Mittwoch, 4. April 2012

Musik zur Passionszeit (II)


Und wieder einmal ist die Karwoche da…

Absolute „Hochsaison“ für Klassik- und natürlich ganz besonders Chormusikfreunde, sich mit einer (oder gleich mehrerer) der zahlreichen Passionsmusiken zu beschäftigen, die das Füllhorn der Musikgeschichte für den geneigten Hörer/ die geneigte Hörerin so bereithält!

Auch wenn für mich persönlich (und so wird es vermutlich noch vielen anderen Musikfreunden gehen) trotz der mannigfaltigen „Konkurrenz“ die beiden Bach’schen Passionen die schönsten, tiefempfundensten und musikalisch gehaltsvollsten Vertonungen der Musikgeschichte sind (analog hierzu gilt dasselbe auch für das Weihnachtsoratorium!), ist es doch immer wieder sehr spannend und interessant, sich hier auf Entdeckungsreise zu begeben und zu erleben, wie Bachs Zeitgenossen oder (und das ist fast noch spannender) Komponisten anderer Epochen sich mit der Passionsgeschichte auseinandergesetzt haben, welche Herangehensweise sie gewählt und welche Schwerpunkte sie gesetzt haben.

Nachdem ich hier im vergangenen Jahr ein paar Passionsmusiken aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgestellt habe, möchte ich diesmal vier Werke präsentieren, die schwerpunktmäßig aus dem 19. Jahrhundert stammen.

Dem ist voranzuschicken, dass im Verlauf des 19. Jahrhunderts die bis heute andauernde „Bach-Renaissance“ einsetzte, die sich zunächst nur auf wenige Werke des großen Thomaskantors stützte und dann im Verlauf der Zeit (und Forschungsarbeiten) immer breiter und vielfältiger wurde.
Die Speerspitze dieser so nachhaltigen Wiederentdeckung bildete natürlich die legendäre Aufführung der Matthäuspassion im Jahr 1829 in Berlin durch Felix Mendelssohn (1809-47) – eine wirkliche Pioniertat, deren Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann!

Somit stand eine Passionsmusik am Beginn des „Bach-Revivals“ und auch wenn das Interesse an der Johannespassion zunächst noch etwas geringer war, so begann man auch hier alsbald schon mit „Wiederbelebungsversuchen“ – Robert Schumanns Düsseldorfer Fassung von 1851 ist hier sicher der bedeutendste Meilenstein.

Dass beide erwähnte Wiederaufführungen etliche Änderungen in Bezug auf die Instrumentierung sowie Kürzungen enthielten, versteht sich fast von selber – vom Bewusstsein einer „historisch informierten“ Wiedergabe, wie sie heutzutage (fast) selbstverständlich ist, war man Mitte des 19. Jahrhunderts natürlich noch weit entfernt, aber immerhin spielte man die Bach-Passionen nun nach zum Teil mehr als hundertjähriger Pause wieder!

Interessanterweise sind alle 4 Passionsmusiken, die ich heute hier vorstellen möchte, in Auseinandersetzung mit den beiden Bach-Passionen entstanden, was zeigt, wie groß deren Einfluss schon innerhalb weniger Jahre bereits geworden war.
Beginnen wir mit Carl Loewe (1796-1869), der heutzutage – wenn überhaupt noch – hauptsächlich durch seine zahlreichen Balladenvertonungen (für Singstimme mit Klavierbegleitung) bekannt ist.

Er wirkte 46 Jahre als städtischer Musikdirektor in Stettin und hier entstand im Jahr 1847 auch sein Passions-Oratorium „Das Sühneopfer des neuen Bundes“.

Dieses ca. 90-minütige Oratorium gliedert sich in 3 Teile und umfasst die Passionsgeschichte von der Salbung in Bethanien bis zur Grablegung (wobei unter anderem aber die populäre Episode der Verleugnung durch Petrus fehlt); die Textdichtung von Wilhelm Telschow (1809-72) bezieht hierbei Bibeltexte aller 4 Evangelisten – vor allem Johannes und Matthäus - mit ein (nicht alle Episoden der Passionsgeschichte werden nämlich auch von allen 4 Evangelisten berichtet) und beinhaltet auch Choralstrophen und Psalmverse.

