Sonntag, 31. März 2013

Fundstück der Woche

Neuerscheinung bei EMI Classics

Ohne Worte ...

Musik zur Passionszeit (IV) - Bachs Markus-Passion (BWV 247): Musik unbekannt? (Teil 3)

Bachs Markus-Passion zum Dritten – ich glaube, man merkt, dass mich dieses Thema fasziniert…

Zum Abschluss der diesjährigen Passionszeit heute noch ein paar Bemerkungen zu verschiedenen Aufnahmen der Markus-Passion, mit denen ich mich etwas eingehender beschäftigt habe.

Zunächst eine relativ neue Aufnahme aus dem Jahr 1997 mit folgender Besetzung:

Christiane Oelze, Sopran
Rosemarie Lang, Alt
Peter Schreier, Tenor
Wolf Euba (Sprecher, Evangelist)
Favorit- und Capellchor Leipzig
Neues Bachisches Collegium Musicum Leipzig
Peter Schreier, Leitung

Die hier eingespielte Fassung der Markus-Passion ist die älteste und zugleich puristischste, nämlich die im Jahr 1964 von Diethard Hellmann erstellte Rekonstruktion, die zugleich auch die Grundlage für die meisten nachfolgenden Fassungen dieser Passionsmusik gebildet hat (meine Erläuterungen zu den Eigenarten dieser Version finden sich im zweiten Teil).

Da Hellmann keinerlei Eigenkompositionen oder Ergänzungen aus Fremdwerken zulässt, bzw. auf Übernahmen/ Parodien von Bach-Stücken verzichtet, deren Verwendungsmöglichkeit in der Markus-Passion auf noch theoretischeren Füßen stünde, als die von den Bachforschern Wilhelm Rust und Friedrich Smend "identifizierten" Stücke das eh schon tun, ist diese Version sicher die "kargste" - sie beinhaltet quasi lediglich den Kern dessen, was nach wie vor als einigermaßen gesichert zur Markus-Passion Johann Sebastian Bachs im Jahr 1731 gehört haben dürfte.

Daher wird der Evangelientext in der hier vorgestellten Aufnahme auch von einem Sprecher vorgetragen, die Choräle werden ohne Instrumentalbegleitung vom Chor a-cappella vorgetragen (was im Rahmen der ursprünglichen Aufführung dieser Passion sicher auch nicht so der Fall war - aber die Art der Original-Instrumentierung der Choräle ist eben auch nicht gesichert! Eigentlich fast schon ein Wunder, dass Hellmann sich überhaupt auf konkrete Choralsätze Bachs festgelegt hat...).

Die ursprünglich bei PHILIPS Classics erschienene Hochpreis-Version sah so aus:

Mittlerweile ist diese Einspielung jedoch erfreulicherweise auch in der Low-Budget-Reihe eloquence erschienen, jetzt allerdings unter dem Label der ebenfalls zum UNIVERSAL-Konzern gehörenden DECCA (warum auch immer?).

Der Chor in dieser Aufnahme klingt sehr gut - transparent, deutliche Artikulation. Peter Schreier wählt zügige Tempi und prägnant akzentuierte Rhythmen, was vor allem dem Eingangs- und Schlusschor sehr gut bekommt. Auch das Instrumentalensemble klingt nach einer angenehmen Mischung aus größtenteils modernem Instrumentarium und historisch informierter Interpretationsweise!

Wenn diese rekonstruierte Version denn nun tatsächlich der verschollenen Originalpartitur Bachs nahekommt, scheint dieser gerade für den Charakter des Eingangschors der Markus-Passion - quasi dem "Eintrittsportal" in seine Passionsmusik - eine ganz neue Aussage gefunden zu haben, die doch erheblich von dem hymnusartigen Charakter des Eingangschores der Johannes-Passion und dem wie ein endloser Zug Klagender am Hörer vorbeiziehenden Eröffnungssatz der Matthäus-Passion abweicht:
So klingt das "Geh, Jesu, geh zu deiner Pein!" rhythmisch sehr akzentuiert – der Satz erinnert mich spontan an einen Tanzsatz aus einer französischen Suite vom königlichen Hof in Versailles - und klingt eigentlich überhaupt nicht trauernd oder zerknirscht, sondern eher freudig-erwartungsvoll (aber nicht jubelnd!). Hier spielt wohl das "Ostergeschehen im Hinterkopf" schon eine Rolle!

Da in der Hellmann-Version die Arie “Angenehmes Mord-Geschrey“ mangels passender Vorlage unvertont blieb, erklingen in dieser Einspielung also auch nur fünf Arien (statt der sechs, die die vollständig erhaltene Textvorlage eigentlich enthält), davon auch eine mit Peter Schreier als Solist, den ich lange nicht mehr gehört habe, schon gar nicht in einer Aufnahme, die immerhin aus den späten 1990er Jahren stammt! Die meisten Aufnahmen mit ihm entstanden in den 1970er Jahren. So gesehen fand ich es interessant, ihn hier mal wieder zu hören. Seine Stimme scheint ein wenig nachgedunkelt zu sein, aber ansonsten klingt er routiniert und so angenehm anzuhören wie früher!

Am ungewohntesten in dieser Aufnahme sind sicherlich die gesprochenen Bibeltexte aus dem Markus-Evangelium, die hier der bekannte Rezitator Wolf Euba vorträgt (er ist seit Jahren vor allem beim Bayerischen Rundfunk tätig). Er trägt sehr eindrücklich den Text (weitgehend) in der alten Übersetzung Luthers vor, die ja auch die Textgrundlage für die verschollenen Rezitative des Evangelisten der Markus-Passion bildete.

Manko der dafür immerhin supergünstigen CDs der eloquence-Reihe sind allerdings die äußerst sparsam ausgestatteten "Booklets". Immerhin wird hier darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Markus-Passion um eine Rekonstruktion durch Diethard Hellmann handelt.

Die Trackliste stellt sich allerdings etwas missverständlich so dar:
1. Geh, Jesu, geh zu deiner Pein! (Chor)
2. Und nach zwei Tagen war Ostern (Rezitativ: Evangelist)
3. Mir hat die Welt trüglich gericht't (Choral)
4. Und am ersten Tag der süßen Brote (Rezitativ: Evangelist)
...
Wer immer diese Trackliste zusammengestellt hat, konnte sich anscheinend nicht vorstellen, dass es bei dieser Version der Markus-Passion eben keine Rezitative sondern halt „nur“ einen Erzähltext gibt.
Und wer immer nun unwissend diese CD abspielt und ins "Booklet" mit der Trackliste schaut, der wundert sich sicher sehr, was das mit diesem komischen Evangelisten denn soll, der die "ausgeschilderten" Rezitative nicht mal wie eigentlich üblich singen kann…
Wahrscheinlich muss man sogar dankbar sein, dass Herr Euba nicht auch noch mit dem evangelistenüblichen "Tenor"-Hinweis in der Besetzungsliste versehen wurde…


Dann gibt es eine Einspielung von BRILLIANT Classics - leider wie schon ihr Gegenstück mit der Aufnahme der Lukas-Passion beim selben Label ohne Angabe zum Aufnahmedatum, wobei ich auch hier einen Zeitpunkt Mitte der 1990er Jahre vermute.
Wie immer bei BRILLIANT Classics ist die Aufnahme sehr preisgünstig (und meines Wissens auch Teil der dort erschienenen Bach-Gesamteinspielung), zum anderen aber leider auch äußerst sparsam ausgestattet (zumindest die Version, die ich besitze) - 2 CDs plus Hülle und eine Track- und Besetzungsliste auf der Rückseite. Das war's - kein Booklet, nix ...
Allerdings ist diese Einspielung mehrfach mit anderen Covern aufgelegt worden – vielleicht ist eine dieser anderen Auflagen etwas besser ausgestattet gewesen?

Es musizieren:
Rogers Covey-Crump (Evangelist, Tenor)
Gordon Jones (Christusworte, Bariton)
Connor Burrowes (Knabensopran)
David James (Altus)
Paul Agnew (Tenor)
Teppo Tolonen (Bariton)
The Ring Ensemble of Finland
European Union Baroque Orchestra
Roy Goodman, Leitung

Laut CD-Hülle wurde die aus dem Jahr 1993 stammende Rekonstruktions-Version von Simon Heighes eingespielt, wie einem kleinen, aber immerhin vorhandenen Hinweis neben dem Werktitel zu entnehmen ist.
Aber irgendwas scheint da nicht ganz zu stimmen mit dieser Angabe (zu den Besonderheiten der Heighes-Version siehe auch hier den zweiten Teil) - ich konnte an manchen Stellen des Evangelistenberichts zwar die zu erwartenden Passagen aus der Markus-Passion von Reinhard Keiser heraushören, die in dieser Fassung in Ermangelung der originalen Bach-Noten Verwendung findet, aber an anderen Stellen erklangen auch wieder irgendwelche anderen Vertonungen - vor allem in einigen Turbae-Chören...
Außerdem beginnt die Keisersche Passionshandlung ja erst später (Ölberg-Szene), während bei Bach schon die vorhergehenden Geschehnisse vertont wurden.
Es stellt sich also die Frage, was für eine Musik in den Rezitativen ganz zu Beginn dieser Einspielung zu hören ist, die von Keiser kann es ja nicht sein.
Aus Bachs Weihnachtsoratorium wurden hier übrigens mindestens 2 Anleihen gemacht:
Die Hohenpriester stellen direkt zu Beginn "Ja nicht auf das Fest, auf das nicht ein Aufruhr werde!" fest und singen dabei allerliebst zur Melodie von "Lasset uns nun gehen gen Bethlehem" (so singen es die Hirten im WO in der 3. Kantate).
Und später in der Kreuzigungs-Szene wird das "Pfui, wie fein zerbrichst du den Tempel" auf die Weise der Weisen aus dem Morgenland gesungen (WO, 5. Kantate): "Wo ist der neugebor'ne König der Jüden?".
Irgendwie stört mich das schon sehr, wenn solch bekannte Stellen hier "zweckentfremdet" werden, die im Weihnachtsoratorium einen völlig anderen Charakter haben und zudem noch mehr als 3 Jahre nach der Markus-Passion von Bach komponiert wurden!
Außerdem hätte zumindest für das "Pfui!"-Chörchen eine Vorlage von Reinhard Keiser existiert - aber man scheint sich in dieser Aufnahme hinsichtlich der Vorlagen nach Belieben und wohl auch etwas willkürlich bedient zu haben...
Sollte dies alles wirklich so von Simon Heighes stammen, wie auf dem Cover angegeben??

