Freitag, 19. November 2010

Requiem-Vertonungen: Johann Michael Haydn

Johann Michael Haydn (1737-1806) steht bis heute im Schatten seines fünf Jahre älteren Bruders Joseph, was zu den vielen Ungerechtigkeiten der Musikgeschichte gehören dürfte, denn auch Michael Haydn war ein äußerst produktiver Komponist, der nicht nur im Bereich geistlicher Musik sondern unter anderem auch im Bereich der Symphonik und sonstiger Orchestermusik sowie auch der Oper tätig war.
Für Musikwissenschaftler dürfte gerade sein Werk in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ein beliebtes Forschungsobjekt abgeben, denn viele seiner Werke existieren nach wie vor nur in handschriftlichen Aufzeichnungen und schlummern friedlich in den Archiven vor sich hin - hier gibt es mit Sicherheit noch jede Menge interessanter Musik zu entdecken!

Von 1763 bis zu seinem Tod im Jahr 1806 war Michael Haydn in Salzburg unter anderem am fürsterzbischöflichen Hof als Konzertmeister, Organist aber auch als Lehrer an der Kapellschule tätig, wo er sich einen guten Ruf als ausgezeichneter Pädagoge erarbeitete (einer seiner Schüler war z. B. Carl Maria von Weber).

Seine Tätigkeit in Salzburg brachte ihm zwangsläufig die Bekanntschaft von Leopold und Wolfgang Mozart ein, deren Kollege (und Freund) er während mehrerer gemeinsamer Berufsjahre war. Nachdem Wolfgang Amadé im Jahr 1782 endgültig seinen Dienst am für ihn so verhassten Salzburger Hof quittiert hatte, wurde Michael Haydn auch noch dessen Nachfolger als erster Hof- und Domorganist.
Für Musikwissenschaftler ist sein musikalischer Einfluss auf den 19 Jahre jüngeren Wolfgang besonders interessant - beide schätzten sich auch als Musiker sehr und es gibt zahlreiche gemeinsame Berührungs- und Anknüpfungspunkte (z. B. die 1783 entstandene G-Dur-Symphonie Haydns, die Mozart mit einer eigenen langsamen Einleitung versah und im Verlauf einer Reise in Linz zur Aufführung brachte, was der Symphonie eine eigene Nummer im späteren Köchelverzeichnis einbrachte, da man sie irrtümlich als eine in Gänze von Mozart stammende Symphonie hielt...)

Michael Haydn war unter der Herrschaft des Salzburger Fürsterzbischofs Sigismund von Schrattenbach (1698-1771) nach Salzburg gekommen, der dieses Amt seit 1753 innehatte. Diesen Erzbischof kennt man vor allem aus den zahlreichen Mozart-Biografien: Dort ist er der leutselige und großzügige Dienstherr, der es der Mozart-Familie immer wieder ermöglicht, lange Konzertreisen durch halb Europa zu unternehmen, während sein Nachfolger, Erzbischof Hieronymus von Collredo (1732-1812) in der Regel die Rolle des gestrengen Miesmachers einnimmt, der dem jungen Mozart nur Steine in den Weg legte und ihn schließlich schmählich feuerte. Da wird dann sicherlich gerne (und dramaturgisch ausgesprochen wirkungsvoll) etwas zu sehr schwarz-weiß gemalt, denn so einfach sieht die Sache natürlich nicht aus (und Michael Haydn hat sich auch unter dem neuen Dienstherrn augenscheinlich nicht unwohl in Salzburg gefühlt...)

Jedenfalls bot der Tod von Erzbischof Sigismund von Schrattenbach Ende 1771 dem in Salzburg bislang fast ausschließlich weltliche Musik komponierenden Haydn die Möglichkeit, seine erste große kirchenmusikalische Arbeit für den Salzburger Dom zu verfassen: Das für die Totenmesse des Erzbischofs gedachte Requiem in c-moll, die "Missa pro defuncto Archiepiscopo Sigismundo", wie sie mit vollem lateinischem Titel heißt.
Die Kirchenmusik am Salzburger Dom war zu der Zeit oft von charakteristischer Kürze und Knappheit, was also keinesfalls nur auf den ungeduldigen Erzbischof Colloredo zurückzuführen ist, der keine Lust hatte, Messen abzuhalten, die länger als ca. 45 Minuten dauerten, wonach sich dann natürlich auch die hierfür komponierten Messvertonungen (unter anderem des jungen Mozart) zu richten hatten.
Auch Haydns c-moll-Requiem dauert nicht länger als gut 35 Minuten und man merkt vor allem in der textreichen Sequenz, dass Haydn alles daransetzt, sich nicht zu lange an einzelnen Stellen aufzuhalten, sondern für einen flüssigen, aber niemals gehetzt wirkenden Ablauf zu sorgen.

Das Requiem unterteilt er in folgende Abschnitte:

-Introitus/ Kyrie
-Sequenz
-Offertorium

--Domine Jesu Christe
--Hostias

-Sanctus
-Benedictus
-Agnus Dei/ Communio: Lux aeterna

--Cum sanctis tuis
--Requiem aeternam/ Cum sanctis tuis


Der erwähnte, knapp gehaltene und dennoch solenne (in diesem Zusammmenhang gebräuchliche lateinische Bezeichnung für "feierlich" - daher kommt auch der Begriff Missa solemnis!) Salzburger Kichenmusikstil dieser Totenmesse erinnert sehr an den Tonfall der ungefähr zur selben Zeit entstandenen zahlreichen Messen aus Mozarts Salzburger Zeit - gerade hier dürften sich beide Komponisten gegenseitig sehr beeinflusst haben.
Typisch ist auch die Orchesterbesetzung: Sie besteht aus den Streichern, die durch Pauken und gleich vier Trompeten ergänzt werden, während die Holzblasinstrumente komplett fehlen (was zu dieser Zeit häufig in der Salzburger Kirchenmusik vorkam). Die Salzburger Hofmusik beschäftigte damals nämlich eine auch separat (z. B. zu Parforcejagden) eingesetzte Trompeten-Gruppe (nebst zugehörigem Schlagwerk), die in der Regel zu festlichen Anlässen auch im Salzburger Dom mit aufspielten - und das Requiem für den Erzbischof gehörte hier zweifelsfrei dazu!