Loewe hatte bereits 1831, also nur 2 Jahre nach Mendelssohns Berliner Aufführung der Matthäuspassion diese auch in Stettin aufgeführt (und im Jahr 1841 offenbar auch noch die Johannespassion).
Somit kann man ihn wohl zu den großen Bach-Enthusiasten seiner Zeit rechnen und die Komposition seiner eigenen Passionsmusik steht somit natürlich unter dem Eindruck der beiden Bach-Werke.

Die Besetzung von Loewes Passions-Oratorium ist nicht sehr aufwendig – vier Solisten (Sopran, Alt, Tenor, Bass) und einem gemischten Chor wird ein reines Streichorchester sowie eine Orgel (die hauptsächlich in den Rezitativen Verwendung findet) zur Seite gestellt.

Anders als bei Bach gibt es in Das Sühneopfer des neuen Bundes keine festgelegte Stimme, die die Rolle des Evangelisten übernimmt (in der Regel ein Tenor) – alle Solostimmen tragen abwechselnd die Evangelientexte vor, die Christusworte werden hingegen der Tradition entsprechend auch in diesem Oratorium von einem Bariton (bzw. Bass) übernommen.

Wo es die Handlung erlaubt, gestaltet Loewe die Komposition auch dramatisch aus. Mich erinnerte der Chor der herannahenden Wachen, die Christus im Garten Gethsemane festnehmen wollen, z. B. ein wenig an die entsprechende Szene in Beethovens Oratorium Christus am Ölberge op. 85 aus dem Jahr 1803, in dem Beethoven zum Teil recht opernhaft vorgeht. Eventuell hat sich Loewe hier auch von diesem Werk inspirieren lassen.

Chorstellen wie „Ans Kreuz mit ihm“ oder „Der du den Tempel Gottes zerbrichst“ könnten hingegen ohne Weiteres auch von Bach selber stammen.

Der warme und intensive Klang des begleitenden Streicherensembles verleiht dem Ganzen eine eindringliche und intensive Atmosphäre und trägt durchaus zum positiven Gesamteindruck dieses Werkes bei. Zusätzliche Stimmen für Blasinstrumente, die die Streicherstimmen lediglich verdoppeln, wurden für eine spätere Fassung des Werkes hinzugefügt – eine Version, die jedoch musikalisch nichts Neues zu bieten hat und den besonderen Klangcharakter des reinen Streicherensembles verwässert.

Ich habe mir die im Jahr 2006 bei NAXOS erschienene Aufnahme dieses Oratoriums angehört. Es handelt sich hierbei um eine Live-Aufnahme aus dem August 2003:
Nathalie Gaudefroy (Sopran)
Christianne Stotijn (Alt)
Jacky da Cunha (Tenor)
Henk Neven und Edwin Crossley-Mercer (Bass)
Ensemble Vocal et Instrumental des Heures Romantiques
Leitung: Udo Reinemann


Es ist schade, dass es von diesem wirklich gelungenen Oratorium kaum greifbare Einspielungen gibt. Die NAXOS-Aufnahme ist immerhin preisgünstig zu erwerben und kann durchaus als gelungen bezeichnet werden – man bekommt einen guten Eindruck von diesem selten zu hörenden Werk!
Allerdings stören mehrfach die typischen Geräusche eines Live-Mitschnitts das Hörvergnügen, außerdem klingt der Chor an manchen Stellen etwas schrill (vor allem die Frauenstimmen!) und hat gelegentlich ein paar Koordinationsschwierigkeiten (z. B. in der Fuge im Schlusschor).
Der Tatsache, dass (bis auf den Dirigenten) ausnahmslos Nicht-Muttersprachler am Werk sind, sind einige kleinere Textunverständlichkeiten beim Chor wie bei den Solisten geschuldet, die aber nicht wirklich ins Gewicht fallen.
Insgesamt muss man feststellen, dass es schon ausgesprochen merkwürdig ist, dass die einzige derzeit verfügbare Aufnahme dieses Werks in Frankreich entstanden ist, was, wie ich finde, eine wirklich beachtliche und lobenswerte Leistung darstellt! Offenbar hat sich in Deutschland niemand finden können (oder wollen), der mit einem hiesigen Ensemble dieses Passions-Oratorium einmal einspielen wollte?!? Nun, was nicht ist, kann ja noch werden! Und mit der NAXOS-Aufnahme kann ich insgesamt gut leben!

