Heute vor genau 100 Jahren verstarb mit Jules Massenet der wohl erfolgreichste und produktivste französische Opernkomponist des späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts.
Massenet, geboren am 12.05.1842, war am Pariser Konservatorium unter anderem Schüler der berühmten Opernkomponisten Ambroise Thomas (1811-96) und Charles Gounod (1818-93), deren inoffizielle Nachfolge er dann als führender französischer Opernkomponist seiner Zeit antrat.
Wie bei vielen berühmten französischen Komponisten (darunter auch seine Lehrer Gounod und Thomas) bildete auch für Massenet der Gewinn des Prix de Rome (im Jahr 1863) den Grundstock für seine spätere Karriere. Das mit dem Gewinn dieses renommierten Preises verbundene Stipendium, das einen dreijährigen Aufenthalt in der Villa Medici in Rom beinhaltete, nutzte er, um seinen künstlerischen Horizont zu erweitern und auch italienische Einflüsse in seine Musik zu integrieren.
Erwähnenswert finde ich die Tatsache, dass Massenet seine ersten Erfahrungen im Theatermetier als Schlagzeuger (Pauker) im Orchester des Pariser Théâtre-Lyrique sammelte. Meist hört man von Komponisten, die irgendein Streichinstrument in größeren oder kleineren Ensembles gespielt haben, ein Schlagzeuger wie Massenet ist mir jedenfalls noch nie begegnet! Darüber hinaus spielte er aber zu Beginn seiner Karriere auch noch Klavier in Kaffeehäusern, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Neben mehreren anderen Funktionen und Mitgliedschaften in einflussreichen französischen Künstler- und Musikergesellschaften war er von 1878 bis 1893 als Professor für Komposition am Pariser Konservatorium tätig und somit auch einflussreicher Lehrer einer ganzen Generation nachfolgender Musiker und Komponisten.
Neben einigen Orchesterwerken, darunter auch ein Klavierkonzert, sowie zahlreichen Liedern (Gesangsstimme mit Klavierbegleitung) und Oratorien (u. a. Marie-Magdeleine [1873], Ève [1875], La vierge [1880]), die heute jedoch leider allesamt eher selten aufgeführt werden, ist Massenet bis heute vor allem durch seine zahlreichen Opernkompositionen im Gedächtnis geblieben.
Auch wenn viele davon heute leider nicht mehr (oder lediglich sehr selten) aufgeführt werden, gehören zumindest seine 1884 entstandene Oper Manon und sein 1892 uraufgeführter Werther bis heute zum Standardrepertoire der Opernhäuser weltweit (auch wenn sie nicht so häufig auf den Spielplänen stehen wie Opern von Mozart, Verdi oder Puccini).
Während sich über viele Jahre hinweg hierbei die Manon an der Spitze der Beliebtheit seiner Opern hielt, habe ich persönlich den Eindruck, dass der Werther ihr mittlerweile den Rang abgelaufen hat – gerade auch hier in Deutschland, wo man ja lange die Nase rümpfte über das Sakrileg, dass ausgerechnet die Franzosen es wagten, immer wieder neue Veroperungen von Stoffen des deutschen Dichterfürsten Johann Wolfgang Goethe auf die Bühne zu bringen, was man als respektlos und in der Regel den literarischen Vorlagen gegenüber als unangemessen betrachtete (ich verweise unter anderm auf Gounods Faust von 1859 oder Thomas‘ Mignon von 1866)!
Aber in der heutigen Zeit (wo sowieso niemand mehr Goethe freiwillig selber liest *hüstel*) ist man am Ende vielleicht sogar ganz dankbar, den berühmten Werther-Stoff nun – versehen mit einfühlsamer Musik – auf der Opernbühne erleben zu können und ein prominenter Werktitel wie dieser zieht natürlich fast schon automatisch Aufmerksamkeit auf sich!
Bei der Wahl seiner Opernsujets folgt Massenet durchaus einem Trend seiner Zeit: Zum einen gibt es viele Stoffe, die an exotischen Orten spielen (bevorzugt an orientalischen Schauplätzen), es werden aber auch bevorzugt große Werke der Weltliteratur „veropert“
sowie Märchen- und Sagenstoffe aufgegriffen, so zum Beispiel die Aschenputtel-Oper Cendrillon (uraufgeführt 1899).
Massenets Opernstil greift den der gefühlsbetonten Opéra lyrique (auch die Bezeichnung Drame lyrique findet man häufiger) seines Lehrers Gounod auf – das Hauptinteresse dieser Opernstilrichtung gilt hier der ausführlichen Schilderung der verschiedenen Gefühlszustände der Hauptfiguren, während „dramatische Knalleffekte“ oder pompöse Massenszenen, wie sie noch in der älteren Grand opéra um die Mitte des 19. Jahrhunderts üblich waren, eher in den Hintergrund treten.
Dabei integrierte Massenet durchaus auch Einflüsse aus der italienischen Oper seiner Zeit und auch von der damals ja extrem einflussreichen Opernästhetik Richard Wagners (1813-83) ließ er sich zu seinem ganz eigenen, eleganten Stil inspirieren, der krasse und grelle Effekte vermeidet, wie sie der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vor allem in Italien aufkommende Verismus mit seinen möglichst realistischen Milieuschilderungen propagiert – ein Metier, das bei Massenet in dieser Form gar nicht vorkommt.
