Donnerstag, 25. November 2010

Requiem-Vertonungen: Andrew Lloyd Webber

Nur wenige Monate vor dem Requiem von John Rutter komponierte auch der damals bereits weltberühmte Musical-Komponist Andrew Lloyd Webber (geb. 1948) ein Requiem, das auch er seinem im Jahr 1982 verstorbenen Vater widmete.

1984 entstanden und am 24.02.1985 in New York City uraufgeführt, wurde dieses Requiem von Anfang an mit Argwohn und Misstrauen beäugt:
Es ging mal wieder um die alte Frage, ob ein Komponist, der sich vor allem im Genre des unterhaltenden Musiktheaters einen Namen gemacht hatte, tatsächlich auch "ernstzunehmende Musik" komponieren kann (und darf)?
Vielleicht merkt man an meiner Formulierung dieser Fragestellung, dass ich persönlich diese "Problematik" für ziemlich überflüssig halte - warum sollte so etwas denn bitteschön nicht möglich sein? Im 18. Jahrhundert hat auch niemand angezweifelt, dass zum Beispiel ein Bach, Haydn oder Mozart sowohl ernste wie auch unterhaltende Musik komponieren und auf beiden Gebieten gleichermaßen erfolgreich und schöpferisch aufrichtig tätig sein kann. Ich habe noch nie gehört oder gelesen, dass irgendwer diesen Komponisten daraus einen Vorwurf gemacht hat!
Seit dem 19. Jahrhundert hingegen begegnet man immer häufiger Kritikerstimmen, die von einem Komponisten (oder Dichter) erwarten, dass er oder sie irgendwann eine Art Grundsatzentscheidung zu treffen hat: Entweder die "ernsthafte" Kunst - oder die "leichte Muse" (die, wenn sie denn gut gemacht ist, gar nicht so leicht ist, wie es nach außen hin dann den Anschein hat!).
Einen Zwischenweg scheint es nicht zu geben und wer es doch wagt, sich auf beiden Gebieten zu betätigen, der wird von Kritik und den lieben Kollegen geschmäht, bespöttelt und mit dem Stempel "nicht ernst zu nehmen" abgeschoben...!
Als traurig-berühmtes Beispiel könnte man hier den britischen Komponisten Arthur Sullivan (1842-1900) nennen, den man nach seinen zahlreichen Erfolgen auf dem Gebiet der komischen Oper als Komponist auch anderer Werke (Oratorien, Kirchenmusik, Kammermusik, etc.) nicht mehr zur Kenntnis nehmen wollte.

Aber zurück zum Thema:
Auch Andrew Lloyd Webbers Requiem erntete ausgesprochen gemischte Kritiken - die Tatsache, dass der Komponist nicht irgendein, sondern der international bekannteste Musical-Komponist der letzten Jahre war, dürfte zu einem für die Aufführung eines solchen kirchenmusikalischen Werks ungewöhnlich großen Medieninteresse geführt haben.
Kein Kritiker konnte sich diese Steilvorlage entgehen lassen, so scheint es - eine intensive Auseinandersetzung mit der Musik des Requiems an sich, ganz unabhängig von der Person ihres Schöpfers, dürfte wohl zu etwas differenzierteren Urteilen führen (das ist jedenfalls meine Meinung).

Obwohl Webbers Requiem im selben Zeitraum und aus ähnlichem Anlass wie das Rutter-Requiem entstanden ist, sind damit die Gemeinsamkeiten beider Totenmessen aber auch schon fast erschöpft.

Webber vertont in Gegensatz zu John Rutter tatsächlich den kompletten lateinischen Text der Missa pro defunctis und er sieht einen für in anglikanischer Tradition stehender Kirchenmusik typischen Chor vor, in dem die hohen Stimmlagen mit Knaben besetzt sind.

Die Satzaufteilung fällt entsprechend (weitgehend) traditionell aus:

-Introitus: Requiem aeternam/ Kyrie eleison
-Sequenz: Dies irae

--Recordare
--Ingemisco/ Lacrimosa

-Offertorium/ Sanctus
--Hosanna/ Benedictus/ Dies irae/ Exaudi
-Pie Jesu/ Agnus Dei
-Communio: Lux aeterna/ Libera me