Den österreichischen Komponisten Heinrich von Herzogenberg (1843-1900), der allerdings hauptsächlich in Leipzig und dann in Berlin tätig war, kann man ebenfalls als großen Bach-Verehrer bezeichnen.
Während seiner Leipziger Zeit gehörte er 1874 zu den Mitbegründern des Bach-Vereins und war in diesem Zusammenhang auch mit dem berühmten Bachforscher Philipp Spitta (1841-94) befreundet. Dessen Bruder, der Theologe Friedrich Spitta (1852-1924), der ab 1887 als Theologieprofessor in Straßburg wirkte, hatte Herzogenberg um die Komposition einer Passionsmusik für die elsässische Metropole gebeten (im Jahr 1894 hatte man zusammen bereits das Weihnachtsoratorium Die Geburt Christi realisiert).
Wichtige Voraussetzung für diese Komposition sollte die Berücksichtigung möglichst einfacher Anforderungen in puncto Besetzung und technischer Schwierigkeiten sein (die musikalischen Verhältnisse vor Ort waren wohl ausgesprochen bescheiden…).

So kam es, dass der Katholik von Herzogenberg in den Jahren 1895 bis 1896 eine evangelische Passionsmusik komponierte: Die Passion op. 93 („Kirchenoratorium für Gründonnerstag und Karfreitag“) – ein zweiteiliges, in Gänze etwas über 2 Stunden dauerndes Werk, das aber auch in zwei einzelnen Teilen an den liturgisch vorgesehenen beiden Tagen aufgeführt werden kann.

Am 22. März 1896 fand dann auch zunächst die Uraufführung des ersten Teils unter der Leitung von Friedrich Spitta in Straßburg statt, bevor von Herzogenberg das komplette Oratorium am 3. April 1897 in Berlin aus der Taufe hob.

Wie schon für das Weihnachtsoratorium lieferte Friedrich Spitta auch für die Passionsmusik das Textbuch. Er wählte hierbei vorrangig Textstellen aus dem Johannesevangelium (die eigentliche Abendmahlszene stammt aus Matthäus) und verschiedenen Bußpsalmen aus. Da es für den Gründonnerstag einen eigenen Teil gibt, fällt der Abendmahlsteil in diesem Oratorium ungewöhnlich ausführlich aus – so findet die sonst eigentlich fast nie vorzufindende Fußwaschung Berücksichtigung sowie einige der abschließenden Reden Jesu, die im Johannesevangelium unmittelbar vor der Gefangennahme im Garten Gethsemane stehen. Im Karfreitagsteil fehlen unter anderem die Episoden mit der Verleugnung des Petrus und die Grablegung – das Werk endet relativ abrupt mit dem Kreuzestod Jesu.

Gerade aufgrund des erwähnten ersten Teils fällt der Christus-Part in diesem Werk recht umfangreich aus und der Sänger dieser Partie muss wirklich ein gut ausgebildeter Künstler sein, um die expressiven Gesänge, die Herzogenberg für seinen Christus vorsieht (hier wiederum traditionell ein Bariton), entsprechend bewältigen und transportieren zu können. Auch der Part des Evangelisten (der Tradition folgend ein Tenor) ist ähnlich umfangreich und ausdrucksstark.

Die übrigen Anforderungen gerade an die Sänger, 4 Solisten (Sopran, Alt, Tenor und Bass) und den Chor, sind tatsächlich – der gestellten Aufgabe entsprechend – gut zu bewältigen. So fehlen größere Solo-Arien fast ganz, dafür ist der Chorpart entsprechend umfangreich, das Ganze ist eigentlich ein Fest für jeden Konzertchor! Umso erstaunlicher, dass das Werk fast nie aufgeführt wird…

Das Orchester beschränkt sich – wie bei Loewe – auf ein reines Streichorchester, die Choräle werden von der Orgel begleitet, in den Rezitativen kommt außerdem ein Harmonium zum Einsatz – ein Ende des 19. Jahrhunderts ja ausgesprochen weit verbreitetes und populäres Instrument.