Das Tempo der Einspielung ist deutlich langsamer als in der Schreier-Aufnahme (denn es werden dieselben 5 Arien und der Eingangs- und Schlusschor aus der allgemein als Grundlage geltenden Hellmann-Version verwendet, so dass zumindest hier ein Vergleich möglich ist) und die ganze Goodman-Aufnahme wirkt vom Klang her nicht so klar und deutlich wie die von Schreier.
Auch die Aussprache der allesamt nicht deutschsprachigen Solisten und des finnischen Chores wirkt (Unsicherheiten wegen der Sprachbarriere?) undeutlicher und auch irgendwie teilnahmsloser...
Die Besetzung der hohen Solo-Stimmen mit Knabensopran und Altus mag ja historisch korrekt sein, aber mich stört das gewaltig, zumal wenn es so klingt, wie in dieser Aufnahme:
Der Altus David James singt streckenweise (zumindest für meine Ohren) wie eine Parodie eines Altisten: Er heult und jault und seine Stimmfärbung finde ich nur schwer erträglich.
Und der Knabensopran ist (wie oft in solchen Besetzungen) irgendwie mit dem Ausdrucksgehalt seiner beiden Arien total überfordert.
Außerdem hat (nicht nur) er hörbare Schwierigkeiten mit dem deutschen Text. Ich bin nicht sicher, ob er wirklich weiß, was er da eigentlich singt.
Und da er seinen Text in den Arien ständig wiederholen muss, nervt es irgendwann, wenn er zum x-ten Mal "Errrr kommt, errr isss vorhanden" oder "Angenehmes Mordsgeschrei" von sich gibt.
Es mag ja sein, dass es bei Pilatus damals ein Mordsgeschrei gab, aber das ist ja wohl definitiv was anderes, als das im Arientext eigentlich gemeinte "Mord-Geschrei"...
Mein Fazit zu dieser Aufnahme also: Interessante Fassung der Markus-Passion (da man nicht zu 100% weiß, von wem sie nun eigentlich stammt) zu einem Spottpreis.
Aber das rächt sich eben durch die insgesamt etwas lieblose Interpretation (und das nicht vorhandene Booklet mit den hier eigentlich unentbehrlichen Erläuterungen). Schade!

Die derzeit neueste Aufnahme der Markus-Passion entstand im März 2009 in der Dresdener Frauenkirche und ist als Konzertmitschnitt bei Carus erschienen – hier dann auch zur Abwechslung mal mit ausführlichem Booklet, in dem sogar der komplette Text der Passion abgedruckt ist!

Aufgeführt wird hier wiederum die Fassung von Diethard Hellmann, also lediglich 5 Arien, Choräle a-cappella, Evangelistentext wird von einem Sprecher vorgetragen. Lediglich die Choralsätze, die im Rahmen der beim Carus-Verlag im Jahr 2001 erfolgten Neuedition der Hellmann-Rekonstruktion durch Andreas Glöckner aufgrund der neu hinzugezogenen Choralsammlung des Bach-Schülers Johann Ludwig Dietel nochmal neu überarbeitet wurden, stellen eine Ergänzung bzw. Abweichung zur ursprünglichen Hellmann-Version dar.

An dieser Einspielung wirken mit:
Dominique Horwitz (Sprecher, Evangelist)
Anja Zügner und Dorothea Wagner (Sopran)
Clare Wilkinson und Silvia Janak (Alt)
Ensemble amarcord
Kölner Akademie
Michael Alexander Willens, Leitung

Das sich aus fünf ehemaligen Thomanern zusammensetzende Ensemble amarcord stellt – zusammen mit den Solistinnen – den recht klein ausfallenden, dafür aber transparent und textdeutlich klingenden Chor in dieser Aufnahme; der erste Tenor Wolfram Lattke übernimmt aber auch die Solo-Arie zu Beginn des zweiten Teils der Passion.

Im Gegensatz zur Schreier-Einspielung wirken vor allem die orchesterbegleiteten Stücke nicht ganz so „knackig-frisch“ und akzentuiert, auch ist das gewählte Tempo etwas langsamer – mir gefällt die Interpretation Schreiers (gerade beim Eingangs- und Schlusschor) hier deutlich besser.

Mit Dominique Horwitz als Sprecher bin ich nicht so ganz glücklich – vor allem im ersten Teil scheint er seine Rolle als Evangelist noch nicht ganz gefunden zu haben, sein Vortragstonfall wirkt an einigen Stellen etwas merkwürdig, teilweise betont er den zugegeben etwas altertümlichen Luther-Text auch falsch. Erst im zweiten Teil findet er dann doch noch zu einer recht ansprechenden, dramatisch motivierten Erzählweise. Warum allerdings auch in dieser Einspielung sein Part im Booklet wiederum als Rezitativ deklariert wird, weiß ich beim besten Willen nicht…

Völlig außer Konkurrenz steht im Vergleich hierzu die eigenwillige Rekonstruktion der Markus-Passion des Niederländers Ton Koopman, der sich komplett von den bisher erfolgten Rekonstruktionsansätzen löste und seinen ganz eigenen Weg bei der Auswahl zu parodierender Stücke aus dem großen “Fundus“ des Bach-Oeuvre zur “Wiederherstellung“ der verlorenen Musik für dieses Werk ging – hierzu leider aber keine konkreten Hinweise im Booklet der im September 1999 entstandenen Einspielung macht, was ich wahnsinnig schade (und auch ein bisschen merkwürdig) finde...

Es musizieren:
Christoph Prégardien (Evangelist, Tenor)
Peter Kooy (Christusworte, Bass)
Sibylla Rubens (Sopran)
Bernhard Landauer (Altus)
Paul Agnew (Tenor)
Klaus Mertens (Bariton)
Boys of the Breda Sacrament Choir
The Amsterdam Baroque Orchestra & Choir
Ton Koopman, Leitung

Musikalisch gibt es an der Umsetzung dieser Version nichts auszusetzen – es musiziert ein routiniertes und klanglich überzeugendes Ensemble, allen voran Christoph Prégardien als Evangelist, aber auch der famose Klaus Mertens, den ich sehr gerne höre!

Eines muss man Ton Koopman lassen: Er hat Bachs Tonfall aufgrund seiner lebenslangen intensiven Beschäftigung mit dessen Musik so verinnerlicht, dass seine Vertonung der recht umfangreichen Evangelistenrezitative und der Turbae-Chöre (also der Äußerungen der Priester, Soldaten und Volksmenge) wirklich faszinierend authentisch klingen – wenn man es nicht wüsste, man würde meinen, dass hier „echte“ Barockmusik erklingt und nicht eine ausgesprochen gekonnte Nachschöpfung vom Ende des 20. Jahrhunderts!

Freitag, 29. März 2013

Musik zur Passionszeit (IV) - Bachs Markus-Passion (BWV 247): Musik unbekannt? (Teil 2)

Jetzt also noch ein paar Informationen zu den ganz unterschiedlichen Versuchen, die in den vergangenen 50 Jahren unternommen wurden, die bis dato lediglich theoretisch existente Markus-Passion von Johann Sebastian Bach zu rekonstruieren und wieder zum Erklingen zu bringen:

Im März 2003 erschien in der leider nicht mehr erscheinenden Chormusikzeitschrift Cantate ein zweiteiliger Artikel mit dem hübschen Titel “Gesichter eines oratorischen Phantoms“, für den der Autor Alexander Reischert sich die wirklich beachtenswerte Mühe gemacht hat, alle bis dato unternommenen Versuche einer Rekonstruktion der Markus-Passion aufzulisten - er kommt dabei immerhin auf die stolze Anzahl von 16 Versionen!

Diese Aufzählung und vor allem die kurze Beschreibung der zum Teil recht unterschiedlichen Lösungsansätze möchte ich an dieser Stelle den interessierten Lesern nicht vorenthalten, eventuell kann der eine oder die andere ja mal vergleichen, welche dieser Versionen er oder sie daheim im CD-Schrank stehen hat (sofern sich eine Markus-Passion von Johann Sebastian Bach überhaupt im heimischen Plattenschrank finden lässt...):

Diethard Hellmann war demzufolge 1964 der Erste, der versuchte, die Markus-Passion für eine praktikable Aufführung einzurichten. Er verfuhr hierbei nach den Erkenntnissen, die vor allem die im 1. Teil bereits erwähnten Bachforscher Wilhelm Rust und Friedrich Smend schon herausgefunden hatten.
Es verblieben damit allerdings noch die Arien, für die bislang noch keine Parodievorlagen ermittelt werden konnten:
Die Arie “Welt und Himmel, nehmt zu Ohren“ parodierte Hellmann aus der Arie “Leit, o Gott, durch deine Liebe“, die aus der Trauungskantate BWV 120 a stammt.
Für die Arie “Angenehmes Mord-Geschrey“ fand jedoch auch er keine passende Vorlage – sie blieb wie der komplette Evangelientext unvertont. Hellmann verzichtet auf jegliche eigene Neukomposition und bietet damit nur ein „Grundgerüst“ auf der Basis der bis dahin gewonnenen musikwissenschaftlichen Erkenntnisse.
Um die Markus-Passion trotzdem aufführen zu können, empfiehlt er entweder das bloße Vorlesen des Evangeliumstextes oder das vollständige Weglassen desselben, wodurch die Markus-Passion dann allerdings eher den Charakter einer "normalen" Kantate (die ja in der Regel ebenfalls keine durchgehende Handlung besitzt) bekäme.

1974 wagte sich mit dem Ratzeburger Kirchenmusikdirektor Neithard Bethke der erste Komponist an eine Neuvertonung der Evangelistenworte. Er legte seiner Version der Markus-Passion die oben beschriebene Fassung von Hellmann zugrunde und vervollständigte einige Chöre und Arien aus Sätzen des Weihnachtsoratoriums.