Am auffälligsten ist die etwas ungewöhnliche Trennung zwischen dem Sanctus (das an das Offertorium angehängt ist) und dem eigentlich hierzu gehörenden Hosanna in excelsis, das einen eigenen Satz erhält, dem dann auch noch das Benedictus sowie kurze Wiederholungen des Dies irae und des Exaudi (aus dem Introitus) folgen.
Außerdem kombiniert Webber in seinem insgesamt doch recht kompakt wirkenden, gut 45 Minuten dauernden Requiem auch das Kyrie mit dem einleitenden Requiem aeternam, das Agnus Dei mit dem in französischer Tradition stehenden Pie Jesu (eigentlich ein Teil der Sequenz, das hier als vorletzter Satz noch einmal separat auftaucht) und das Lux aeterna mit dem Responsorium Libera me, das eigentlich gar nicht zur Missa pro defunctis gehört, aber von zahlreichen Komponisten als Abschluss ihrer Requiem-Kompositionen berücksichtigt wurde (z. B. Franz von Suppé oder Giuseppe Verdi).

Webbers Requiem sieht als Besetzung zwei Knabensoprane vor (wobei der zweite nur zu Beginn des ersten Satzes solistisch zum Einsatz kommt), einen Solosopran und -tenor, sowie Chor, Orgel und Orchester.
Den Sopranpart schrieb Webber seiner damaligen zweiten Ehefrau Sarah Brightman (geb. 1960) auf den zierlichen Leib und berücksichtigte hierbei ihren großen Tonumfang und die charakteristische Wendigkeit ihrer hellen und klaren Stimme.
Als Tenorsolist konnte sowohl für die Plattenaufnahme im Dezember 1984 wie auch für die Uraufführung zwei Monate später kein Geringerer als Plácido Domingo gewonnen werden - der Komponist dieser Totenmesse war halt nicht irgendwer!
Stardirigent Lorin Maazel übernahm die Leitung des Ganzen.

Zu Beginn wird - nach einem kurzen, von schmerzlich wirkenden harmonischen Reibungen geprägten Zwiegesang der beiden Boy trebles - ein charakteristisches kurzes Motiv auf die Worte "Requiem aeternam" in mehrfach wechselnden Kombinationen der Solisten und des Chores wiederholt und später bei den Worten Rex tremendae in der Sequenz erneut aufgegriffen.

Die Sequenz wird weitgehend vom Chor geprägt, es gibt teilweise dramatische Ausbrüche, die dem hier gesungenen Text Rechnung tragen. Wie im gesamten Requiem wird der Chor auch hier fast ausschließlich homophon geführt, was zum einen eine große und beeindruckende Durchschlagskraft an den lauten Stellen gewährleistet, zum anderen für eine gute Textverständlichkeit sorgt - letzteres ein Charakteristikum anglikanischer Kirchenmusik.

Mit dem Recordare setzt Webber eine Zäsur innerhalb der Sequenz und überlässt nun dem Sopran sein großes, technisch sehr anspruchsvolles Solo. Hier klingt Webber meiner Meinung nach am ehesten so, wie man ihn auch aus seinem 1986 uraufgeführten Musical Das Phantom der Oper her kennt - wenn man bedenkt, dass auch hier Sarah Brightman die weibliche Hauptrolle übernommen hat, überrascht es nicht, dass auch das Recordare frappant im typischen, immer ein wenig an große Oper erinnernden Webber-Tonfall der 1980er Jahre gehalten ist.

Nachdem der Tenor ein längeres, passend zum Text oft abgehackt und verzagt wirkendes Solo im Ingemisco absolviert hat, übernimmt erneut der Chor das Geschehen, wobei das Lacrimosa in der Mitte vom Confutatis unterbrochen wird - und der Zuhörer spätestens hier merken dürfte, woran ihn der Chorgesang der gesamten Sequenz schon erinnert haben dürfte: Webber hat sich hier ganz eindeutig von den charakteristischen Chören aus Carl Orffs Carmina burana inspirieren lassen!
Das erneute Aufgreifen des Lacrimosa durch den Chor hat den Charakter eines inständigen Gebets; für den im Pianissimo verklingenden Satz hat dann erkennbar die Parallelstelle aus Verdis Requiem Pate gestanden - trotz der intensiven Wirkung und des eigenständigen Beginns sind das dann doch ein bisschen viele Stilkopien in ein und demselben Satz, wie ich finde...

Das Offertorium ist eine Mischung aus einem (erneut homophon gehaltenen) Chorhymnus und einem pompösen Zwischenspiel aus Orgelsolo und Orchestertutti. Das Hostias überrascht mit einem jazzigen Grundrhythmus, weitgehend a cappella gehalten schließt sich unmittelbar das Sanctus an.