Ein besonderes Charakteristikum dieser Komposition ist übrigens auch die Einbeziehung der zuhörenden Gemeinde in den gemeinschaftlich gesungenen Chorälen. Möglicherweise ist dies seinerzeit ja auch bei Bach sowohl in seinen Passionen wie auch in den sonntäglichen Kantaten so vorgesehen und praktiziert worden.

Es gibt auch einige Stellen, in denen Herzogenberg sich eindeutig an barocken Vorbildern orientiert hat – zum Beispiel im Chor „O große Lieb“ im 2. Teil. Im Gegensatz zu Bach fasst er sich hingegen in den sogenannten Turba-Chören (also immer dann, wenn die Volksmenge in der Bibelerzählung etwas von sich gibt) ausgesprochen kurz. Nichtsdestotrotz sind aber auch diese so kurzen Choreinwürfe ausgesprochen markant und verfehlen ihre Wirkung nicht.

Als musikalisches Fundament der ausdrucksstarken Rezitative (die wiederum eindeutig eher der Romantik als der Barockzeit zuzuordnen sind) verwendet Herzogenberg 2 Choralmelodien, die er stets neu variiert oder nur in Teilen zitiert: Für den Gründonnerstagsteil hat er sich den Choral „Schmücke dich, o liebe Seele“ ausgesucht, der traditionell als „Abendmahlschoral“ gilt.
Für den Karfreitagsteil zieht Herzogenberg den Passionsklassiker schlechthin heran: „O Haupt voll Blut und Wunden“ – gerade weil diese Melodie so besonders bekannt ist, kann man beim Anhören der Rezitative sehr gut nachvollziehen, wann und wie Herzogenberg Teile daraus verwendet. Eine wirklich ausgesprochen gelungene Idee, hier quasi einen musikalischen "roten Faden" einzufügen! Beide Choräle werden übrigens auch als solche im Verlauf des Oratoriums angestimmt und tauchen somit nicht nur als Zitat auf.

Auch für dieses Werk ist die verfügbare Diskographie nicht gerade üppig. Ich kenne nur die Aufnahme von 1997, die im Jahr 2007 beim Label ET’CETERA erschienen ist:
Ivan Goossens (Evangelist; Tenor)
Jan van der Crabben (Christus; Bariton)
Greetje Anthoni (Sopran)
Lieve Maartens (Alt)
Jan van Elsacker (Tenor)
Dirk Snellings (Bass)
Joris Verdin (Harmonium & Orgel)
Chor und Orchester von Ex Tempore
Leitung: Florian Heyerick


Nach der französischen Loewe- nun eine offenbar belgische Herzogenberg-Produktion. Keine Ahnung, warum man hierzulande solche Aufnahmeprojekte nicht auf die Beine zu stellen vermag…?
Aber auch den belgischen Nachbarn gebührt für die Einspielung höchstes Lob – nicht nur für das Schließen einer echten Repertoirelücke!
Die Aussprache fast aller Beteiligter ist wirklich mustergültig und die sehr engagierten, ausdrucksstark und dennoch stimmschön agierenden Herren Goossens und v. d. Crabben lassen wirklich kaum Wünsche offen.

Der Schlusschoral des 1. Teils „Mein Lebetage will ich dich aus meinem Sinn nicht lassen“ wird überraschenderweise nicht gesungen, sondern ausschließlich von der Orgel gespielt. Möglicherweise wollte man diesem Instrument (laut Booklet hat man intensiv nach einer zeitgenössischen Orgel gesucht und wurde schließlich in Wuppertal in Gestalt einer Sauer-Orgel aus dem Jahr 1894 fündig!) auf diese Weise auch einen etwas ausführlicheren Soloauftritt zubilligen.