1978 wiederum suchte Gustav Adolph Theill für seine Version sogar für die zu vertonenden Rezitative Parodievorlagen in Bachs Oeuvre und bediente sich dabei einiger Passagen der Kantate BWV 187 „Es wartet alles auf dich“ und vor allem bei der Matthäus-Passion – vor allem letzteres ist eine gut nachzuvollziehende Entscheidung, denn der Evangeliumstext von Markus und Matthäus weist gerade in der Passionsgeschichte etliche fast identische Passagen auf.
Durch dieses Verfahren konnte sich Theill somit auch auf größtenteils authentische Bach-Rezitativ-Kompositionen stützen. Die Arie “Welt und Himmel, nehmt zu Ohren“ unterlegt Theill im Gegensatz zu Hellmann jedoch mit der Musik des dritten Satzes der A-Dur-Messe BWV 234. Die Arie “Angenehmes Mord-Geschrey“ erhält bei ihm die Musik des 8. Satzes der Kantate BWV 204 “Ich bin in mir vergnügt“, dort heißt es im Original – thematisch vielleicht nicht ganz passend – “Himmlische Vergnügsamkeit“...


1978/ 79 vertonte auch der Herforder Kirchenmusiker (und ehemalige Thomaner) Johannes H. E. Koch die Rezitative selber und entschied sich hierbei jedoch gar nicht erst in irgendeine Konkurrenz zu Bach treten zu wollen: Er vertonte die Evangelistenworte in einem gemäßigt modernen Tonfall, reich an vielfältigen Harmonien, aber trotz aller Expressivität immer akribisch dem Sprachfluss des Evangelistentextes folgend. Diese Rezitative (und Turba-Chöre) werden nur von der Orgel – die Christusworte hingegen von zwei Gamben begleitet (quasi eine Hommage an die Matthäus-Passion).

Ich finde die Idee von hörbar modern klingenden Rezitativen an sich gar nicht schlecht – es gibt diesen Passagen gar nicht erst den Anschein einer barocken „Authentizität“ (die sie ja eh nicht haben können!) und verleiht einer Aufführung eine interessante künstlerisch-musikalische Erweiterung durch das ständige Hin und Her zwischen „Alt“ und „Neu“.

1981 schuf Volker Bräutigam (Professor an der Evangelischen Hochschule für Kirchenmusik in Halle/ Saale) eine noch „radikalere“ Version:
Die rekonstruierte Hellmann-Version der Markus-Passion ergänzte er mit einem Evangelienbericht, der auf einer Zwölftonreihe basiert und von Orgel und Schlaginstrumentarium begleitet wird (also hören würde ich diese Fassung schon mal gern – wie das wohl klingen mag??)...

Dieses „neutönende“ Ensemble soll während einer Aufführung auch räumlich getrennt von den übrigen Ausführenden stehen – der Chor hingegen als verbindende „Brücke“ zwischen den beiden Vertretern so unterschiedlicher Klangwelten. Das Ganze muss man sich demnach also als ein nicht nur musikalisch sondern auch räumlich durchdachtes Gesamtkunstwerk vorstellen.

1983 komponierten auch Tadeusz Maciejewski und Stefan Sutkowski die Rezitative der Markus-Passion neu und machten zugleich anscheinend sehr großzügige Anleihen sowohl bei der Matthäus- wie auch der Johannes-Passion und sogar in der eigentlich nicht als von Bach geltenden Lukas-Passion.

Einen ähnlichen Weg wählte 1984 der Organist Christoph Albrecht, der jedoch auf ein allzu großes (und wahllos erscheinendes) Zusammenstellen von Anleihen aus verschiedenen Werken zugunsten nur einer beliehenen Quelle verzichtete (was ich eigentlich auch konsequenter finde):
Die Markus-Passion vom Dresdener Kreuzkantor Gottfried August Homilius (1714-85) – ein Komponist, der ja erst in den letzten Jahren eine gewisse Renaissance erlebt hat. Der Vorteil: Wie alle anderen Komponisten einer Markus-Passion auch, verwendet Homilius (natürlich) Luthers Bibeltext – die Rezitative können somit „passgenau“ in die zu rekonstruierende Bach-Version übernommen werden. Albrecht kombiniert diese mit der schon mehrfach erwähnten Hellmann-Fassung.

1993 entschied sich der Freiburger Komponist Otfried Büsing für eine weitere interessante Variante: Er vertonte den Evangelistenbericht in einer modernen Bibelübersetzung (der von Walter Jens), weil zugegebenermaßen die zur Bach-Zeit noch verwandte Luther-Fassung doch einige Formulierungen enthält, die ohne Erläuterungen heute so nicht mehr problemlos verstanden werden. Im Gegensatz zu Bach (und der gängigen Praxis der damaligen Zeit) wird der Evangelist hier nicht von einem Tenor, sondern von einem Bariton gesungen, während die Christusworte ein Tenor übernimmt (um dessen Rolle als noch recht jungen Mann zum Zeitpunkt des Geschehens besser zu verdeutlichen).
Die Begleitung dieses Passionsberichtes übernimmt ein Kammerorchester.

Ebenfalls 1993 griff der britische Musikwissenschaftler Simon Heighes auf die Markus-Passion des in Hamburg tätigen Reinhard Keiser (1674-1739) zurück. Immerhin stammt von Bach höchstpersönlich nicht nur eine Abschrift dieser Passion, der Thomaskantor hat diese auch zu Karfreitag 1726 in der Leipziger Nikolaikirche (und wohl auch schon einige Jahre zuvor im Rahmen seiner Weimarer Tätigkeit) aufgeführt!
Eine nicht geringe Wertschätzung Bachs diesem seinem Kollegen gegenüber dürfte damit wohl erwiesen sein. Die Inspiration Bachs durch Keisers Komposition ging unter anderem soweit, dass Bach in seiner Matthäus-Passion auf dessen Idee zurückgriff, die Christusworte von einem Streichensemble und nicht vom „bloßen“ Continuo begleiten zu lassen!
So gesehen scheint Heighes’ Idee, für die Rekonstruktion der bachschen Markus-Passion auf eine Passion Keisers zurückzugreifen, naheliegender als die Wahl von Homilius’ Markus-Passion, die Christoph Albrecht 1984 getroffen hatte.

Konstantin Köppelmann (Kantor der Münchner Immanuelkirche) orientierte sich 1994 für seine Fassung an den Versionen von Gustav Adolph Theill und Diethard Hellmann. Allerdings rekonstruierte er die Arie “Welt und Himmel, nehmt zu Ohren“ auf der Grundlage einer Bass-Arie aus der Johannes-Passion (evtl. ist hier “Mein teurer Heiland, lass dich fragen“ gemeint? Ich habe hierzu leider keine weitere Information finden können).
Auch Köppelmann komponierte die fehlenden Rezitative neu - allerdings wieder im Bachstil.

Anlässlich der 75-Jahr-Feier seiner niederländischen Bachvereinigung wählte 1996 Jos van Veldhoven Teile der Markus-Passion des in Dresden tätigen Komponisten Marco Giuseppe Peranda (1625-75) aus, um sie mit den Fragmenten der Markus-Passion von Bach zu kombinieren. Der von Peranda vertonte Text ist – naturgemäß – mit dem Picanders weitgehend identisch (zumindest in den für die Rekonstruktion benötigten Evangelientexten). Interessanterweise ist in dieser Version nunmehr Bachs Musik plötzlich die „modernere“ – Perandas Musik ist ganz dem Stil des 17. Jahrhunderts verhaftet und obendrein durchweg a cappella gehalten. Somit können auch ungeübte Zuhörer jederzeit unterscheiden, wessen Musik gerade vorgetragen wird.
Auch in dieser Fassung kommt damit wieder das Stilelement „alte Musik“ in Kontrast zu „neuerer Musik“ zum Tragen, diesmal wie erwähnt allerdings originellerweise mit umgekehrten Vorzeichen.

1997 wählte der britische Literaturprofessor Austin Harvey Gomme eine ähnliche Lösung wie Simon Heighes es 4 Jahre zuvor getan hatte:

Er „borgte“ die Evangelistenpartie aus der Markus-Passion von Reinhard Keiser. Beide Versionen (also die von Heighes und Gomme) unterliegen allerdings der Problematik, dass Keisers Markus-Passion erst mit der Szene im Garten Gethsemane beginnt (wie viele Passionsmusiken dies tun) und nicht wie Picanders Passionstext bereits mit der Salbung in Bethanien und dem letzten Abendmahl. Somit musste hier das Bachfragment umgestellt und angepasst werden – betroffen sind immerhin eine Arie und drei Choräle, die Gomme entsprechend umplatzieren musste, um sie überhaupt aufführen zu können. Auch dies wiederum eine Notlösung.
Wenn ich das richtig verstanden habe, hat Simon Heighes demnach die in Keisers Passion (und der Version von Gomme) fehlenden Szenen zu Beginn der Handlung aus einer anderen Quelle ergänzt (wobei ich – wenn dies so war - leider wieder keine Informationen finden konnte, woher er die Musik borgte) oder diese sogar selber im Bach-Stil vertont.

Genauso pragmatisch verfuhr nämlich der Hamburger Kirchenmusikdirektor von St. Jacobi Rudolf Kelber im Jahr 1998/99: Er komponierte die fehlenden Szenen zu Beginn der Passion einfach selber und kombinierte ansonsten ebenfalls den restlichen Evangelienbericht aus der Markus-Passion von Reinhard Keiser mit dem Bachfragment. Außerdem integrierte er drei weitere Bach-Arien in seine Fassung der Markus-Passion. Bei seinem Hamburger Amtsvorgänger Telemann bediente er sich außerdem, indem er einige Turbae-Chöre Keisers durch Telemanns Vertonungen ersetzte (schließlich stammen auch von Telemann einige Passionsmusiken, darunter auch mehrere Fassungen einer Markus-Passion).

Im Bach-Jahr 2000 viel beachtet worden ist die Fassung, die Ton Koopman (und damit der bislang prominenteste „Rekonstrukteur“) 1999 erstellte: Er blendete quasi sämtliche bisher gewonnenen Erkenntnisse zu parodierten Stücken aus und begann quasi janz von vorn mit der Arbeit.