In diesem Zusammenhang ist ein Vergleich mit seinem italienischen Zeitgenossen Giacomo Puccini (1858-1924) interessant und aufschlussreich.
Gerade wenn man Massenets Oper Manon mit Puccinis nur acht Jahre später entstandener (und am 01.02.1893 in Turin uraufgeführten) Manon Lescaut vergleicht – beide Oper basieren auf dem 1731 veröffentlichten gleichnamigen Roman des Abbé Prévost (1697-1763) – fällt einem sehr deutlich die ganz unterschiedliche Herangehensweise beider Komponisten an die Vertonung dieses Stoffes auf: Bei Massenet ist es die psychologisch feinfühlige Charakterschilderung der beiden Hauptfiguren Manon und Des Grieux, bei Puccini das mit dramatischen Wendungen gespickte, leidenschaftliche Liebesdrama dieses ungleichen Paares.
Von Puccini habe ich ein etwas despektierliches Zitat über Massenets Umsetzung des Manon-Stoffs gefunden, in dem der grundverschiedene ästhetische Ansatz beider Komponisten deutlich wird:
"Massenet empfindet als Franzose, mit Puder und Menuetten. Ich als Italiener spüre die rasende Leidenschaft darin.“
Vielleicht liegt es daran, dass Puccini mit seiner Nähe zum damals sehr modernen Verismus und seiner italienisch-südländischen Neigung zu Dramatik und Liebensleidenschaft bis heute eindeutig der erfolgreichere und mit Abstand häufiger gespielte Komponist geblieben ist (und das bezieht sich ja nicht nur auf den Manon Lescaut-Stoff!) – die psychologisch raffinierte, aber eben auch lyrischere und elegantere Musik Massenets kam eben nicht immer beim Publikum in diesem Maße an.
Von der (Opern-)Musik Massenets ist es dann auch nur noch ein vergleichsweise kleiner Schritt zu den psychologisch oft ebenfalls sehr ausgeklügelten Opern des frühen 20. Jahrhunderts, wie zum Beispiel Pelléas et Mélisande (Uraufführung im Jahr 1902) von Claude Debussy (1862-1918), in der auch fast vollständig auf eine äußere Handlung zu Gunsten der musikalischen Schilderung der Seelenzustände der auftretenden Figuren verzichtet wird.
Genau dieser aus heutiger Sicht (im Gegensatz zur Entstehungszeit) vielleicht viel interessanter erscheinende psychologische Aspekt dieser Opernmusik hat so ca. seit den 1970er Jahren allmählich zu einer spürbaren Renaissance der Musik dieser Epoche geführt, von der auch Massenets Opern profitieren.
So ist zum Beispiel Massenets 1910 in Monte Carlo uraufgeführter (und über Jahrzehnte fast vollständig in der Versenkung verschwundener) Don Quichotte in den letzten Jahren häufiger auf den Opernbühnen anzutreffen (vor ca. 6 Jahren habe ich diese wirklich schöne Oper auch mal bei uns in Köln erleben können!), oder auch die 1894 uraufgeführte Thaïs hat seit den 1990er Jahren einen neuen Popularitätsschub erlebt, nicht zuletzt dank der prominenten und viel bejubelten Besetzung mit Renée Fleming und Thomas Hampson in den Hauptrollen.
Aus Thaïs stammt dann übrigens auch die bis heute wohl berühmteste und beliebteste Komposition Massenets, die in dieser Oper als instrumentales Zwischenspiel fungierende Méditation für Violine und Orchester, die auf so gut wie keinem „Best of Klassik“-Album oder den unzähligen „Die schönsten Melodien für romantische Stunden zu zweit“-Kompilationen fehlen darf! Kein(e) namhafte(r) Geiger(in), der dieses auch gerne als Zugabe gespielte Stück nicht im Repertoire hätte!
Die wohl bekannteste Arie Massenets (um mal bei den Gesangsstücken zu bleiben) dürfte wohl das vom Tenor-Titelhelden vorgetragene, leidenschaftliche „Pourquoi me réveiller“ aus dem Werther sein.
Erfreulicherweise ist die Diskographie vor allem von Massenets Opern recht reichhaltig – hier finden sich auch selten gespielte Werke in durchaus prominenten Besetzungen auf dem Markt!
Eine Entdeckungstour durch diesen poetischen Opernkosmos lohnt auf jeden Fall!
Anders als bei zahlreichen Gedenktagen anderer Komponisten sind in diesem Jahr tatsächlich entweder Wiederveröffentlichungen länger vergriffener Aufnahmen erschienen, aber auch ausgesprochen interessante Neueinspielungen wie zum Beispiel eine Auswahl aus den zahlreichen Klavierliedern Massenets!
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Zu dem Thema dieser Oper ist endlich ein Roman veröffentlicht worden: Die Manon Leseaut von Turdej. Der russische Schriftsteller Wsewolod Petrow hat die auf der Oper basierende Novelle vor Jahrzehnten geschrieben, doch wurde sie erst jetzt der Öffentlichkeit vorgestellt.
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