einsatz und eigentlich würde dieser Satz auch ein würdiges Finale der gesamten Komposition abgeben, aber wir haben es hier immerhin mit einer geistlichen Komposition zu tun und nicht mit einer Oper oder Sinfonie, so dass hier deart profane dramaturgische Gesichtspunkte doch eher eine untergeordnete Rolle spielen sollten (auch wenn sie – wie schon erwähnt – manch anderem Requiem-Komponisten meiner Meinung nach doch etwas besser gelungen sind als Berlioz, aber das ist halt Ansichtssache)!

Faszinierend finde ich auch das Offertorium, das mit dem Domine Jesu Christe beginnt: Auf die Idee, den Chor während fast des gesamten, nicht gerade kurzen Satzes lediglich ein aus den Tönen A-B-A bestehendes Motiv singen zu lassen, dürfte zu Berlioz‘ Zeit außer diesem experimentierfreudigen Visionär wohl auch kein anderer Komponist gekommen sein!
Diese Idee mutet eher wie ein aus dem 20. Jahrhundert stammender kompositorischer Einfall an, verfehlt aber seinen irgendwie fast schon hypnotische Wirkungen erzielenden Effekt nicht: Das diesen monoton und litaneiartig anmutenden Gesang begleitende Orchester entfaltet währenddessen eine reiche Palette an Klangfarben und musikalischen Ideen, so dass man hier fast schon davon sprechen könnte, dass der Chor das Orchester begleitet und nicht umgekehrt. Und wenn sich am Ende des Satzes beim Wort „Promisisti“ dann plötzlich und unerwartet der Chor im Pianissimo wie ein Fächer zur Sechsstimmigkeit auseinanderfaltet, hat das nach der vorangegangenen minutenlangen Ein- bzw. Zweitönigkeit natürlich eine fantastische Wirkung!

An Sätzen wie diesem zeigt sich die unglaubliche Modernität der Musik von Hector Berlioz, der eben nicht nur ein begnadeter Maler mit den Klangfarben des Orchesters war, sondern auch für seine Zeit ganz ungewöhnliche kompositorische Ideen hatte!

Unkonventionell wie Berlioz war, überrascht es auch nicht, wenn man feststellt, dass er an mehreren Stellen des Requiem-Textes (hier vor allem in der Sequenz und dem Offertorium) in eigener Regie Verse einfach weggelassen, bzw. umplatziert hat, wie es ihm offenbar gerade für seine kompositorische Absicht opportun erschien.
Außer vielleicht Franz Schubert in seinen Messkompositionen fällt mir sonst kein Komponist ein, der es im frühen 19. Jahrhundert (geschweige denn früher) gewagt hätte, eigenmächtig Veränderungen an liturgischen Texten vorzunehmen!

Im vorletzten Satz des Requiem, dem Sanctus, kommt dann zum ersten und einzigen Male in der gesamten Komposition ein Solist zum Vortrag – ein Solotenor singt, begleitet vom dreistimmigen Damenchor, den Sanctus-Text. Da kann man sich natürlich fragen, warum denn nun kurz vor Schluss nun doch plötzlich noch ein Solist zum Einsatz kommt (und dann auch nur einer), nachdem der Chor den Rest des Requiem ja auch schon allein bestritten hat? Interessant ist in diesem Zusammenhang vielleicht noch der Hinweis, den Berlioz in seine Partitur reingeschrieben hat: Sollte nämlich kein Solotenor für diesen Satz zur Verfügung stehen, dann kann er ersatzweise auch von 10 Chor-Tenören (quasi als „Solo-Dezimett“, oder wie man so etwas nennen müsste) ausgeführt werden. Also das würde ich ja gern mal hören, denn dieser Part für den Solotenor ist schon recht anspruchsvoll und sollte natürlich auch in einer möglichst schönen, lyrischen und unangestrengt wirkenden Linie vorgetragen werden!

Es stellt sich mir auch die Frage, warum Berlioz ausgerechnet das Sanctus für diesen einzigen Einsatz einer Solostimme in seinem Requiem gewählt hat, einen Satz, der für gewöhnlich eher einen kurzen, hymnischen Charakter besitzt und somit in der Regel immer dem Chor überlassen wird (das folgende Benedictus ist dafür dann in der Regel nochmal ein lyrischer Glanzpunkt, der meist von Solostimmen ausgeführt wird – dieser Teil wurde allerdings von Berlioz gar nicht erst vertont!).

Geradezu klassisch (und für Berlioz‘ Verhältnisse unerwartet traditionell) mutet dann die auf diesen Solovortrag unmittelbar folgende ausgewachsene, nach allen Regeln der Kunst ausgeführte dreistimmige Chorfuge auf die Worte “Hosanna in excelsis“ an – wie man an dieser Stelle merkt, beherrschte der „revolutionäre Romantiker“ sein kompositorisches Handwerk souverän!