Dabei stellte er sich vor, ein Schüler Bachs zu sein, der im Kompositionsunterricht von diesem folgenden Auftrag erhält: “Hier ist ein Textbuch; vertone es und verwende dazu so viel wie möglich aus den Werken, die ich bis heute (1731) geschrieben habe. Was du nicht finden kannst, das komponiere selbst.“
Im Booklet zu seiner Einspielung der Markus-Passion schreibt Koopman, dass er vor allem in den Partituren der Kantaten auf die Suche ging und tatsächlich für einige Stücke gleich mehrere brauchbare Lösungen finden konnte. Für einige Chöre hätte er in der Johannes-Passion eventuell brauchbare Lösungen finden können, doch aus dieser wollte er sich nicht bedienen (was ich aufgrund der Bekanntheit dieses Werks auch gut finde!)
Koopman ist der Ansicht, dass die seit der Hellmann-Version immer wieder aus der Trauerode BWV 198 herangezogenen Stücke gar nicht so besonders gut zur Rekonstruktion der Markus-Passion geeignet sind – er erwähnt “hervorragende Lösungen, die die Verwendung der Trauerode überflüssig machen“. Das größte Manko des Booklets dieser Aufnahme ist es dann, sich konsequent darüber auszuschweigen, wo Koopman denn nun seine Anleihen stattdessen gemacht hat – sehr ärgerlich, wie ich finde! Warum daraus ein solches Geheimnis machen??
Bei der erforderlichen Neukomposition der Rezitative kommt Koopman immerhin seine immense Musizierpraxis zugute: Er kennt Bachs geistliche Musikwelt wohl so gut wie kaum ein anderer! Trotzdem war die (wie ich finde ausgesprochen gelungene) Neukomposition der Rezitative der Markus-Passion “à la Bach“ für ihn eine große Herausforderung, die den Thomaskantor in seiner Bewunderung noch weiter steigen ließ, wie er schreibt.

2001 fertigte der Schweizer Komponist Matthias Heep eine Fassung an, die wiederum mit dem bewussten Stilbruch „Alt gegen Neu“ operiert:
Er komponierte acht in sich geschlossene Sätze für Soli, Chor und modernes Orchester, die sich jeweils mit Abschnitten der rekonstruierten Markus-Passion abwechseln. Offensichtlich verzichtete Heep auf alle Choräle der Textvorlage und integrierte lediglich einen (im Originaltext nicht vorkommenden) Choral “Kyrie, Gott Vater“, den er ins Zentrum der gesamten Passion platziert.

Nach siebenjähriger Vorarbeit (in der das gesamte Oratorien- und Kantatenwerk Bachs studiert wurde) erlebte schließlich im Jahre 2003 die Fassung des italienischen Komponisten Guido Mancusi ihre Erstaufführung. Auch er komponierte die Rezitative im Bachstil neu (diese ganzen Neukompositionen müsste man mal miteinander vergleichen – das könnte sehr interessant werden!) und wählte einige andere Parodievorlagen als in älteren Rekonstruktions-Versionen der Markus-Passion.

Wie gesagt: Ich bin ziemlich beeindruckt von den so unterschiedlichen Herangehensweisen – es zeigt sich, wie sehr die Kreativität von so einem Fragment befördert werden kann! Sehr spannend und so gesehen ist es dann auch gar nicht mehr so schlimm, dass die Musik der Markus-Passion verloren gegangen ist, da man damit diese Möglichkeit erhalten hat, dass sich so viele Musiker und Komponisten kreativ-schöpferisch an diesem Werk „austoben“ können!

Auch für die Zukunft kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass noch weitere Rekonstruktionen der Markus-Passion auf ganz verschiedene Arten folgen werden. Ich bin gespannt!

Donnerstag, 28. März 2013

Musik zur Passionszeit (IV) - Bachs Markus-Passion (BWV 247): Musik unbekannt?

Im Gegensatz zur Lukas-Passion, die immerhin in einer vollständigen und sauberen Abschrift (von Johann Sebastian und seinem Sohn Carl Philipp Emanuel Bach höchstpersönlich angefertigt) vorliegt und für die „lediglich“ bislang nicht eindeutig geklärt werden konnte, wer sie eigentlich komponiert hat, liegt der Fall der Markus-Passion, die im Bach-Werke-Verzeichnis (BWV) die Nummer 247 erhalten hat, deutlich schwieriger:

Dass es mindestens eine Vertonung des Leipziger Thomaskantors Johann Sebastian Bach des Passionsberichts nach den Worten des Evangelisten Markus gegeben hat, ist unstrittig – das Problem hierbei ist allerdings, dass die Musik dieser Passion nicht (mehr) existiert…

So tragisch diese Tatsache ist, dass uns Bachs Original-Komposition der Markus-Passion aus dem Jahr 1731 nicht erhalten ist, so spannend finde ich es aber auch, dass sich anhand zahlreicher, immerhin in großen Teilen gut nachvollziehbarer Fakten zu den „Grundelementen“ dieser Passionsmusik kreativen Komponisten und Musikwissenschaftlern somit eine Möglichkeit bietet, sich auch einmal schöpferisch mit einem Bach-Werk auseinanderzusetzen!

Denn wo hat man schon einmal Gelegenheit zu solch einem kreativen Herumexperimentieren? Das ist ja schließlich auch eine Form der nach wie vor äußerst lebendigen Bach-Rezeption! Und immerhin eine, die sich zur Abwechslung mal nicht nur auf rein interpretatorischer Ebene abspielt.

Vergleichbar ist dies wohl am ehesten mit ähnlichen Stücken, die aus den unterschiedlichsten Gründen Fragmente geblieben sind, z. B. Mozarts Requiem oder seine c-moll-Messe. Auch hier wurden und werden ja immer wieder einmal Versuche unternommen, diese Werke möglichst "im Geiste Mozarts" zu vervollständigen...

Auch zur Markus-Passion gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von ganz unterschiedlichen Versuchen, dieses Werk in eine aufführbare Form zu bringen, also eine vollständige Passionsmusik erklingen zu lassen.

Weil mich solche Themen („unvollendete Werke und deren Rekonstruktionsversuche“) nun einmal ungemein reizen, möchte ich anlässlich diesjährigen Karwoche ein paar weitere Fakten zur Markus-Passion präsentieren:

Da im Zuge der Aufteilung des musikalischen Nachlasses von Johann Sebastian Bach (er starb im Jahr 1750) unter vier seiner Söhne und seiner Witwe Anna Magdalena wohl etliche Werke im Zuge später oft aus akuter Geldnot erfolgter Weiterverkäufe als unwiederbringlich verloren gelten müssen (obwohl man ja niemals nie sagen sollte!), lässt sich wohl mit einiger Sicherheit annehmen, dass auch die Partitur der Markus-Passion in diese Gruppe fällt – leider!

Aber immerhin ist eine nicht zu vernachlässigende Komponente hierbei erhalten geblieben: Das vollständige, vom Dichter Picander (das ist Christian Friedrich Henrici [1700-1764]) verfasste Textbuch dieser Paßions-Music nach dem Evangelisten Marco!
Der Text findet sich abgedruckt im 3. Teil der Gesamtausgabe der picanderschen Gedichte – mit dem Hinweis, dass selbiger am Char-Freytage 1731 aufgeführt worden sei.
Auch wenn im Text keine Angabe zum Komponisten gemacht wird, der für die Vertonung dieser erwähnten Aufführung verantwortlich war, besteht eigentlich kein Zweifel darüber, dass nur Bach dies gewesen sein kann, denn zu seinen Aufgaben als Thomaskantor gehörte nun einmal auch die Komposition der Passionsmusik, die am Karfreitag abwechselnd in der Leipziger Thomas- und der Nikolaikirche gegeben wurde.

Am Karfreitag, dem 23. März 1731, war turnusgemäß übrigens die Thomaskirche Schauplatz der Aufführung (die Matthäus-Passion war hier 1727 ebenfalls zum ersten Mal erklungen).
Der Text dieser später dann weltberühmten Matthäus-Passion befindet sich – nebenbei bemerkt – im 2. Teil der Picander-Werke abgedruckt (1729 erschienen) und auch hier wird kein Komponist genannt!
Bach hat schließlich zu dieser Zeit häufig mit Picander zusammengearbeitet und somit besteht eigentlich kein Zweifel, dass uns zumindest der Text seiner verschollenen Markus-Passion als Grundlage der Vertonung erhalten wurde – eine überaus wichtige Basis für die weitere Vorgehensweise sämtlicher Rekonstruktionsversuche!

Interessant für diese Rekonstruktionen ist natürlich zunächst ein Blick auf die Konzeption und den Umfang der Textdichtung:
Ein wesentlicher (und naturgemäß stets unveränderter) Bestandteil der Markus-Passion ist natürlich der entsprechende Evangelientext in der Übersetzung Martin Luthers. Picander steigt wie in der Matthäus-Passion zu einem relativ frühen Zeitpunkt in die Handlung ein: Die Salbung in Bethanien, die nach einer List zur Ergreifung Jesu suchenden Hohepriester und das letzte Abendmahl werden in den Passionsbericht einbezogen. Viele Passionsmusiken, darunter auch Bachs Johannes-Passion von 1724, beginnen ja erst mit der Schilderung der Ereignisse im Garten Gethsemane am Ölberg.

Die Markus-Passion besteht aus den üblichen 2 Teilen („Vor und nach der Predigt“), der zweite Teil beginnt wie die Matthäus-Passion mit dem Verhör Jesu vor dem Hohepriester Kaiphas.

Der entscheidende Unterschied der Konzeption der Markus-Passion im Gegensatz zur wenige Jahre zuvor entstandenen Matthäus-Passion besteht nun darin, dass die Markus-Passion deutlich weniger die biblische Handlung unterbrechende und kommentierende Arien enthält, nämlich „lediglich“ 6 Stück (und das sind noch weniger als in der Johannes-Passion!).

Hinzu kommt, dass die zahlreichen Arien in der weitaus größer konzipierten Matthäus-Passion fast ausnahmslos jeweils ein längeres Arioso vorangestellt erhalten – diese charakteristische „Formpaarung“ fehlt in der Anlage der Markus-Passion vollständig. Dafür wird die biblische Handlung jedoch wesentlich häufiger durch verschiedene Choralstrophen (insgesamt 16) unterbrochen, als dies in Matthäus- und Johannes-Passion der Fall ist.

Ich denke, man könnte also schon davon sprechen, dass Bach und Picander nach der gewaltigen Matthäus-Passion ganz bewusst eine ganz andere Konzeption für ihre neu zu schaffende Passionsmusik geplant haben, nach dem Motto: „Die Matthäus-Passion können wir sowieso nicht mehr übertreffen – üben wir uns diesmal etwas mehr in Selbstbeschränkung und Einfachheit!“
Wer weiß, vielleicht reagierten beide aber auch nur auf Kritik aus den Reihen der „Offiziellen“ aus dem Rat der Stadt Leipzig, denen die Matthäus-Passion zu weitschweifig und umfangreich gewesen war und die sich nun eine etwas zurückgenommenere und kleiner dimensionierte Passionsmusik erbaten?

