Pünktlich zum Beginn der vorösterlichen Karwoche möchte ich heute eines meiner liebsten Chorwerke vorstellen, das aktuell neben den ganzen Passionsvertonungen ebenfalls seinen festen Platz im Konzertleben der Fastenzeit hat:
Das Stabat Mater op. 58 von Antonin Dvorak (1841-1904).
Das Stück entstand wohl aus dem tiefen Schmerz heraus, den der Komponist empfand, als im September 1875 sein Töchterchen Josefa kurz nach ihrer Geburt starb. Dvorak verarbeitete seine Trauer in der Folgezeit mit der Vertonung der mittelalterlichen Sequenz "Stabat Mater" (ein in dreizeiligen Strophen gereimter Gesang), in der die Schmerzen und die Trauer Marias thematisiert werden, die mit ansehen muss, wie ihr Sohn am Kreuz einen grausamen Tod erleidet. Der Textdichter ist unbekannt, vermutlich ein italienischer Geistlicher des 13. Jahrhunderts. Dieser Stabat Mater-Text ist von vielen bekannten Komponisten vertont worden, zu den bekanntesten dürften neben Dvorak wohl Pergolesi, Scarlatti, Haydn, Rossini, Liszt und Verdi gehören.
Noch während der Kompositionsphase verstarben im Jahr 1877 zwei weitere Kinder Dvoraks im Säuglings- bzw. Kleinkindalter - man kann also die im Musikstück erklingende Verzweiflung (und deren letztendliche Überwindung, wenn das Stabat Mater am Ende in eine hoffnungsvollere Stimmung umschlägt) als eine Form der persönlichen Trauerarbeit des Komponisten bezeichnen.
Uraufgeführt wurde das Chorwerk am 23.12.1880 in Prag, es folgten weitere Aufführungen im Jahr 1882 (Brünn und Budapest), seinen endgültigen internationalen Durchbruch erlebte das Stabat Mater jedoch im Jahre 1884, als Dvorak es im Rahmen einer Englandreise in der gewaltigen Kulisse der Londoner Royal Albert Hall vor ca. 8.000 Zuhörern mit einem aus über 800 (!) Sängerinnen und Sängern bestehenden Chor und einem dazu passenden Riesenorchester aufführen konnte. In England war damals nach wie vor eine seit Händels Tagen ungebrochene Chormusik- und Oratorienbegeisterung lebendig, die sich zu Dvoraks Zeit gerne in derartigen Massen-Events mit hunderten Ausführenden äußerte - das späte 19. Jahrhundert liebte das Monumentale eben sehr…
Der Triumph seines Stabat Mater machte Dvorak endgültig international - und vor allem natürlich in Großbritannien - zu einem berühmten und geachteten Komponisten und führte zu weiteren Kompositionsaufträgen, so zum Beispiel für sein gewaltiges Requiem op. 89 (1889/90), das als Auftragswerk für das Chorfestival in Birmingham entstand.
Ich hatte das Glück, dieses Chorwerk nicht wie üblich als Zuhörer kennenzulernen, sondern es als Chorsänger aktiv mit einstudieren zu können und auf diese aktive Art und Weise lernt man ein Musikstück ja gleich ganz anders und viel intensiver kennen! Ich kannte von Dvorak bis zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich einige seiner Instrumentalwerke (Symphonie "Aus der Neuen Welt", Cellokonzert, Slawische Tänze) und auch seine Märchenoper "Rusalka" hatte ich schon mal gehört, aber seine Chorwerke waren mir bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt (was, wie ich feststellen musste, leider vielen Musikfreunden so geht) und da hatte ich, wie sich herausstellen sollte, einiges verpasst!
Das war im Dvorak-Jahr 2004, in dem die Musikwelt des 100. Todestages des großen tschechischen Komponisten gedachte. Zusammen mit einem anderen Chor hatten wir uns die Einstudierung und Aufführung der beiden berühmtesten Chorwerke Dvoraks (Stabat Mater und Requiem) vorgenommen - je eine Aufführung fand dann in der Kölner Philharmonie und im Altenberger Dom statt. Schon während der Probenarbeiten beeindruckten mich der Melodienreichtum und die enorme Ausdrucksvielfalt beider Chorwerke, die seitdem zu meinen absoluten Lieblingsstücken gehören - es macht große Freude, die Stücke zu singen (und zu hören natürlich auch)!
