Donnerstag, 9. September 2010

KLASSIKers Lieblingsopern: La Traviata

LA TRAVIATA gehört ohne Zweifel zu den bekanntesten und beliebtesten Opern überhaupt. Kaum vorstellbar, dass diese dreiaktige Oper bei ihrer Uraufführung am 6. März 1853 im berühmten Teatro La Fenice in Venedig beim Publikum durchfiel! Aber sie befindet sich damit so gesehen eigentlich in bester Gesellschaft, denn viele heutige Opernklassiker haben bei ihrer Uraufführung ein mehr oder weniger großes Debakel erlebt (z. B. Rossinis "Barbier von Sevilla" 1816 oder Bizets "Carmen" 1875).

Giuseppe Verdi (1813-1901) war allerdings auch mit der Wahl der Textvorlage für seine Oper (das Libretto verfasste Francesco Maria Piave) ein ziemliches Wagnis eingegangen, denn der im Jahr 1848 erschienene Roman "La dame aux camélias" von Alexandre Dumas dem Jüngeren (1824-95), der aufgrund seines großen Erfolges (ab 1852 auch als Theaterstück) weite Verbreitung erfuhr, behandelte mit der Schilderung des tragischen Schicksals einer schwindsüchtigen Pariser Edelprostituierten (Kurtisane) ein zeitgenössisches, gesellschaftskritisches Thema. Auch der Roman ist übrigens sehr lesenswert und enthält mehrere Details, die nicht in die Oper übernommen wurden!

Sieht man einmal von der 1850 entstandenen Oper Stiffelio ab, die allerdings nach Schwierigkeiten mit den Zensurbehörden in ihrer eigentlichen Gestalt zu Verdis Lebzeiten nie aufgeführt werden konnte, ist La Traviata tatsächlich die einzige Verdi-Oper, deren Handlung in der damaligen Gegenwart spielt - alle anderen Opern Verdis spielen (auch aus der Perspektive der Menschen des 19. Jahrhunderts) in längst vergangenen Epochen. Dies erzeugte eine automatische Distanz zwischen Zuschauern und der dargebotenen Bühnenhandlung, die damals üblich war und auch von neuen Stücken erwartet wurde.
Allein unter diesem Aspekt ist La Traviata also schon etwas Besonderes, denn zeitgenössische Stoffe auf der Opernbühne waren Mitte des 19. Jahrhunderts noch absolut unüblich - erst im letzten Drittel dieses Jahrhunderts wurden auch solche Opernsujets allmählich häufiger und populärer.
So gesehen überrascht es dann auch nicht, wenn man erfährt, dass sowohl die Uraufführung der Traviata, wie auch die meisten Aufführungen in den Folgejahren von den Opernbühnen kostümtechnisch noch in die Barockzeit zurückverlegt wurden - so etwas kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen: Violetta à la Madame Pompadour im Reifrock und Alfredo mit Zopf und Puderperücke! Ich vermute, dass sich die meisten Theater einfach nicht trauten, den bekannten "Kameliendamen"-Stoff im eigentlich vorgesehenen, zeitgenössischen Umfeld auf die Bühne zu bringen - man fürchtete wohl Publikumsskandale und Ärger mit den nach wie vor äußerst strengen Zensurbehörden.

Die Zuschauer hatten hingegen keine Schwierigkeiten, die hinter dieser Oper stehende Originalvorlage zu erkennen, da Dumas' "La dame aux camélias" zu der Zeit in weiten Teilen Europas (vielleicht auch wegen der leicht skandalumwitterten Handlung?) sehr populär war.