Jedenfalls ist diese „bescheidenere“ Anlage der Markus-Passion ein Glücksfall für die Rekonstruktionsversuche heutiger Musikwissenschaftler: Müssen doch beispielsweise an größeren Stücken „nur“ die Noten für die erwähnten 6 Arien und den Eingangs- und Schlusschor ge- bzw. erfunden werden. Man stelle sich die weitaus größere Schwierigkeit des Unterfangens vor, wenn uns die Noten der Markus-Passion erhalten geblieben wären und man stattdessen jetzt versuchen würde, anhand des vorhandenen Picander-Textes die verschollenen Klänge der Matthäus-Passion zu rekonstruieren...!

Weiterhin hilfreich für Rekonstruktionsansätze ist die Tatsache, dass Bach in den 1730er-Jahren, in denen die Markus-Passion entstand, tatsächlich häufig zum „Recycling“ bereits komponierter (meist weltlicher) Stücke neigte (die Musikwissenschaft nennt dies das „Parodieverfahren“, aber ich mag den Begriff nicht so sehr, weil ich mit „Parodie“ irgendwie immer etwas Komisches assoziiere und das scheint mir im Zusammenhang mit einer Passionsmusik wenig hilfreich...).
Als wirtschaftlich denkender Mensch wollte Bach ungern etwas Gelungenes verkommen lassen (recht so!) und arbeitete so sehr ökonomisch – und durchaus zeitgemäß, denn im Barock machten dies fast alle Compositeurs mit Vorliebe so, wobei „Anleihen“ nicht nur bei älteren eigenen Werken erfolgten...

Und was nun etlichen erfolgreich „recycelten“ Stücken beispielweise im bachschen Oster-, dem Weihnachts- und dem Himmelfahrts-Oratorium recht sein sollte (entstanden 1725, 1734 und 1735) - oder auch in Bachs lateinischen Messvertonungen - könnte doch ohne Weiteres von ihm auch in der Markus-Passion so praktiziert worden sein – so hypothetisch erscheint mir diese Annahme nicht.

Die Annahme, dass die Original-Partitur der Markus-Passion offenbar von einem der Erben Johann Sebastians verkauft wurde, wird übrigens durch die Tatsache gestützt, dass in einem Verkaufskatalog von Breitkopf in Leipzig im Jahr 1764 eine (allerdings nur) 48 Seiten umfassende Partitur "Anonymo, Paßions-Cantate, secundum Marcum" angeboten wurde, die den Titel „Geh, Jesu, geh zu deiner Pein“ trägt (das ist der Beginn des Eingangschors der Picander-Dichtung der Markus-Passion).

Wenn man mal davon absieht, dass es sich bei den lediglich 48 Seiten eventuell nur um einen Teil der Partitur gehandelt haben dürfte (z. B. Bibelworte und Choräle), ist es zumindest nicht unwahrscheinlich, dass es sich hierbei tatsächlich um Bachs Passionsmusik gehandelt haben könnte – interessant wäre in diesem Zusammenhang herauszufinden, wie viele andere Komponisten außer Bach sich noch an der Vertonung der Passionsdichtung Picanders versucht haben.

Meines Wissens war aber Picanders Wirkungskreis als Dichter außerhalb Leipzigs nicht so bedeutend groß und welcher Komponist sollte zur damaligen Zeit eine Markus-Passion vertonen, wenn er nicht eine konkrete Aufführungsgelegenheit dafür gehabt hätte?

Es hätte sich dabei also mindestens um einen Kantor einer nicht unbedeutenden Stadt handeln müssen, in der man über genügend Kräfte verfügte, eine Passionsmusik auf die Beine zu stellen, die immerhin eine Besetzung mit Sopran, Alt, Tenor, Bass; 2 Traversflöten, 2 Oboen, Streicher, Viola da gamba und Basso continuo erforderte. Diese Besetzungsangaben sind nämlich ebenfalls in dem erwähnten Breitkopf-Katalog enthalten (und ein weiterer nützlicher Hinweis für Rekonstrukteure der heutigen Zeit!).

Leider, leider fehlt in diesem Katalog die Angabe eines Komponisten und das erstaunt schon. Konnte sich 1764 – also immerhin 33 Jahre nach der Uraufführung – kein Leipziger mehr an die gleichnamige Markus-Passion des langjährigen Thomaskantors Bach erinnern? Es wäre in diesem Verkaufskatalog doch sicher ein umsatzfördernder Hinweis gewesen, hätte man die angebotene Partitur (und wenn auch nur aus bloßen „Verdachtsgründen“) mit dem Komponisten-Namen des sicher noch vielen Leipzigern geläufigen Thomaskantors Bach schmücken können.

Es ist übrigens nicht bekannt, welchen Weg die derart feilgebotene Partitur genommen hat...

Verschollene, durch Zufall wiederentdeckte Partituren von Passionsmusiken Bachs haben – dies nur am Rande – natürlich auch schon die Phantasie von Autoren beflügelt, da gibt es z. B. einen ausgesprochen unterhaltsamen Kriminalroman, in dem sich alles um solch eine geheimnisvolle Partitur dreht.

Jedenfalls konnte bereits im 19. Jahrhundert der Musikwissenschaftler Wilhelm Rust (1822-92) durchaus plausibel auf mögliche Quellen aus dem Bach-Oeuvre verweisen, die Vorlage für in der Markus-Passion verwendete Parodien gewesen sein könnten. Dass Bach regelmäßig solche Verfahren anwendete, war damals schon bekannt.

Rust stellte vor allem in Bezug auf Metrum und Reimschema einiger Texte fest, dass Bach Musikstücke aus folgenden Kantaten für seine Markus-Passion entliehen und weiterverarbeitet haben könnte:

BWV 198 „Lass, Fürstin, lass noch einen Strahl“ (Trauerode)
BWV 244 a „Geh, Leopold, zu deiner Ruh“ (Trauermusik)


Die Arie „Falsche Welt, dein schmeichelnd Küssen“ der Markus-Passion glaubte er ebenfalls recht überzeugend als parodierte ursprüngliche Eingangs-Arie aus der Kantate BWV 54 "Widerstehe doch der Sünde" wiedererkannt zu haben.

Somit ließen sich insgesamt sowohl der Eingangs- wie auch der Schlusschor, sowie 4 von 6 Arien der Markus-Passion mehr oder weniger rekonstruieren. Zu beachten ist dabei allerdings, dass Bach beim „Parodieren“ älterer Stücke nie einfach nur die Texte austauschte und eventuell noch die Instrumentation veränderte - er verstand es auch meisterhaft, oft nur durch kleine, aber ungemein wirkungsvolle Änderungen, das ältere Musikmaterial perfekt an jedwede neuere Herausforderungen anzupassen.
Wer merkt z. B. dem Weihnachtsoratorium noch an, dass viele seiner Einzelsätze ursprünglich weltlichen (meist recht banalen) Kantaten entstammen?

Und gerade diese geniale Kunstfertigkeit Bachs erschwert natürlich die Arbeit der Rekonstrukteure von heute dann doch ungemein!

Die beiden Arien “Welt und Himmel, nehmt zu Ohren“ und “Angenehmes Mord-Geschrey“ sind demnach als einzige ohne erkennbare Parodievorlagen geblieben und wurden 1731 von Bach eventuell neu komponiert (was natürlich auch vorkam, er hat ja nicht ständig alles „recycelt“!).

Der Musikforscher Friedrich Smend (1893-1980) wiederum hat sich unter anderem um die „Wiederherstellung“ der zahlreichen Choräle, die in der Markus-Passion verwendet werden, sehr verdient gemacht. Glücklicherweise ist das von Bach hinterlassene „Repertoire“ an von ihm vierstimmig gesetzten Chorälen sehr umfangreich.
Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel hat allein aus dem ihm zur Verfügung stehenden Nachlass eine vierteilige (!) Sammlung von Chorälen zusammengestellt und herausgegeben.

Es gibt natürlich mehrere Möglichkeiten, hier zum Teil aus mehreren Fassungen ein und desselben Chorals zu wählen (und verschiedene Rekonstruktions-Fassungen wählen hier tatsächlich ganz unterschiedliche Versionen aus) – aber das ist im Vergleich zu den anderen Schwierigkeiten bei der „Wiederherstellung“ der Markus-Passion damit wohl der „luxuriöseste“ Part der gesamten Übung...

Der umfangreiche Evangelientext (inklusive der zahlreichen Turba-Chöre, also die Stellen, in denen im Bibeltext die Hohepriester oder die Volksmenge zu Wort kommen) ist hingegen wohl tatsächlich nicht mehr auffindbar und wird wohl auch schon 1731 von Bach komplett neu vertont worden sein (ähnlich wie dies beim ja ebenfalls recht „parodielastigen“ Weihnachtsoratorium von 1734 geschehen ist).
Das ist zweifellos der größte Verlust an der gesamten vertrackten Geschichte der Markus-Passion!
Auf Parodievorlagen kann man somit nicht zurückgreifen, weshalb bei allen Rekonstruktionsversuchen hier auch die einschneidendsten (damit aber auch interessantesten) Lösungen gefunden werden mussten.

Lediglich der Turba-Chor „Pfui dich, wie fein zerbrichst du den Tempel“ wird in einigen „Neufassungen“ der Markus-Passion mit der Melodie des Chors „Wo ist der neugebor‘ne König der Jüden“ aus dem Weihnachtsoratorium unterlegt, wobei mir der deutlich friedlichere Charakter dieses Chorsatzes (immerhin tragen ihn die Weisen aus dem Morgenland vor!) nicht sonderlich gut zu dem hier eigentlich erforderlichen aggressiven Charakter zu passen scheint, den die erregte Volksmenge, die Jesus derart schmäht, an den Tag legen müsste!
Außerdem ist das Weihnachtsoratorium dreieinhalb Jahre nach der Markus-Passion entstanden – damit ist die Theorie einer „Entleihung“ des Chores aus diesem Oratorium eh nicht zu halten - so gesehen müsste es dann ja eigentlich eher umgekehrt gewesen sein!

Soweit also zur nicht uninteressanten Ausgangslage – auf diesem (in seiner Bestimmung mehr oder weniger gesicherten) Material aufbauend, sind dann im Lauf der letzten knapp 50 Jahre doch erstaunlich zahlreiche Versuche unternommen worden, die verlorene Markus-Passion von Johann Sebastian Bach irgendwie zu neuem Leben zu erwecken.