Die Aufführung im Altenberger Dom am Nachmittag des Karfreitags gehörte dann auch zu den für mich eindrücklichsten Erfahrungen meiner bisherigen Choristenkarriere: Es wurde vor der Aufführung und auch in den Programmen darum gebeten, nach dem Konzert auf das Applaudieren zu verzichten (dies ist - zumal bei Kirchenkonzerten - am Karfreitag so üblich) und die tiefe Stille, die nach dem Verklingen der letzten Töne in dem großen gotischen Kirchenraum herrschte, verbunden mit dem quasi greifbaren nonverbalen Zuspruch des Publikums (der sich dann draußen auf dem Vorplatz in zahlreichen positiven Äußerungen der Zuhörer fortsetzte), führte zu einem richtigen Gänsehautgefühl und war intensiver und beeindruckender als jeder noch so heftige Applaus!
Dvorak stellt den Chor vor einige interessante Herausforderungen, das Ganze ist aber eine lösbare und überaus dankbare Aufgabe - auch für die vier Solisten (Sopran, Alt, Tenor und Bass), die ebenfalls schöne und ausdrucksvolle Partien bekommen haben. Ich kann gut verstehen, dass Dvoraks Stabat Mater nun schon seit mehr als 120 Jahren zu den absoluten Lieblingswerken großer Kirchen- und Konzertchöre gehört! Ich würde mir wünschen, dass sowohl Dvoraks Stabat Mater wie auch sein wunderbares Requiem auch beim Publikum eine noch größere Bekanntheit erlangen - verdient hätten es beide Werke auf jeden Fall! Wer als Klassik-Fan die ungleich bekannteren Requiem-Vertonungen von Mozart und Verdi mag, dem dürften die beiden erwähnten Dvorak-Chorwerke ebenfalls zusagen!
Dvorak hat sein ca. 90-minütiges Stabat Mater in 10 Sätze aufgeteilt, die unterschiedlich besetzt sind:
1. Satz: Stabat mater (Solisten und Chor)
Der gut 20-minütige Eröffnungssatz ist gleich auch der längste Einzelsatz des gesamten Werks. Er beginnt mit einer ausgedehnten Orchestereinleitung, die mit ihrer dramatischen Steigerung den Verlauf des folgenden ersten Choreinsatzes vorwegnimmt. Dieser beginnt leise und zögerlich, fast stammelnd, wie ungläubig angesichts des Leides und der Trauer. Die Spannung intensiviert sich in der Folge immer mehr und in einer gewaltigen Steigerung führt das Ganze zu einem Ausbruch, der wie ein kollektiver Aufschrei wirkt. Nach einem kürzeren Abschnitt, in dem der Chor eine für das Werk charakteristische schmerzliche Melodie singt (die in Abwandlungen gerade im ersten und letzten Satz mehrfach zitiert wird), folgt ziemlich schnell ein zweiter dramatischer Ausbruch, bevor sich die Stimmung etwas beruhigt und nun, beginnend mit dem Solo-Tenor, die vier Solisten einsetzen und in der Folge in einen Dialog mit dem Chor treten. Nach dieser Episode greift der Chor den Beginn des Satzes wieder auf und die beschriebenen dramatischen Steigerungen wiederholen sich.
2. Satz: Quis est homo (Solistenquartett)
Beginnend mit der Altistin setzen die vier Solisten die klagende Stimmung in einem ausdrucksvollen, teils sehr leidenschaftlichen Quartett fort.
3. Satz: Eia mater, fons amoris (Chor)
Dieser reine Chorsatz ist in Form eines bedrohlich wirkenden Trauermarsches gehalten, die düstere Stimmung wird nur ganz kurzzeitig etwas aufgehellt, dafür gibt es äußerst dramatische Stellen (die "Fac"-Rufe)!
4. Satz: Fac, ut ardeat cor meum (Bass und Chor)
Der Solo-Bass beginnt mit einer von Blechbläsern umrahmten Phrase, die mich immer an den Beginn des "Tuba mirum" im Mozart-Requiem erinnert. Ob sich Dvorak bei der Komposition dieses Satzes von Mozarts Totenmesse inspirieren ließ? Denn wenn kurz danach die Holzbläser eine ruhig dahinschreitende Begleitung anstimmen, erinnert das nun wiederum frappant an den Beginn des Requiems von Wolfgang Amadé… Der Chor singt seinen Part in diesem Satz wie einen Choral (sogar mit separater Orgelbegleitung), wird aber auch zeitweise erneut dramatisch-leidenschaftlich.
5. Satz: Tui nati vulnerati (Chor)
Eine ganz neue Stimmung kommt auf: Der Chor singt ganz innig, fast wie ein Wiegenlied - die dominierende Holzbläserbegleitung klingt charakteristisch böhmisch, bzw. irgendwie ein bisschen folkloreartig - jedenfalls wirkt das Ganze sehr beschaulich. Ein kurzer dramatischer Mittelteil erinnert jedoch an die ernste Grundstimmung des Werks, dann kehrt die beschauliche Stimmung des Satzbeginns zurück.