Wie ein Fremdkörper wirkt das nun folgende, als Einzelstück recht bekannt gewordene Hosanna: Sein flott-schmissiger, von lateinamerikanischer (?) Musik inspirierter Grundrhythmus scheint nicht so recht in das Umfeld eines Requiems zu passen - diese durch und durch fröhliche Lobeshymne hat dann auch eindeutig Musicalnähe (wenn man die denn in einer solchen Komposition von einem solchen Komponisten unbedingt suchen möchte)...
Am Ende dieses Satzes bricht dann jedoch ziemlich unvermittelt der Sopran mit einem "Dies irae"-Ruf (zum charakteristischen Motiv aus dem Recordare-Satz) in die ausgelassen-festliche Stimmung und der Chor schließt mit einem im Pianissimo vorgetragenen Exaudi diesen Satz ab: Die kurzzeitige, ausgelassene Freude ist wieder der ruhigen und bedächtigen Stimmung einer Totenmesse gewichen.

Das Pie Jesu, ein zartes Duett zwischen Knabensopran und Sopran, das später auch vom Chor begleitet wird, ist der emotionale und berührende Höhepunkt des ganzen Werkes - es ist der bekannteste Satz aus Webbers Requiem geworden.
Ich habe in diesem Zusammenhang schon von Vergleichen mit Mozarts berühmtem "Laudate Dominum" oder Orffs "In trutina" (wiederum aus Carmina burana!) gelesen, aber muss ein wirklich guter kompositorischer Einfall denn unbedingt mit anderen Stücken verglichen werden? Dieses Pie Jesu steht für sich und hat eine wirklich anrührende Wirkung, an der man eigentlich nichts schmälern oder kritisieren kann!
Diese musikalisch doch herausragende Bedeutung des vom Text her eigentlich eher unscheinbaren Pie Jesu teilt Webbers Requiem unter anderem mit Faurés berühmtem Requiem aus dem Jahr 1888, aber zum Beispiel auch mit dem fast zeitgleich entstandenen Requiem seines Landsmanns John Rutter.

Der letzte Satz hat zunächst einen eher hymnischen Charakter, bevor das charakteristische "Requiem"-Motiv des Beginns erneut aufgegriffen wird (ein kompositorischer Kunstgriff, der einem an dieser Stelle von Requiem-Vertonungen häufiger begegnet).
Statt der friedlich-versöhnlichen Schluss-Stimmung, auf die nun alles zuzulaufen scheint, überrascht Webber seine Zuhörer nun mit einem (noch dazu für einen Musical-Komponisten!) gänzlich unerwarteten Manöver: Auf einmal bricht ein wüst-dissonantes Orgel-Pauken-Gewitter in größter Lautstärke und Heftigkeit herein, so dass auch der letzte, zwischenzeitlich friedlich eingenickte Konzertbesucher wieder aufgeschreckt sein dürfte! (Ob da wohl das Phantom der Oper an der Orgel saß...?)
Was der Komponist mit diesem Ausbruch - zumal an dieser Stelle - aussagen will (wir befinden uns ja nicht mehr im Weltuntergangs-Szenario des Dies irae der Sequenz!), erschließt sich mir nicht so ganz - vielleicht ist es ein bewusst gegen die Hörerwartungen des Publikums gerichtetes "Störmanöver" nach dem Motto "Hört alle her - ich traue mich, anders zu komponieren, als ihr es von mir eigentlich erwarten würdet"?
Ein raffinierter Schlusseffekt ist jedenfalls, dass der Knabensopran nach diesem "Donnerwetter" im Pianissimo die Worte "Requiem aeternam" zum bereits bekannten "Requiem"-Motiv nun ganz alleine in die plötzlich entstandene Stille hineinsingt und dabei immer leiser wird, bis sich das Ganze ins Unhörbare verliert und das Requiem damit dann zu Ende ist.

Mein Fazit:
Andrew Lloyd Webbers Requiem ist ein abwechslungsreiches Musikstück, mit einigen wirklich originellen, klangschönen und auch modern klingenden kompositorischen Ideen, teils aber auch etwas zu offensichtlichen Stilkopien aus anderen Werken - langweilig wird einem beim Zuhören jedenfalls nicht und ich würde mir wünschen, diesem Stück auch einmal häufiger im Konzert begegnen zu können.

Mir ist derzeit nur die schon erwähnte Studioproduktion aus dem Dezember 1984 bekannt, die beim Label EMI erschienen ist und folgende Besetzung aufweist:

Paul Miles-Kingston (Knabensopran)
Sarah Brightman (Sopran)
Plácido Domingo (Tenor)
Winchester Cathedral Choir
James Lancelot (Orgel)
English Chamber Orchestra
Dirigent: Lorin Maazel

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