Damit es nicht zu umfangreich wird - mehr hierzu dann beim nächsten Mal!

Mittwoch, 27. März 2013

Heute in der Lunch-Time-Orgel

Im Orgelkonzert der Karwoche dominierten erwartungsgemäß die eher besinnlichen Töne. Wolfgang Abendroth hatte zwar kein reines „Passionsprogramm“ zusammengestellt, die Stimmung jedoch gut getroffen:

J. S. Bach (1685-1750)
aus dem ”Wohltemperierten Klavier” (Band I)
Praeludium Es-Dur
Praeludium es-moll
Praeludium h-moll

Nicolas de Grigny (1672-1703)
Dialogue des Flûtes
Récit de Tierce en Taille

Marcel Dupré (1886-1971)
aus dem "Chemin de la Croix" (Der Kreuzweg):
Jesus wird ins Grab gelegt


Nachdem in der letzten Woche das Konzert aufgrund des Baustellenlärms nur unter eingeschränkten Bedingungen stattfinden konnte, herrschte in dieser Woche draußen endlich wieder (weitestgehend) Ruhe. So konnten die verschiedenen ruhigen Stücke im heutigen Konzert ungestört vorgetragen werden.

Auch wenn die Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier eher nicht für die Orgel komponiert wurden, eignen sich einige Stücke aus diesem Zyklus trotzdem gut für einen Vortrag auf der Orgel – so z. B. die drei heute gespielten, traditionell in eher langsamen Tempi vorgetragenen Präludien.

Nach zwei kürzeren Stücken des französischen Orgelmeisters Grigny gab es zum Schluss dann noch den in Form eines Trauermarsches angelegten Finalsatz (= Satz Nr. 14) aus dem großen Orgelzyklus Le Chemin de la Croix op. 29 von Marcel Dupré.

Karfreitag kann kommen…

Donnerstag, 21. März 2013

Musik zur Passionszeit (III) - Bachs Lukas-Passion (BWV 246): Komponist unbekannt?

Nachdem ich im vergangenen Jahr ein paar unbekanntere Passionsmusiken aus dem 19. Jahrhundert vorgestellt habe, möchte ich mich in diesem Jahr dem wohl berühmtesten und beliebtesten Komponisten von Passionsmusiken zuwenden - Johann Sebastian Bach (1685-1750), an den man wohl automatisch zuallererst denkt, wenn Stichwörter wie Matthäus- oder Johannes-Passion fallen und dem nicht zuletzt wegen dieser beiden Kompositionen der griffige, aber doch auch etwas fragwürdige Titel als „Fünfter Evangelist“ zugefallen ist (der bescheidene und gottesfürchtige Bach wäre – so glaube ich – entsetzt, wenn er von dieser Bezeichnung seiner Person erfahren hätte!).

Da mein Herz aber nun einmal auch für die etwas im Schatten berühmter Werke stehenden Kompositionen (und Komponisten) schlägt, soll es hier diesmal eben nicht um die beiden allbekannten, oben erwähnten Kompositionen des berühmten Thomaskantors gehen, sondern um zwei Passionsmusiken, die im Bach-Werke-Verzeichnis (BWV) zwar eigene Nummern verliehen bekommen haben, aufgrund verschiedener Umstände jedoch bei Weitem nicht so bekannt sind und entsprechend häufig aufgeführt werden wie die 1724 erstmals in Leipzig erklungene Johannes-Passion (BWV 245) und die 1727 ebenda entstandene Matthäus-Passion (BWV 244): Die Markus-Passion (BWV 247) und heute zunächst die Lukas-Passion (BWV 246).

In seiner Funktion als Leipziger Thomaskantor hatte Bach neben den sonn- und feiertäglichen Kantatendarbietungen auch in jedem Jahr zum Karfreitag eine Passionsmusik aufzuführen, die abwechselnd in der Thomas- und der Nikolaikirche gegeben wurde. Damaligem Usus folgend war es üblich, dass diese Musiken auf einem der Passionsberichte der vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas oder Johannes basierten, wobei die Erzählung der biblischen Geschichte durch Choräle und betrachtende Arien angereichert, vertieft und kommentiert und vom Thomaskantor im Idealfall Jahr für Jahr neu vertont wurde.

Nachdem Bach im Frühsommer 1723 sein Amt als Thomaskantor angetreten hatte, bildete die zu Karfreitag 1724 in der Nikolaikirche uraufgeführte Johannes-Passion sein Leipziger „Passionsmusikendebüt“. Die Johannes-Passion führte Bach während seiner bis zu seinem Tode im Jahr 1750 währenden Leipziger Dienstzeit mehrfach auf, wobei er mehrfach Arien und Chorsätze austauschte und sich so insgesamt 4 Fassungen dieser Passionsmusik (in einer heute mehr oder weniger aufführbaren Form) rekonstruieren lassen.

Für viele Karfreitagstermine, die in die 27-jährige Leipziger Amtszeit Bachs fallen, ist übrigens nicht mehr rekonstruierbar, welche Passionsmusik dort tatsächlich erklungen ist.

Fest steht in jedem Fall, dass Bach nicht in jedem Jahr eine eigenhändig neu komponierte Passionsmusik verfasste; er führte in den Folgejahren durchaus auch schon einmal Passionen von Kollegen auf (was ja durchaus legitim war), so z. B. im Jahr 1726 die Markus-Passion von Reinhard Keiser (1674-1739).

Nach heutigem Stand der Forschung ist die Lukas-Passion, die im BWV die Nummer 246 erhalten hat und die entweder zu Karfreitag 1730 oder (erneut?) 1735 jeweils in der Nikolaikirche erklungen ist, in diese letzte Kategorie einzuordnen - es handelte sich demnach also um die Aufführung einer nicht von Bach selber komponierten Passionsmusik.
Dass die Lukas-Passion dennoch Eingang in das „ehrwürdige“ Bach-Werke-Verzeichnis gefunden hat und dort jetzt gleichberechtigt neben den großen und weltberühmten Passionsmusiken Bachs steht, ist darauf zurückzuführen, dass das Werk nur in einer Partiturabschrift vorliegt, die von Bach begonnen und von seinem Sohn Carl Philipp Emanuel (1714-88) fertiggestellt wurde.

Da es auf dem Titelblatt keine Autorenangabe gibt und die Partitur überdies die für Bach charakteristische Anrufung Christi „J. J.“ („Jesu juva“ = Jesus, hilf) trägt, hat man den Thomaskantor zeitweilig für den Komponisten des Werkes gehalten/ halten müssen, obwohl es schon früh Zweifler an seiner Autorschaft gab, wie z. B. den großen Bach-Verehrer und –Kenner Felix Mendelssohn (1809-47), den vor allem die Tatsache misstrauisch machte, dass die Partitur „zu reinlich“ sei und er deshalb vermutete, dass Bach das Ganze „nur“ abgeschrieben habe.

Wenn es auch weiter Zweifel an der Autorschaft Bachs an der Lukas-Passion gab und obendrein zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachgewiesen werden konnte, dass nicht Johann Sebastian, sondern wie erwähnt Carl Philipp Emanuel Bach einen nicht unerheblichen Teil der vorliegenden Partitur (ab)geschrieben hatte, so gelangte die Lukas-Passion dennoch - mangels eines Gegenbeweises, wer sie stattdessen komponiert haben könnte - im Jahr 1950 mit der Nummer 246 in das Bach-Werke-Verzeichnis von Wolfgang Schmieder. Das BWV hat sich mit seinen Nummerierungen im heutigen Musikleben längst ebenso durchgesetzt, wie die Nummern des Köchel-Verzeichnis für die Werke Mozarts.

Mittlerweile gibt es zahlreiche Theorien, wer der tatsächliche Komponist dieser Lukas-Passion gewesen sein könnte, so z. B. der zunächst in Karlsruhe und dann ab 1734 in Eisenach tätige Johann Melchior Molter (1696-1765), der in Bachs Geburtsstadt ebenfalls Kantaten und Passionsmusiken zu komponieren und aufzuführen hatte. Auch wenn viele stilistische Eigenheiten (auch der frei gedichteten Texte) dieser Lukas-Passion für deren Entstehung in Eisenach sprechen, fangen die Schwierigkeiten schon bei der zeitlichen Zuordnung an, da Molter 1730 ja noch nicht in Eisenach tätig war und Bach in diesem Jahr bereits eine Lukas-Passion in Leipzig aufführte.

Dass der große Thomaskantor nicht der Komponist dieser Passionsmusik sein kann, ist vielfach (und auch schon recht früh) angemerkt worden, da stilistisch zu große Unterschiede zwischen Bachs großen Passionsvertonungen (aber wohl auch der ungefähr zur selben Zeit entstandenen Kantaten) und der Lukas-Passion bestehen.

Man hat deshalb zeitweilig die Lukas-Passion für ein Frühwerk Bachs gehalten, das er in Leipzig wieder „reaktiviert“ hat (was gerade bei seinen Kantatenkompositionen häufiger vorkam), allerdings ist gerade der Kompositionsstil der (wenigen) Arien eher im damals gerade aufkommenden Tonfall des Stils der Empfindsamkeit gehalten, was darauf schließen lassen könnte, dass hierfür ein etwas jüngerer Komponist als Bach in Frage käme.

Die Lukas-Passion hat jedoch – auch ganz unabhängig von der leidigen Frage nach der musikalischen Autorschaft - ihren ganz eigenen Reiz: Die Musik ist weitaus weniger kunstvoll und kontrapunktisch gearbeitet als in den beiden „echten“ Bach-Passionen (aber macht sie das deshalb gleich schlechter, bzw. spricht diese Tatsache dann auch automatisch gegen Bach als Verfasser?) – es herrscht ein einfacher, prägnant-knapper, „volkstümlicher“ Tonfall vor, was allein schon durch die große Anzahl der in dieser Passionsmusik verwendeten Choralstrophen bedingt ist: Der Chor unterbricht in der Lukas-Passion die Erzählung des Evangelisten deutlich häufiger mit thematisch zum gerade Berichteten passenden Einwürfen aus (zur damaligen Zeit mit Sicherheit) bekannten Chorälen, als in den beiden berühmten Passionsberichtsvertonungen auf der Textgrundlage der Herren Matthäus und Johannes. An manchen Stellen hat der Evangelist keine zwei Sätze vorzutragen, ohne das nicht schon wieder eine weitere Choralstrophe eingeschoben wird!