Der Librettist Francesco Maria Piave (1810-76), der für Verdi neben der Traviata noch zahlreiche andere Libretti verfasste, schaffte es durch seine sehr geschickte und dramaturgisch äußerst gelungene Verdichtung des ursprünglichen Romans, dass die Opernhandlung ausschließlich durch die drei Hauptpersonen Violetta Valéry, Alfredo Germont und dessen Vater Giorgio Germont getragen wird. Die zahlreichen anderen Figuren, die in der Oper noch auftreten, fungieren (bis auf wenige Ausnahmen) als auf nur wenige Sätze reduzierte Stichwortgeber, deren Funktion für die Gesamthandlung des Stückes ohne größere Bedeutung bleibt.
Somit konnte sich Verdi beim Komponieren dann auch intensiv mit den drei Hauptfiguren beschäftigen - "illustrative Nebenhandlungen" (wie man sie in Opern ja häufig antrifft) bleiben auf wenige kurze Episoden beschränkt (z. B. der Auftritt der Stierkämpfer und Zigeunerinnen zu Beginn der Ballszene im 2. Bild des zweiten Akts).
Die Oper besitzt somit eine große dramaturgische Stringenz, was heutigen Erwartungen und Anforderungen sehr entgegenkommt. Verdi scheint das Textbuch sehr inspiriert zu haben, denn die Komposition erfolgte im unglaublich kurzen Zeitraum von nur ca. 6 Wochen und musste im Vorfeld der Premiere teilweise unter erheblichem Zeitdruck vollendet werden.

Ich liebe an dieser Oper vor allem die unglaublich zart und zugleich schmerzlich-sehnsüchtig wirkenden Vorspiele zum ersten und dritten Akt, die großen Soloszenen der Violetta im ersten und dritten Akt (dazu später noch mehr), das sehr emotionale Duett zwischen ihr und Vater Germont, das wohl eines der umfangreichsten Duette sein dürfte, das Verdi je komponiert hat, sowie die leidenschaftliche, für mich einen so unglaublich typisch italienischen Tonfall treffende Arie von Vater Germont (ebenfalls im zweiten Akt). Auch die vom Chor getragenen Festszenen im ersten und zweiten Akt sind wirklich raffiniert gelungen: Fest und Ball laufen zum großen Teil im Hintergrund der Szene ab, während sich die Solisten im Vordergrund musikalisch völlig unabhängig davon miteinander befassen - klingt unglaublich leichthändig und wie selbstverständlich, ist kompositorisch aber bestimmt nicht so einfach umzusetzen gewesen! Im Gegensatz zu manch anderer meiner Lieblings-Opern, die zumindest für mich persönlich manchmal auch nicht ganz so gelungene (oder zu langatmig geratene) Passagen haben, finde ich an der Traviata nichts dergleichen auszusetzen: Hier passt irgendwie einfach alles!

Kurz noch mal zum Autor Alexandre Dumas: Ich habe selber jahrelang Schwierigkeiten gehabt, Vater und Sohn Dumas auseinanderzuhalten, dabei ist es eigentlich ganz einfach:
Während Sohn Alexandre sich zeitlebens fast ausschließlich mit gesellschaftskritischen Themen in seinen Romanen, Theaterstücken und sonstigen literarischen Werken auseinandersetzte, die zwangsläufig aufgrund ihres starken Zeitbezugs heutzutage bis auf die "Kameliendame" (nicht zuletzt dank Verdis weltberühmter Vertonung!) fast gänzlich in Vergessenheit geraten sind, erfreut sich Alexandre Dumas der Ältere (1802-70) bis heute großer Bekannt- und Beliebtheit, da er sich vor allem äußerst produktiv im zeitlosen (und offensichtlich viel populäreren) Sujet des Abenteuerromans betätigte und Titel wie "Die drei Musketiere", "Der Mann in der eisernen Maske" oder "Der Graf von Monte Christo" nach wie vor bekannte Klassiker sind.

Zurück zur Oper: Nicht zuletzt aufgrund der in ihr enthaltenen zeitlosen Themenbereiche (aufopferungsvolle, auch zum Verzicht bereite Liebe; Prostitution; unheilbare Krankheiten; Vorurteile gegenüber gesellschaftlichen Randgruppen, etc.) erfreut sich "La Traviata" ("Die vom rechten Weg Abgekommene") gerade in der heutigen Zeit einer ungebrochenen Beliebtheit auch bei modernen Regisseuren, die hiermit auch der heutigen Gesellschaft in ihren Inszenierungen noch einen Spiegel vorhalten können, was bei zahllosen anderen Opern, deren Handlung in der Antike oder dem Mittelalter angesiedelt ist, sicherlich nicht ganz so einfach ist.
Mir haben bei weitem nicht alle Inszenierungen dieser Oper gefallen, die ich im Laufe der Zeit schon zu sehen bekommen habe (die aktuelle Kölner Inszenierung gehört zum Glück nicht dazu!), aber immerhin kann man auch über grausliche Inszenierungen hinterher wunderbar diskutieren… *grins*