Eigenwillig wird das Ganze allerdings direkt nach Beendigung der Hosanna-Fuge, denn während nach dem Sanctus nun eigentlich das Benedictus folgen müsste, wird der komplette Satz nahezu unverändert wiederholt – der Solotenor hebt nun also erneut mit seinem sehr ausdrucksvollen Sanctus-Gesang an, diesmal jedoch noch zusätzlich ganz leise von gelegentlichen dumpfen Schlägen auf die große Trommel und einigen (sicher jedoch nicht allen) Becken begleitet, was einen recht merkwürdigen, so bislang auch noch nicht gehörten Effekt mit sich bringt, von dem man nicht recht weiß, was man davon halten soll…
Weiter passiert aber nichts, es wird also kein neuerlicher dramatischer Höhepunkt vorbereitet, sondern nun auch noch einmal die komplette Hosanna-Fuge wiederholt, was zumindest wieder der Tradition entspricht. Alles in allem ein auf seine spezielle Weise erneut ungewöhnlicher Satz (trotz der unüberhörbaren Anklänge an „Althergebrachtes“), der einige Rätsel aufgibt.

Ich hatte ja schon von der großen Vielfalt gesprochen, die Berlioz in puncto Besetzung, Instrumentation und eben auch den verwendeten Stilarten in den zehn Sätzen seines Requiem aufzeigt. Und so stellt die Hosanna-Fuge neben Passagen in dieser Totenmesse, die beispielweise eher an gregorianische Mönchgesänge erinnern oder ein wenig an Palestrinas Chorwerke, eben einen stilistischen Gruß an das 18. Jahrhundert dar!

Vom mich persönlich etwas enttäuschenden letzten Satz, dem Agnus Dei mit der angedeuteten Communio als Abschluss hatte ich ja schon geschrieben.

So bleibt bei mir von diesem Riesenwerk ein etwas zwiespältiger Eindruck zurück – es bietet dem Zuhörer wie erwähnt eine große stilistische und besetzungstechnische Vielfalt an, enthält einige (leider im Verhältnis zum Gesamtwerk viel zu wenige) überwältigende Raumklangexperimente, eine für seine Zeit von aktuellen musikalischen „Trends“ (die in der Regel dann hauptsächlich aus dem Bereich der Oper stammen müssten) erstaunlich unabhängige Musik, leider recht wenige packende Melodien (außer vielleicht im Lacrimosa und Sanctus) und mit dem Fehlen der Chor-Altstimmen bei gleichzeitiger größerer Gewichtung der Männerstimmen eine zumindest für heutige Zeit knifflige Besetzungsproblematik und damit in jedem Fall eine große (und lohnende) Herausforderung für einen oder besser gleich mindestens zwei große Konzertchöre.
Wie eingangs erwähnt: Mir fehlt bisher noch das persönliche „Aha“-Erlebnis bei diesem Werk – es gibt in der Konzertliteratur einige Requiem-Vertonungen, die mir weit besser gefallen!

Nichtsdestotrotz erfreut sich das Berlioz-Requiem auf dem Tonträgermarkt einer recht großen Beliebtheit – neben den beiden anderen „Tophit“-Totenmessen von Mozart und Verdi dürfte es sich zumindest hier tatsächlich um die Nr. 3 im Requiem-Olymp handeln, so wie es in den Konzertführern immer wieder nachzulesen ist! Andere Totenmessen liegen mit Abstand nicht in so zahlreichen Einspielungen vor, wie diese drei!

Ich habe mich aktuell etwas intensiver mit einer offenbar 1979 erstmals erschienenen Aufnahme mit dem Cleveland Orchester und Chor unter der Leitung von Lorin Maazel und der 1993 eingespielten Interpretation des Boston Symphony Orchestra mit dem Tanglewood Festival Chorus unter der Leitung von Seiji Ozawa beschäftigt.

Mir gefällt der irgendwie plastischere, direktere Klang der Ozawa-Aufnahme deutlich besser als der etwas unschärfere der älteren Maazel-Einspielung, zumal dort auch die Chor-Soprane gelegentlich etwas unpräzise Einsätze abliefern. Die im Vergleich zu Maazel flottere, zupackende Interpretation Ozawas sagt mir einfach mehr zu – so benötigt Ozawa beispielsweise für das ruhige Offertorium (Domine Jesu Christe) ganze 3 Minuten (!) weniger als Maazel, wobei Ozawa allerdings auch eine – meines Wissens 1851 entstandene - Fassung dieses Satzes aufführt, die um einige Takte gekürzt wurde, was dem Ganzen aber keineswegs schadet! Dafür gefällt mir aber das Lacrimosa in der Maazel-Aufnahme auch recht gut; vielleicht, weil es wiederum 2 Minuten länger dauert, als in der flinkeren Ozawa-Interpretation? Man weiß es nicht… ;-)

Aufgrund der wirklich überreich vorhandenen verschiedenen Aufnahmen dieses Werks lohnt sich für jede(n) Interessierte(n) auf jeden Fall ein ausführlicher Vergleich, bei dem man für sich selbst bestimmt viel Schönes und überzeugend Umgesetztes finden kann. Gerade solche „Hör-Safaris“ finde ich eigentlich immer ganz besonders spannend!