Dies führt naturgemäß dazu, dass der Aufbau dieser Lukas-Passion im Vergleich zu diesen beiden anderen Passionsmusiken deutlich kleinteiliger ausfällt, nicht zuletzt auch deshalb, weil in der Lukas-Passion lediglich an 6 Stellen die Gesangssolisten Gelegenheit erhalten, eine Solo-Arie vorzutragen (und auch diese fallen deutlich knapper und liedhafter aus, als beispielsweise die zahlreichen großangelegten Solonummern in der Matthäus-Passion)!

Außerdem gibt es als Besonderheit noch ein Terzett (für Sopran I und II und Alt), in dem die Klage der Frauen, die Jesus auf seinem Weg nach Golgatha folgen, musikalisch ausgedrückt wird und das sich damit – obwohl es einen frei gedichteten Text hat – ungewöhnlicherweise in die übrige biblische Handlung integriert, statt diese (wie es eigentlich üblich wäre) bloß zu kommentieren.

Sehr schön ist auch die ausdrucksvoll-klagende, nur von den Holzbläsern (Oboen, Fagott) vorgetragene Sinfonia, die unmittelbar nach dem Tod Jesu erklingt und einen Choral umrahmt. In der folgenden Tenor-Arie werden einzelne Phrasen dieser Sinfonia dann noch mal aufgegriffen und dienen hier als Zwischenspiele – ein raffinierter Kunstgriff, den es in den beiden berühmten Bach-Passionen so nicht gibt, das muss man auch mal anmerken!

Im Ganzen erinnert mich diese Lukas-Passion musikalisch tatsächlich aber eher doch an Passionsmusiken von Bachs Zeitgenossen Georg Philipp Telemann (1681-1767) oder Reinhard Keiser.

Vertont wird in der Lukas-Passion das 22. und 23. Kapitel (bis auf dessen letzte drei Verse) des Lukas-Evangeliums. Wie in jedem der vier biblischen Passionsberichte gibt es auch bei Lukas einige Episoden, die in keinem der anderen Evangelien vorkommen, so z. B. die zeitweilige Überstellung des verhafteten Jesus an Herodes (Pilatus verfügt dies, weil Jesus als Herodes‘ Untertan in dessen „Zuständigkeitsbereich“ fällt) oder die Szene mit dem reuigen Verbrecher, der zusammen mit Jesus und einem weiteren Übeltäter gekreuzigt wird und dem Jesus die Zusage gibt “Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein!“.
Diese Liste ließe sich noch fortsetzen; hierzu gehören unter anderem auch noch die Gespräche, die Jesus bei Tisch unmittelbar nach der Abendmahlsszene mit seinen Jüngern führt, die töricht darüber streiten, wer unter ihnen denn nun der „Größte“ sei. Wegen dieser im Vergleich zu den Evangelienberichten von Markus und Matthäus doch deutlich längeren Abendmahlsszene setzt die Handlung in einigen anderen, kürzeren Vertonungen des Passionsberichts nach Lukas auch erst mit dem Gang zum Ölberg ein, so z. B. in der Lukas-Passion aus dem Jahr 1744 von Georg Philipp Telemann. In der in Bachs Handschrift überlieferten Lukas-Passion (BWV 246) wird hingegen der gesamte, recht umfangreiche Text der beiden Kapitel aus dem Lukas-Evangelium getreulich dargeboten, was dem Werk dann auch zu einer Aufführungsdauer von ungefähr 2 Stunden verhilft – das ist natürlich im Vergleich zur epischen Matthäus-Passion Bachs immer noch recht kurz…

Dass es im Moment lediglich 2 (!) Einspielungen dieser Lukas-Passion auf dem Markt gibt, hat mich dann doch etwas überrascht, muss ich gestehen! Allzu viel mehr auf Tonträgern festgehaltene Aufnahmen dieser Passion dürfte es meines Wissens bislang wohl auch nicht gegeben haben.

Da wäre zum einen die wohl in den (frühen?) 1990er Jahren entstandene Einspielung (ein konkretes Aufnahmedatum habe ich leider nicht finden können) mit der Balinger Kantorei und dem Kammerorchester des Collegium Musicum Tübingen unter der Leitung von Gerhard Rehm, die beim Label BRILLIANT Classics erschienen ist und wohl auch Bestandteil der dort herausgegebenen Bach-Gesamtausgabe war, die erstmals im Bach-Jubiläumsjahr 2000 erschienen sein müsste (andere Label, die ebenfalls solche Bach-Gesamtausgaben auf CD herausgegeben haben, verzichteten meines Wissens darauf, die wohl eher nicht von Bach komponierte Lukas-Passion in ihre Editionen aufzunehmen!).

Die an sich ganz akzeptable Aufnahme besitzt leider das nicht unerhebliche Manko, dass der Chor – im Gegensatz zu den Solisten – in deutlich hörbarer Distanz zu den Mikrofonen postiert wurde, was dazu führt, dass die Chorstellen immer etwas undeutlich und aus größerer Entfernung, umgeben vom Hall des Kirchenraumes, in dem die Aufnahme entstanden sein dürfte, rüberkommen, was gerade im Kontrast zu den wesentlich präsenter klingenden Solisten doch recht störend wirkt. Dass diese Konstellation zu Lasten der Textverständlichkeit geht, bleibt dabei leider nicht aus…
Ansonsten schlagen sich die Solisten, allen voran der für meinen Geschmack ab und an etwas zu larmoyante Georg Jelden (Tenor) als Evangelist und Ulrich Schaible (Bass) mit den Christusworten ganz ordentlich.

Ein insgesamt auch klangtechnisch wesentlich homogeneres und überzeugenderes Bild hinterlässt aber die bei cpo erschienene Einspielung der Lukas-Passion, die im Jahr 1996 entstand.

Unter der Leitung von Wolfgang Helbich singt das Alsfelder Vokalensemble, begleitet vom Barockorchester Bremen, das auch rhythmisch deutlich akzentuierter und prägnanter spielt als die oft etwas "weichgespült" klingenden Tübinger. Rufus Müller singt sehr stimmschön und textverständlich den Evangelisten, ebenso kann sich Stephan Schreckenberger als Christus hören lassen.
Es ist gut, dass mit dieser (noch dazu recht preisgünstigen) Aufnahme wenigstens eine durch und durch gelungene, klanglich überzeugende Einspielung dieser vernachlässigten Passionsmusik vorliegt!
Dass mir die Sopransolistin in dieser Aufnahme nicht so besonders zusagt, ist eigentlich nur eine Randbemerkung wert, da ihr Part eh nicht besonders umfangreich ausfällt. Im Vergleich punkten hier definitiv die beiden Sopranistinnen der Einspielung unter Gerhard Rehm.

Als Fazit zur Lukas-Passion kann man Folgendes feststellen:

Die Tatsache, dass niemand Geringerer als Bach selbst diese Passionsmusik offenbar für so gelungen hielt, dass er sie gleich mehrfach in Leipzig zur Aufführung brachte (und die jährlichen Aufführungen der Passionsmusiken am Karfreitag dürften einen hohen Stellenwert für den Thomaskantor gehabt haben!), sollte jedenfalls auch in der heutigen Zeit dazu beitragen, dass die Lukas-Passion, von wem auch immer sie stammen mag, einen würdigen Platz im Repertoire erhält. Schließlich kann dieses Werk nichts dafür, dass man es „klammheimlich“ und womöglich gar mit „betrügerischer Absicht“ (um es mal ironisch zu formulieren) als Komposition des berühmten Johann Sebastian Bach auszugeben versucht hat – das lag nun wirklich allein an den etwas unglücklichen Umständen seiner Überlieferung. Aber es deswegen jetzt quasi zu „bestrafen“ und mit einer Mischung aus Naserümpfen und einer gewissen Missachtung regelmäßig links liegen zu lassen, das hat diese Komposition nun wirklich nicht verdient!

Mittwoch, 20. März 2013

Heute in der Lunch-Time-Orgel

In der Düsseldorfer Innenstadt wird im Moment eine knapp 50 Jahre alte Hochstraße abgerissen (im Volksmund wegen der vielen Stützpfeiler „Tausendfüßler“ genannt). Die Straße führt genau an der Johanneskirche vorbei und da in dieser Woche die Abrissarbeiten – so scheint es – ihren Höhepunkt erreicht haben, herrschte draußen vor der Kirche durch die zahlreichen, sich unablässig voran arbeitenden Presslufthämmer und Abrissbagger ein Höllenlärm, der auch durch die dicken Kirchenmauern nicht wirklich abgehalten werden konnte…

In der Hoffnung, dass das Schlimmste bald überstanden sein wird und voll grimmiger Entschlossenheit, sich von der Megabaustelle draußen nicht unterkriegen zu lassen, präsentierte unser Organist Wolfgang Abendroth heute das folgende Programm:

J. S. Bach (1685-1750)
Air D-Dur

Dietrich Buxtehude (1637-1707)
Passacaglia d-moll

Wolfgang Abendroth (geb. 1978)
Improvisation über das Lied
Es mag sein, dass alles fällt,
Dass die Burgen dieser Welt
Um dich her in Trümmer brechen.
Halte du den Glauben fest,
Dass dich Gott nicht fallen lässt:
Er hält sein Versprechen.

(Text: Alexander Schröder 1939,
Melodie: Paul Geilsdorf 1940)

Edward Elgar (1857-1934)
"Pomp and Circumstances" March No. 1
bearbeitet für Orgel von Edwin H. Lemare (1865-1934)


Der erste Teil des Konzerts sollte, so erklärte uns Herr Abendroth im Rahmen seiner kurzen Programmerläuterung zu Beginn, in bewusstem Kontrast zum draußen herrschenden Lärm stehen – und so entfaltete die für die Orgel bearbeitete weltberühmte und so wunderbar entspannte Air aus Bachs 3. Orchestersuite eine ganz besondere Wirkung: Man war als Zuhörer tatsächlich versucht, das Dauergerumpel der Baustelle für ein paar Minuten einmal komplett auszublenden!

Die vielgestaltige, auch eher ruhig und gelassen voranschreitende Passacaglia von Buxtehude ergänzte diesen mutigen Versuch, mit Ruhe gegen das fast pausenlose Getöse anzuspielen sehr eindrücklich!