Bei der Uraufführung dieser Missa pro defunctis im Januar 1772 spielten auch Vater und Sohn Mozart im Streichorchester mit und man kann sich gut vorstellen, dass diese Musik den jungen Wolfgang beeinduckte und auch seinen eigenen kirchenmusikalischen Stil beeinflusste.

Der Beginn des Requiems erinnert mich mit seiner stetig voranschreitenden Bass-Stimme und den sich darüberschichtenden, chromatisch-schmerzlichen höheren Streichestimmen zunächst spontan an Pergolesis berühmtes Stabat Mater; gerade dieser Satz scheint auch in späteren melodischen und instrumentatorischen Wendungen Mozarts eigenes (unvollendetes) Requiem, das ziemlich genau 20 Jahre später entstand, beeinflusst zu haben.

Haydn zeigt sich als traditionsbewusster Kirchenmusiker, denn er zitiert mehrfach den gregorianischen Choral (z. B. im Introitus und in Benedictus), dessen Wendungen er geschickt in den Stil seiner eigenen Epoche integriert.

Ansonsten herrscht im gesamten Werk ein fast ständiger Wechsel zwischen den vier Solistenstmmen und dem Chor, wobei die Solisten selten über längere Passagen allein, dafür umso häufiger in verschiedenen Kombinationen miteinander zu Wort kommen.

Die Tatsache, dass Haydn Introitus und Kyrie zu einem übergangslos miteinander verschmolzenen Ganzen zusdammenzieht, zeigt, wie der Komponist im Rahmen seiner Vertonung auf sehr geschickte Art und Weise Zeit zu sparen versuchte. Auch am Ende überrascht er den Hörer damit, dass die Communio mit dem Lux aeterna nahtlos an die drei vorangegangenen Agnus Dei-Rufe anschließt und man zunächst gar nicht merkt, dass bereits der nächste Teil der Messe begonnen hat.

Auch Haydn hält sich bei der Komposition dieses Requiems an die zu der Zeit wohl bereits mehr oder weniger übliche Traditionen:
Am Ende beider Teile des Offertoriums wird das Quam olim Abrahae als Fuge vertont, die wiederholt wird, auch das Osanna am Endde von Sanctus und Benedictus wird wiederholt genau wie die an dieser Stelle erwartete Fuge über die Worte Cum sanctis tuis in der Communio.
Mozart wird ihm später in seinem eigenen Requiem den Einfall nachahmen, im Domine Jesu Christe an der Stelle "Ne absorbeat eas tartarus" eine weitere (kurze) Fuge zu komponieren.

Auch Haydn zitiert im Requiem aeternam-Teil am Ende musikalische Motive aus dem Eingangsteil mit demselben Text (was eigentlich naheliegend ist) und schafft damit einen gewissen Rahmen für seine Totenmesse - ein Stilmittel, das von zahlreichen Komponisten vor und nach ihm angewandt wurde (siehe z. B. Johann Adolf Hasse).

Mit seinem c-moll-Requiem erwarb sich Michael Haydn große Anerkennung; wie anhaltend beliebt diese Totenmesse war, zeigt sich zum Beispiel darin, dass sie anlässlich des Todes seines zu europäischer Berühmtheit gelangten älteren Bruders Joseph Haydn im Jahre 1809 gespielt wurde (was ich für eine schöne Geste halte, auch wenn Michael Haydn zu diesem Zeitpunkt berteits drei Jahre tot war).
Und auch zu seinem eigenen Begräbnis erklangen Teile dieses Requiems, denn wie Mozart 1791 war auch Michael Haydn über der Komposition eines Requiems (diesmal in B-Dur) verstorben, das somit unvollendet blieb und dessen fehlende Teile dann für das Seelenamt durch das ältere c-moll-Requiem ergänzt wurden.

Mein Fazit:
Auch wenn dieses Requiem von der Ausdrucksvielfalt und Dramatik her (vor allem in der Sequenz "Dies irae") noch nicht an die später entstandenen berühmten Totenmessen von Mozart und Co. heranreicht, begegnen dem heutigen Hörer hier doch schon viele Elemente, die man mit einer typischen Requiem-Musik verbindet.
Vom festlich-prunkhaft-repräsentativen, irgendwie typisch barocken Requiem eines Biber (um mal in Salzburg zu bleiben) ist Haydns Musik jedenfalls schon meilenweit entfernt!

Ich besitze eine klangschöne, interpretatorisch wirklich gelungene Aufnahme dieses Werks aus dem Jahr 2003, die beim Label MDG erschienen ist.
Es singen Johannette Zomer (Sopran), Helena Rasker (Alt), Markus Schäfer (Tenor), Klaus Mertens (Bass) und der Choeur de Chambre Suisse, begleitet vom Orchestre de Chambre de Lausanne unter der Leitung von Christian Zacharias.

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