Eine wunderschöne und stimmige Version der Oper, die dem Zuschauer die Möglichkeit bietet, sich das Ganze einmal im originalen Umfeld im Paris Mitte des 19. Jahrhunderts anzuschauen (dazu hat man heute ja dank ambitionierter Regisseure auch nicht mehr allzu häufig die Gelegenheit), stellt die im Jahr 1982 entstandene Verfilmung durch Franco Zeffirelli dar (mit Plácido Domingo als Alfredo und der nicht nur gesanglich sondern vor allem auch darstellerisch unglaublich überzeugenden Teresa Stratas als Violetta), die auf DVD erschienen ist und die ich mir, schon aufgrund der wirklich opulenten Optik, die die verschwenderische Pracht eines längst vergangenen Paris wieder auferstehen lässt, immer wieder gerne anschaue.

Abgesehen von der oben erwähnten Verfilmung habe ich zwei persönliche Lieblingsaufnahmen dieses Verdi-Klassikers (ich liste hier nicht alle der zahlreichen, oft winzigen Nebenrollen auf):

Violetta: Ileana Cotrubas
Alfredo: Plácido Domingo
Germont: Sherrill Milnes
Flora: Stefania Malagú
Annina: Helena Jungwirth
Dr. Grenvil: Giovanni Foiani
Bayerischer Staatsopernchor
Bayerisches Staatsorchester
Dirigent: Carlos Kleiber

(Deutsche Grammophon 1977)

Violetta: Renata Scotto
Alfredo: Alfredo Kraus
Germont: Renato Bruson
Flora: Sarah Walker
Annina: Cynthia Buchan
Dr. Grenvil: Roderick Kennedy
Ambrosian Opera Chorus
Philharmonia Orchestra
Dirigent: Riccardo Muti

(EMI 1982)


Dass die Einspielung unter dem legendären Carlos Kleiber (1930-2004) zu meinen Favoriten gehört, dürfte wahrscheinlich nicht groß überraschen - sie wird allgemein als eine der besten Traviata-Aufnahmen überhaupt gewürdigt. Orchester und Chor klingen exzellent, auch die Herren Domingo und Milnes liefern hervorragende Leistungen ab - die Schau wird ihnen allerdings definitiv von der hier wirklich genialen Ileana Cotrubas gestohlen, die die Violetta in ihrer Zwiespältigkeit und Verletzlichkeit mit rein akustischen Mitteln unglaublich überzeugend und anrührend gestaltet! Scheinbar mühelos auch über alle technischen Schwierigkeiten dieser Partie hinwegsingend macht es einfach Freude, ihr zuzuhören.
Bei Plácido Domingo, der sich über weite Teile seiner Partie angenehm zurücknimmt und nicht als strahlender Tenorheld rüberkommt, stört mich allerdings der letzte Ton seiner großen Arie zu Beginn des zweiten Akts - keine Ahnung, was da passiert ist, aber das klingt plötzlich und unvermittelt so gekünstelt und forciert, dass man sich fragt, warum man die Aufnahme dieser Arie nicht noch einmal wiederholt hat (oder hat da der Tonmeister gepfuscht - es klingt fast so)?!
Ich kenne viele wunderbare Aufnahmen mit Domingo (den ich als einen unglaublich vielseitigen, stimmschönen und intelligenten Sänger und Musiker schätze) - ein derart verunglückter Arienschluss ist mir bei ihm in seiner ganzen sonstigen Diskografie nicht untergekommen! Schade, dass das ausgerechnet in dieser ansonsten so gelungenen Gesamtaufnahme passieren musste…
Naja, das ist jetzt natürlich Jammern auf höchstem Niveau, aber irgendein Haar in der Suppe muss man ja finden, um sich daran hochziehen zu können *zwinker*


Die Muti-Einspielung mit Renata Scotto in der Titelrolle hat für mich zwei dicke Pluspunkte:
Zum einen den wunderbaren Spanier Alfredo Kraus (1927-99) als, nun ja als Alfredo. Der lyrische Tenor von Alfredo Kraus passt ganz wunderbar zu der Partie seines Namensvetters - er hat auch überhaupt keine technischen Probleme bei der oben erwähnten großen Arie zu Beginn des zweiten Aktes (ein Vergleich Domingo - Kraus ist hier ganz besonders interessant!), alles klingt bei ihm absolut schwere- und mühelos - ganz fantastisch!