Als großer Freund klassischer Musik von den britischen Inseln möchte ich die Gelegenheit nutzen, nun noch 2 Passionsmusiken von dort vorzustellen:
Herzogenbergs Zeitgenosse John Stainer (1840-1901), Organist an St. Paul’s Cathedral und Professor in Oxford, komponierte im Jahr 1887 das in London uraufgeführte Oratorium The Crucifixion („A Meditation on the Sacred Passion of the Holy Redeemer“).

Diese aus 20 Sätzen bestehende, etwas über eine Stunde dauernde „Meditation“ ist durchaus angelehnt an die Tradition lutherischer Passionsmusiken, der Geistliche W. J. Sparrow-Simpson (1859-1952) verfasste das Libretto.
Das Werk besteht aus einer Mischung aus erzählenden Teilen (unter Verwendung von Bibelversen aller 4 Evangelisten wird die Passionsgeschichte von Gethsemane bis zum Kreuzestod aufgerollt, dem Werktitel entsprechend liegt der Schwerpunkt aber eindeutig auf der eigentlichen Kreuzigungsszene, während die Szenen mit Pilatus und die Leiden Christi nur kurz abgehandelt werden), einigen wenigen betrachtenden Solo- und Chornummern und mehreren „Hymns“, also in bester anglikanischer Kirchenmusiktradition stehenden mehrstrophigen Chorliedern.

Letztere können als Stainers ganz besondere Spezialität bezeichnet werden – er hat zeitlebens eine ganze Reihe solcher Hymns komponiert und hatte ein quasi naturgegebenes Talent, hier fast durchgängig den richtigen, eingängig-liedhaften Tonfall zu treffen, der einen guten Choral ausmacht. So ließ er es sich natürlich nicht nehmen, sämtliche Choräle für The Crucifixion neu zu komponieren, von denen einige auch prompt zu Klassikern der anglikanischen Kirchenmusik avancierten und Eingang in die Gesangbücher fanden!

The Crucifixion wurde bewusst für eine möglichst einfache Realisierung komponiert, die es auch Laienensembles in der Provinz ermöglichen sollte, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln eine schöne und gehaltvolle Passionsmusik aufführen zu können. Die Besetzung mit nur je einem Tenor- und Bass-Solisten, gemischtem Chor und der Orgel als einzigem Begleitinstrument kommt dieser gewünschten einfachen Realisierbarkeit natürlich sehr entgegen.

Auch in England mit seiner großen Oratorientradition hatte zu dieser Zeit die Auseinandersetzung mit Bachs Passionen begonnen (vor allem unter Sir Joseph Barnby [1838-96] in London in den 1870er Jahren) und man kann Stainers durch und durch anglikanische „Volkspassion“ als dessen persönliche Antwort auf diese kunst- und anspruchsvollen Barockkompositionen sehen, wobei der von ihm gewählte musikalische Tonfall auch durch Mendelssohn geprägt ist, der ja auch ein großer Bach-Verehrer war und dessen Musik (und hier nicht zuletzt seine Oratorien Paulus und Elias) in England ja ausgesprochen populär war und nach wie vor ist.

Die Bezeichnung als „Meditation“ ist dabei von großer Bedeutung: Stainer vermeidet die dramatischen Aspekte der Passionsgeschichte weitgehend und transportiert hauptsächlich eine ruhig-betrachtende Atmosphäre.
Es gibt auch hier wie bei Loewe keine feste Rollenverteilung in den erzählenden Teilen; so werden zum Beispiel einige der Christusworte auch vom Chor übernommen.
Das Werk war – trotz einiger harter Kritikerurteile – ausgesprochen beliebt und fand die vom Komponisten erhoffte und beabsichtigte weite Verbreitung.
Einer der beliebtesten Chorsätze des Werks (ich persönlich finde ihn auch am schönsten) war und ist der a-cappella-Satz „God so loved the world“ - die Vertonung von „Also hat Gott die Welt geliebt“ aus dem Johannesevangelium – ein sehr eindringlicher Gesang, perfekt gesetzt, an Mendelssohn gemahnend und definitiv ein Höhepunkt der ganzen Komposition!

