Von der Renaissance geht es jetzt in die Barockzeit.
Ich hatte mich bei meinen Recherchen schon gewundert, wie selten die Sequenz "Dies irae" im 15. und 16. Jahrhundert im Rahmen von Vertonungen der Missa pro defunctis überhaupt von Komponisten berücksichtigt wurde. Wenn man überlegt, dass viele Klassikhörer der heutigen Zeit, wenn sie an das Stichwort "Requiem" erinnert werden, mit großer Wahrscheinlichkeit dann zuerst an die unglaublich beeindruckenden Vertonungen von "Dies irae", Tuba mirum", "Lacrimosa" & Co. denken dürften (also alles Teile der besagten Sequenz), die Mozart, Berlioz, Verdi und andere geschaffen haben, dann wundert man sich schon, dass gerade dieser Abschnitt der Missa pro defunctis im 15. und 16. Jahrhundert fast konsequent ausgespart wurde, wenn es um eine neue Requiem-Vertonung ging.
Die zahlreichen, vom Reimschema und der Silbenzahl her völlig gleichförmigen Strophen dieses vom Text her längsten Teils der Totenmesse wurden im Rahmen der Messfeier dann in Form des für diese Verse vorgesehenen gregorianischen Chorals vorgetragen - vielleicht war vielen Komponisten der Text der Sequenz auch einfach zu umfangreich und man befürchtete, den zeitlichen Rahmen einer normalen Messe zu sprengen?
Der wohl erste Komponist, der besagte Sequenz tatsächlich vertont hat, war vermutlich der unter anderem in Ferrara tätige Antoine Brumel (ca. 1460 bis ca. 1520).
Erst mit Beginn der Barockzeit (also ab dem späten 16. Jahrhundert) nehmen sich häufiger Komponisten auch dieses Messteils an, so dass ich heute eine exklusive Vertonung dieser Sequenz vorstellen möchte, die daher auch kein vollständiges Requiem darstellt, da eben alle anderen Teile der Missa pro defunctis fehlen. Aber als Ersatz für mehrere Jahrhunderte ohne "Dies irae" und Co. ist es auf jeden Fall ein hörenswertes Stück Musik! *zwinker*
Es handelt sich um das Dies irae in g-moll von Jean-Baptiste Lully (1632-87), das im Jahr 1683 anlässlich des Begräbnisses der französischen Königin Marie-Thérèse entstanden war.
Die außergewöhnliche Karriere des eigentlich in Florenz als Giovanni Battista Lulli geborenen Monsieur Lully am Hof des französischen Sonnenkönigs Louis XIV. gehört für mich zu den faszinierendsten Kapiteln der Musikgeschichte, zeigt sie doch sehr schön, welche Macht und welchen enormen Einfluss Musik erringen kann.
Was damals am Hof von Versailles alles los war und wie das ganze Leben dort einer permanenten aufwendigen Inszenierung glich, zeigt in opulenten Bildern einer meiner Lieblingsfilme, auf den ich hier gerne verweisen möchte: Le Roi danse (Der König tanzt), ein französischer Spielfilm, der im Jahr 2000 unter der Regie von Gérard Corbiau entstanden ist.
Lully, der ab 1653 am Hof Ludwigs XIV. tätig war, dort zunehmend mehr Ämter innehatte und damit immer mehr Einfluss auch auf die Politik gewann, unterteilt sein Dies irae in 13, meist knapp gehaltene Abschnitte, die alle ineinander übergehen:
1. Symphonie - Dies irae
2. Tuba mirum
3. Mors stupebit
4. Liber scriptus
5. Quid sum miser
6. Rex tremendae
7. Quaerens me, sedisti lassus
8. Juste judex, ultionis
9. Ingemisco
10. Confutatis maledictis
11. Oro supplex et acclinis
12. Lacrymosa dies illa
13. Symphonie - Pie Jesu
Das Dies irae gehört zu den insgesamt 12 "Grand motets", die Lully im Lauf der Zeit für verschiedene kirchliche Anlässe geschaffen hat und dauert gut 20 Minuten.
Der Name Motet deutet bereits etwas über die Besetzung an: Es gibt einen fünfstimmigen Petit choeur und einen fünfstimmigen Grand choeur, die sich im Rahmen von Lullys Komposition immer wieder abwechseln, wobei der Petit choeur solistisch besetzt ist.
Die fünf Solisten des Petit choeur setzt Lully entweder einzeln oder in verschiedenen Kombinationen miteinander ein, wobei der Solo-Bass das Ganze dominiert und die meisten Einsätze hat. So singt er auch die ersten Worte des "Dies irae" am Ende der einleitenden, in wuchtigem Grave gehaltenen kurzen Einleitungssymphonie. Lully verwendet an dieser Stelle zu Bgeinn zum einzigen Male die gregorianische Melodie und leitet von diesem Startpunkt aus dann in seine eigene Klangwelt hinüber.
Der Gesamtcharakter des Dies irae ist - und das ist typisch für die Barockzeit - weniger traurig oder gar dramatisch, sondern geprägt von einer großen Feierlichkeit. Zum Teil klingt die Musik ein wenig besinnlich, zum Teil auch etwas wehmütig, der festliche, repräsentative Grundcharakter des Werkes bleibt aber durchweg erhalten. Eben ganz so, wie man sich eine Trauerfeier am Hof von Versailles auch heute noch vorstellt.
Ich habe eine, wie ich finde, sehr gelungene und gut klingende Aufnahme des Werkes aus dem Jahr 1975, die beim Label ERATO (später dann Warner Classics) erschienen und im Lauf der Zeit mit verschiedenen Coverabbildungen versehen erschienen ist:
Es spielt das Orchestre de Chambre Jean-Francois Paillard, dazu der Chor L'Ensemble vocal "A Coeur Joie" de Valence sowie die Solisten Jennifer Smith, Francine Bessac (Sopran), Zeger Vanderstene (Countertenor), Louis Devos (Tenor), Philippe Hutenlocher (Bass); die Leitung hat Jean-Francois Paillard.
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In Frankreich werden Lullys Opern immer noch aufgeführt. Zur Zeit läuft "Cadmus et Hermione" an der Opera Comique.
AntwortenLöschenIch habe auch "Le Roi Danse" gesehen. Eine großartige Leistung des Hauptdarstellers Benoit Magimel.
Einer meiner Lieblingsfilme und die vorgestellten Alben, gehören ebenfalls zu meinem Lieblingsrepertoire.
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