(Ich finde die Besetzung des Alfredo mit "Heldentenören" wie z. B. Luciano Pavarotti dann auch eher problematisch - Pavarotti ist als leidenschaftlich-draufgängerischer Manrico ("Troubadour"), Duca ("Rigoletto") oder Radamès ("Aida") sicher perfekt, aber für den viel sensibleren Alfredo ist ein kraftvoll-strahlendes Organ wie das seine einfach nicht das richtige, auch wenn sich eine Aufnahme mit einem berühmten Solisten wie ihn sicher gut verkaufen lässt…)

Ein weiterer Pluspunkt der Muti-Aufnahme ist die Tatsache, dass man hier die leider viel zu seltene Gelegenheit hat, die beiden Arien der Violetta (im ersten und dritten Akt) endlich einmal in ihrer vollständigen Länge zu hören.
Klingt zunächst erstaunlich, liegt aber daran, dass Verdi beide Arien in Strophenform komponiert hat: Vom Ende der zweiten (und damit auch jeweils letzten) Strophe abgesehen, durchlaufen beide Arien musikalisch zweimal das gleiche Material und es scheint fast üblich geworden zu sein (auf der immer auf alle nur möglichen Gelegenheiten zu Kürzungen und Strichen bedachten Bühne sowieso), die jeweils zweite Strophe in den beiden Violetta-Arien einfach unter den Tisch fallen zu lassen! Man hängt einfach das etwas ausgezierte Ende der letzten Strophe an das Ende der ersten und verkürzt damit die Arien der Hauptfigur um jeweils die Hälfte!
Ich habe keine Ahnung, warum das von fast allen Ausführenden scheinbar widerstandslos als übliche Praxis so hingenommen wird (auch in der sonst so gelobten Kleiber-Aufnahme!) - es ärgert mich jedenfalls immer wieder aufs Neue. Wenn man schon live im Theater aus Zeitgründen kürzen muss (warum auch immer), sollte man sich zumindest im Aufnahmestudio doch die Zeit nehmen, Arien wie diese auch in Gänze aufzunehmen! In der Muti-Einspielung kann man sich jedenfalls davon überzeugen, dass die beiden Violetta-Arien (die ja schließlich wunderschön sind!) auch in zweistrophiger Form keinesfalls an Wirkung und Eindringlichkeit verlieren ;-)
Diese (Ver-)Kürzung mehrstrophiger Arien scheint allerdings ein Problem zu sein, das nicht nur auf die "Traviata" beschränkt ist - auch in Verdis "Don Carlos" oder Wagners "Lohengrin" (die Gralserzählung) sind mir solche Stellen bekannt, an denen regelmäßig großzügig auf die zweite Strophe wunderschöner Arien verzichtet wird (die Liste ließe sich wahrscheinlich leider noch beliebig erweitern…)!

Renata Scotto als Violetta in der Muti-Einspielung hat zugegebenermaßen eine Stimme, die sicher nicht jedermanns Sache ist. Ileana Cotrubas' Stimme klingt im direkten Vergleich zu ihr viel klarer und "einschmeichelnder", aber Renata Scotto macht dies durch eine nicht minder intensive Rollengestaltung mehr als wett - auch ihr nimmt man Violettas Schmerz und unendliche Verzweiflung ab und das ist schließlich das, was wirklich zählt!
Auch der Callas konnte man ja nicht wirklich eine im herkömmlichen Sinne "schöne Stimme" bescheinigen, aber auch sie konnte sich mit einer Intensität in ihre Rollen hineinsteigern, die solche Kriterien zu Nebensächlichkeiten werden ließen!

Ich bin mit diesen beiden Gesamtaufnahmen, die sich aufgrund der genannten Aspekte wunderbar ergänzen, vollkommen glücklich und habe daher bislang noch nicht das Bedürfnis verspürt, mir weitere Aufnahmen (auch jüngeren Datums) dieser Oper zuzulegen.

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