Aufgrund der Popularität dieses Werks in England gibt es von The Crucifixion ein paar mehr Einspielungen als von den bisher vorgestellten Passionsmusiken.
Ich habe mir die 2005 erschienene Aufnahme bei NAXOS zu Gemüte geführt (die Aufnahme entstand im Juni 2004):
James Gilchrist (Tenor)
Simon Bailey (Bass)
Choir of Clare College, Cambridge
Stephen Farr (Orgel)
Leitung: Timothy Brown


Eine, wie ich finde, rundum gelungene Aufnahme - gerade wegen der für diese Komposition so charakteristischen „anglikanischen Klangwelt“ ist man hier mit einem britischen Chor, der in diesem Metier zuhause ist, wohl am besten aufgehoben. Solisten, Orgel und das gesamte Klangbild sind ebenfalls nicht zu beanstanden.

Zu guter Letzt nun noch eine Komposition aus dem Jahr 1920:
Die St Mark Passion („The Passion of our Lord according to St Mark“) des Iren Charles Wood (1866-1926), der den größten Teil seines Lebens lehrend wie musizierend in Cambridge zugebracht hat.

Auch Wood leistete einen großen Beitrag für die anglikanische Kirchenmusik – die St Mark Passion stellt nur einen kleinen Teil dessen dar, was Wood über die Jahre an geistlicher Musik komponierte.
Die ca. einstündige Passion entstand 1920 und wurde am Karfreitag 1921 in Cambridge uraufgeführt.

Diese Komposition entstand, weil man zum einen die in England mittlerweile ebenfalls recht bekannt gewordenen Bach-Passionen als zu gewaltig und umfangreich für einen normalen Laienchor empfand (ich gehe mal davon aus, dass man die Bachwerke dort im Gegensatz zu heute auf Englisch sang - singbare englische Übersetzungen der Passionen wie des Weihnachtsoratoriums habe ich jedenfalls schon mal gesehen) und zum anderen einen Ersatz - oder zumindest eine Alternative - für die nach wie vor sehr weitverbreitete und beliebte (aber eben auch nicht unumstrittene) Crucifixion von John Stainer haben wollte.

Die St Mark Passion gliedert sich in 5 Evangeliumsteile, in denen die Passionsgeschichte erzählt wird, die von insgesamt 6 „Hymns“ gerahmt werden – zumindest zur Zeit der Entstehung der Komposition handelt es sich hierbei um bekannte englische Kirchenlieder (somit findet sich auch hier wieder dieses bekannte, so ja auch von Bach verwendete Choral-Element).

Es ist hervorzuheben, dass in dieser Passionsmusik tatsächlich konsequent der Evangeliumstext nach Markus vorgetragen wird (allerdings unter Auslassung einiger Verse im Verlauf des Passionsberichts, der hier vom Abendmahl bis zum Kreuzestod reicht, die Grablegung also wiederum auslässt) – die meisten anderen Werke (auch die in diesem Beitrag vorgestellten) bedienten sich ja aus allen 4 Evangelien bzw. verwendeten neu getextete Passionserzählungen. Für eine englischsprachige Passionsmusik stellt diese Tatsache offenbar eine Besonderheit dar – ich habe allerdings nicht herausfinden können, ob die St Mark Passion die erste (oder bislang sogar einzige?) englischsprachige Passionsmusik ist, die sich konsequent an den Text nur eines der 4 Evangelisten hält.

Der Tenor übernimmt in der St Mark Passion zwar mitunter traditionell die Rolle des Evangelisten, die Rollenverteilung ist aber nicht ganz so streng, denn der Chor löst den Tenor häufig ab und übernimmt dann selber die Erzählung der Passionsgeschichte. Hierbei herrscht dann dieser für anglikanische Chormusik so typische, meist einstimmige (wohlgemerkt aber nicht eintönige) Deklamationsstil vor, den man zum Beispiel auch in Psalmvertonungen vorfindet.

Während der gesamten St Mark Passion wechseln sich a-cappella-Abschnitte mit orgelbegleiteten Teilen ab.