6. Satz: Fac me vere tecum flere (Tenor und Chor)
Die innige Stimmung des 5. Satzes wird beibehalten, Solo-Tenor und (Männer-)Chor ergänzen einander in einer Art Frage- und Antwort-Spiel - auch in diesem Satz gibt es kürzere dramatische Episoden wie im 5. Satz.
7. Satz: Virgo virginum praeclara (Chor)
Der Chor muss sich hier ganz zurücknehmen, um so schlicht und eindringlich wie möglich zu klingen: Der Satz sollte wie ein Gemeindechoral klingen - ganz einfach und innig. Das Ganze ist wie ein gesungenes Gebet - voller Inbrunst und Eindrücklichkeit und damit in seiner fast kindlich wirkenden Frömmigkeit und Zuversicht meilenweit von der Verzweiflung und Trauer des ersten Satzes entfernt. Aber gerade diese Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten macht ja den Reiz des Werkes aus!
8. Satz: Fac, ut portem Christi mortem (Sopran und Tenor)
Dieses Duett ist ein sehnsüchtig und auch tröstlich klingender Bittgesang - erneut dominieren die begleitenden Holzbläserstimmen und erzeugen eine warm klingende Atmosphäre.
9. Satz: Inflammatus et accensus (Alt)
Dieses ausdrucksstarke Solostück für die Altistin wird durch eine strikte und unerbittlich wirkende rhythmische Streicherbegleitung dominiert, immer wieder unterbrochen von flehend oder bittend klingenden, fließenden Abschnitten.
10. Satz: Quando corpus morietur (Solisten und Chor)
Indem Dvorak diesen letzten Satz in einer ähnlichen Stimmung wie den ersten beginnen lässt, schafft er eine Art Rahmen, der das vielgestaltige Werk einfasst. Diesen letzten Satz beginnen nun aber die vier Solisten, der Chor nimmt das leidenschaftliche Thema auf und steigert das Ganze zu einem dramatischen Ausbruch wie im ersten Teil - allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass sich der kollektive "Aufschrei", in dem die gewaltige Steigerung kulminiert, diesmal in einen strahlenden Dur-Akkord auflöst (ein toller Effekt, da die Zuhörer noch den verminderten Septakkord aus dem ersten Satz im Ohr haben dürften!) und der Chor nun a cappella die Worte "Paradisi gloria" wie in hellstes Licht getaucht schmettern darf. Kurz danach mündet das Ganze in einen fugierten, jubelnden "Amen"-Teil, dessen schnelles Tempo das Geschehen zu einem weiteren Höhepunkt treibt: Als Krönung der vorangegangenen, grandiosen Steigerung singt der Chor erneut a cappella vollstimmig und mit ganzer Kraft erneut die Worte der gesamten letzten Strophe des Stabat Mater - eine echte Gänsehaut-Stelle mit umwerfender Wirkung!!
Schwierig für den Chor, da es nicht ganz einfach ist, mit einem Ensemble, das in der Regel 100 oder mehr Sängerinnen und Sänger umfassen dürfte, die Intonation zu halten - das Ganze "sackt" gerne bei solchen a cappella-Stellen etwas ab, wenn man sich nicht höllisch konzentriert und dann klingt es doch etwas verunglückt, wenn am Ende dieser Stelle das Orchester wieder einfällt und der Chor am Ende zu tief war…
Nach diesem Höhepunkt klingt das Stück immer leiser werdend mit weiteren "Amen"-Rufen aus - das letzte kräftige "Amen" wird noch einmal vom klagenden Motiv aus dem ersten Satz begleitet und der Zuhörer durch diesen Kunstgriff daran erinnert, dass die ganze soeben geäußerte Zuversicht und Tröstung aus der abgrundtiefen Traurigkeit des Beginns entstanden ist. Trauer und Schmerz sind halt untrennbar mit dem ganzen Jubel und der soeben gehörten Äußerung der Hoffnung verbunden. Schön, dass ein großes Werk wie dieses so nachdenklich und verhalten ausklingt und nicht mit beifallheischenden Fortissimo-Akkorden!
Ich besitze eine NAXOS-Einspielung des Stabat Mater, die ich ganz ok finde - aber meine absolute Lieblingsaufnahme, die ich Interessierten unbedingt ans Herz legen möchte, entstand als Live-Aufnahme in Dresden im Jahr 2000: Unter der Leitung des bereits im Jahr 2001 verstorbenen Giuseppe Sinopoli spielt die Staatskapelle Dresden, es singt der Chor der Sächsischen Staatsoper Dresden, die Solisten sind Mariana Zvetkova (S), Ruxandra Donose (A), Johan Botha (T) und Roberto Scandiuzzi (B). Eine tolle Aufnahme mit tollen Sängern und sattem Chor- und Orchesterklang! Sehr zu empfehlen!!
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