Heute gab es mal wieder eine Improvisation unseres Organisten über ein Kirchenlied, das vom Text her zum einen gut in die Passionszeit passt, zum anderen (versehen mit einer Portion Ironie) aber irgendwie auch zum Geschehen zu den benachbarten Abbrucharbeiten…
Jedenfalls brachte Herr Abendroth im ersten Teil die berstenden und fallenden Trümmerteile des Liedtextes recht plastisch rüber, bevor er im zweiten Teil seiner Improvisation dann die Hoffnung auf Gottes Hilfe mit zuversichtlichen und optimistischen Klängen ausmalte – ein wirkungsvoller Gegensatz zum Beginn dieser Improvisation.

Und dann gab es zum Abschluss des Konzerts ein Stück, dass Herr Abendroth unter das trotzige Motto „Ich kann lauter als die da draußen!“ gestellt hatte:
Der berühmte "Pomp and Circumstances"-Marsch Nr. 1 (dank des eingängigen 2. Themas ist dieses Werk neben God save the Queen zur inoffiziellen zweiten Nationalhymne der Engländer geworden!) von Edward Elgar, dessen Orgelsonate wir ja erst in der letzten Woche zu hören bekommen hatten!
Die Wahl dieses berühmten Marsches erwies sich als exzellente Idee – zumal die Bearbeitung dieses Orchesterwerkes durch den berühmten englischen Organisten Edwin Lemare wirklich keine Wünsche offen ließ:
Da konnte die große Orgel wirklich alles geben, was in ihr steckt und wenn am Ende das berühmte Thema erneut triumphal in großer Klangpracht daherkommt, fühlte man sich tatsächlich wie in Westminster Abbey und erwartete förmlich, dass die Queen jeden Moment in vollem Krönungsornat durch den Mittelgang zum Altar schreitet…

Es war großartig – daher das Fazit: Experiment „Orgel gegen Presslufthammer“ in vollem Umfang geglückt!

Mittwoch, 13. März 2013

Heute in der Lunch-Time-Orgel

So gern ich die oft ausgesprochen fantasievoll zusammengestellten Programme mit Stücken mehrerer Komponisten mag – ganz besonders schätze ich die (nicht allzu häufigen) Mittags-Orgelkonzerte, in denen nur ein Werk gespielt wird: Das ist in der Regel dann also eine großdimensionierte Komposition von ungefähr einer halben Stunde Dauer.

Heute war es mal wieder so weit - Wolfgang Abendroth spielte für uns einen Klassiker der spätromantischen Orgelliteratur:

Edward Elgar (1857-1934)
Sonate G-Dur op. 28
-Allegro maestoso
-Allegretto
-Andante espressivo
-Presto comodo


Ich bin ja ein erklärter Fan britischer Komponisten und daher habe ich mich sehr gefreut, dass mit Edward Elgar heute einer der berühmtesten und beliebtesten Komponisten Englands auf dem Programm stand!

Elgar war zu Beginn seiner Musikerlaufbahn Organist (wie übrigens auch schon sein Vater) in Worcester, hat aber nicht allzu viele Kompositionen für dieses Instrument geschrieben – die heute gespielte Orgelsonate, die mit ihren symphonischen Ausmaßen wirklich ein Paradestück für jeden Organisten darstellt, ist wohl sein gewichtigster Beitrag für die Orgel.
Elgar war voller Begeisterung für die klanglichen Möglichkeiten der neuen, großen Orgel in Worcester Cathedral und seine für dieses Instrument komponierte große Sonate wurde dort 1895 uraufgeführt - die Komposition gehört somit also noch zum Frühwerk Elgars.

Wolfgang Abendroths Interpretation überzeugte vor allem durch die stets gut durchhörbar bleibende und dennoch dem orchestralen Anspruch dieser Komposition Rechnung tragende Registrierung – da ging nichts in zu dickem „Klangbrei“ unter, was der Wahl eines insgesamt recht zügigen Grundtempos sehr entgegenkam. Ein durchweg sehr gelungenes Konzert!

Dienstag, 12. März 2013

Fundstück der Woche

Aus The Ladys Pocket-Book of Etiquette von 1840, wiedergegeben im englischen Klassiker The Week-End Book (herausgegeben von Francis Meynell), der aufgrund des großen Erfolges in mehreren Auflagen zwischen 1924 und 1955 erschien und seit 2006 auch in einer deutschen Übersetzung unter dem naheliegenden Titel Das Wochenend-Buch vorliegt (gleichermaßen amüsant wie lesenswert!):

Musik und Walzertanz

Eine Dame darf niemals ein Lied singen, das eindeutig männlicher Prägung ist oder dessen Text das Handeln oder die Leidenschaft von Männern beschreibt. Stellen Sie sich doch nur eine hübsche Frau vor, die bei All’s well oder Here’s a health to all good lasses mitsingt oder Pretty star of the night zum Besten gibt – tatsächlich ist so etwas schon vorgekommen. Lustige und derbe Lieder sollten wohl kaum von einer Dame gesungen werden […] es verbindet sich damit ein Ungestüm, vor allem bei Letzterem, dass sie grundsätzlich gemieden werden sollten, insbesondere bei Gesellschaften […] Kehrreime sind in vielen Fällen noch verwerflicher. Ich kann mir kaum eine Dame vorstellen, die selbige schätzt, außer natürlich als Zuhörerin.

Was nun den Walzer betrifft, so überlasse ich alles Weitere dem Anstand meiner Leser – mit einer simplen Bitte, dass Sie sich nämlich immer dann, wenn ein Walzer vorgeschlagen wird, dessen Tendenz und die Unanständigkeit der Zuschaustellung vor Augen halten, und ich bin ganz sicher, dass dieser ganz und gar unenglische Tanz dann schnell aus unserer Gesellschaft verbannt werden wird.

Keine Ahnung, wer sich solche abstrus anmutenden, eigentlich völlig überflüssigen Gedanken gemacht hat (und diese auch noch zu Papier brachte!) – er dürfte jedenfalls keine ernsthafteren Sorgen, stattdessen jedoch jede Menge Zeit gehabt haben (und vermutlich ein Mann gewesen sein…)!

Mittwoch, 6. März 2013

Heute in der Lunch-Time-Orgel

Heute spielte Andreas Petersen, Kantor der Friedens-Kirchengemeinde, für uns die Orgel mit folgendem Programm, das er ganz auf die momentane vorösterliche Passionszeit abgestimmt hatte:

Gabriel Fauré (1845-1924)
In Paradisum
aus dem Requiem op. 48

J. S. Bach (1685-1750)
Choralbearbeitungen über
O Mensch, bewein dein Sünde groß BWV 622
O Haupt voll Blut und Wunden

Max Reger (1873-1916)
Choralvorspiel zu
„O Haupt voll Blut und Wunden“ op. 67 Nr. 3

Marcel Dupré (1886-1971)
aus dem “Chemin de la croix” (“Der Kreuzweg”) op. 29
8. Station: Jesus tröstet die Frauen von Jerusalem

Frank Martin (1890-1974)
Agnus Dei aus der Messe für Doppelchor


Das ausschließlich aus ruhigen, zum Teil meditativen Stücken bestehende, stilistisch sehr vielfältige Programm mit dem roten Faden der Musik zur Passionszeit begann mit dem bekannten (und wunderschönen) In Paradisum aus dem Requiem von Gabriel Fauré in einer Orgelbearbeitung, die wohl vom Komponisten selbst stammt.
Da Herr Petersen den mobilen Spieltisch der Beckerath-Orgel in der Düsseldorfer Johanneskirche einsetzte und diesen vor den Stufen zum Altarraum platziert hatte, konnten wir dem Organisten heute wieder mal nach längerer Zeit beim Spielen zusehen!

Die große, sehr ausdruckvolle Bach’sche Choralbearbeitung über O Mensch, bewein dein Sünde groß mag ich besonders gerne – ein wunderbares Stück!

Von Bach hörten wir dann auch noch eine kürzere Choralbearbeitung über O Haupt voll Blut und Wunden - hierzu hätte mich im Programm die Angabe der Nummer im Bach-Werke-Verzeichnis (BWV) interessiert, denn ich habe gar keine Orgelfassung dieses Chorals von Bach in meinen schlauen Büchern finden können! Schade, dass es zu diesem Stück keine näheren Informationen gab.

Ein interessanter Kontrast war dann das kurze Choralvorspiel von Max Reger zum selben populären Passionschoral – man merkte dem 1903 entstandenen Stück zwar deutlich die Bach-Tradition an, in der Reger es komponiert hat, zugleich verzichtet er aber auch nicht auf die raffinierte, üppige Harmonik seiner eigenen Epoche der Spätromantik – das Ganze wird zwar nur dezent eingesetzt, ist aber nicht zu überhören.

Wie schon am Aschermittwoch erklang auch heute nochmal die meditative 8. Station aus dem Kreuzweg-Orgelzyklus von Marcel Dupré.

Sehr schön auch das kantable Agnus Dei aus der Doppelchor-Messe des Schweizers Frank Martin – auch diese Bearbeitung des ursprünglichen Chorsatzes für die Orgel hat der Komponist des Stückes selber angefertigt.

Zum Abschluss des Konzerts hätte dann eigentlich noch ein etwas kräftig-dramatischerer Satz erklingen sollen: Der 7. Satz Jesus nimmt das Leiden an aus dem Zyklus von 9 Meditationen La Nativité du Seigneur (Die Geburt des Herrn) von Olivier Messiaen (1908-92). Aber da spielte unserem Organisten wohl die geballte Technik, die in dem Fernspieltisch der Orgel steckt, einen Streich: Plötzlich und unerwartet gab das Instrument keinen Ton mehr von sich, egal, welche Taste oder welches Pedal auch gedrückt bzw. getreten wurde…
Und so endete dieses trotzdem sehr gelungene Konzert eben etwas abrupt mit dem Stück von Frank Martin – die Orgel hätte ja immerhin auch schon viel früher ihren Dienst versagen können als erst kurz vor dem letzten Programmpunkt!
Jaja – Fluch und Segen der Technik…

Dienstag, 5. März 2013

Das Bonmot für Zwischendurch...

Heute von Voltaire (1694-1778):

Alles, was zu dumm ist, um gesprochen zu werden, wird gesungen.


Hui, wenn Monsieur geahnt hätte, dass sich daran auch nach 250 Jahren nicht viel geändert hat...