Die von Charles Wood vorgesehene Besetzung mit 4 Solostimmen, Chor und Orgel ist ebenfalls eine sehr praxisbezogene und ermöglicht so – wie Stainers Crucifixion - Aufführungen mit den in fast jeder Kirche gegebenen Möglichkeiten.

Woods Affinität zur Tradition der anglikanischen Kirchenmusik ist zwar unüberhörbar, er lässt in seine Komposition aber durchaus auch „modernere“ Harmonien aus der Zeit der Spätromantik mit einfließen und auch klassischer Kontrapunkt in bester Bach-Tradition findet Verwendung.

Ich habe mich mit zwei Aufnahmen dieses Werks beschäftigt:

Die 1993 als „Weltersteinspielung“ betitelte Aufnahme des Labels ASV
William Kendall (Evangelist; Tenor)
Peter Harvey (Christus; Bariton)
Paul Robinson (Judas, Petrus, etc.; Bass)
Kwamé Ryan (Pilatus, Bass)
The Choir of Gonville & Caius College, Cambridge
Richard Hill (Orgel)
Leitung: Geoffrey Webber


Außerdem die im Jahr 2008 entstandene und bei NAXOS erschienene Aufnahme mit folgenden Interpreten:
Simon Wall (Evangelist; Tenor)
James Birchall (Christus; Bariton)
Edward Grint (Judas, Pilatus, etc.; Bass)
Ruth Jenkins (Sopran)
The Choir of Jesus College, Cambridge
Jonathan Vaughn (Orgel)
Leitung: Daniel Hyde


Zunächst muss ich sagen, dass ich es lobenswert und auch traditionsbewusst finde, dass sich Ensembles aus Woods langjähriger Wirkungsstätte Cambridge offenbar nach wie vor mit der Pflege von dessen musikalischem Erbe beschäftigen – aber wo, wenn nicht in Cambridge, legt man noch Wert auf Traditionspflege? *grins*

Die neuere Aufnahme mit dem Chor des Jesus College gefällt mir im Vergleich dann aber doch besser – der Klang ist hier einfach präsenter und Simon Wall als Evangelist überzeugt mich allein schon von seiner Stimmfarbe her etwas mehr. Aber auch die ältere Aufnahme, die immerhin den Rang einer „Weltersteinspielung“ für sich verbuchen kann, kann sich durchaus hören lassen.

Fazit:
Ich war überrascht, dass alle der hier vorgestellten Passionsmusiken als gemeinsame Parallelen eine mehr oder weniger deutliche künstlerische Auseinandersetzung mit den Bach-Passionen aufweisen – offenbar kam man bereits im 19. Jahrhundert, als die Bach-Renaissance ja noch ganz in den Anfängen steckte, nicht um diese beiden „Passions-Titanen“ herum und hatte sich entweder bei der Konzeption an ihnen zu orientieren (was sich dann meistens in Form einer Art Bach-Hommage niederschlug) oder sich bewusst von ihnen abzugrenzen.
Außerdem fand ich die mehrfach auftauchende Aufgabenstellung, aufführungstechnisch möglichst einfach zu realisierende Passionsmusiken zu komponieren, sehr interessant. Die gefundenen Lösungsansätze überzeugen durchaus – „einfach“ muss eben nicht immer direkt „belanglos“ bedeuten!
Von den vier hier vorgestellten Werken gefiel mir spontan Woods St Mark Passion am besten, allerdings dicht gefolgt von Herzogenbergs und auch Carl Loewes Passionen. Stainers Crucifixion mit ihrem eher betrachtend-meditativen Ansatz fand ich zwar auch nicht schlecht, aber ein bisschen Dramatik gehört für mich zu einer Passionsvertonung eben auch dazu, da das Ganze sonst leicht etwas eintönig zu werden droht!

Ich wünsche einen besinnlichen Karfreitag und schöne Osterfeiertage!

1 Kommentar:

  1. Danke für diesen wertvollen Überblick - Herzogenbergs Passion steht bei mir schon länger ganz oben. Insbesondere die enthaltenen Choralbearbeitungen sind einzigartig!

    AntwortenLöschen