Donnerstag, 8. Dezember 2011

Weihnachtsoratorium - es muss nicht immer Bach sein

Wenn es um das Thema "Weihnachtsoratorium" geht, kommt natürlich erstmal Johann Sebastian Bachs Meisterwerk aus dem Jahr 1734 - und dann lange Zeit gar nichts.
Das ist eigentlich schade, denn es verstellt den Blick auf einige andere weihnachtliche Oratorienkompositionen, von denen der Großteil aus der Barockzeit stammt, einige jedoch auch aus dem 19. und 20. Jahrhundert, was ich schon deshalb besonders interessant finde, weil viele barocke Weihnachtsoratorien sich von der Grundkonzeption recht ähnlich sind (was sie natürlich nicht schlechter macht) und daher die im Zeitalter der Romantik oder der Moderne entstandenen Kompositionen eine nette Abwechslung bieten, da sie oft ganz anders konzipiert sind und natürlich mit einem komplett anderen Klangbild aufwarten.

Die nach dem bachschen Weihnachtsoratorium wohl bekannteste Komposition mit ebendiesem Titel dürfte wohl das Oratorio de Noël op. 12 des Franzosen Camille Saint-Saëns (1835-1921) sein - und diese wunderschöne Weihnachtsmusik kennt hierzulande im Vergleich zu Bach leider kaum jemand.

Camille Saint-Saëns, der mit 86 Jahren im Vergleich zu vielen früh verstorbenen Komponisten ein geradezu biblisches Alter erreichte, überlebte seinen eigenen Ruhm (seine wichtigste Wirkungszeit dürfte zwischen 1860 und 1900 liegen) und galt im Alter für viele Zeitgenossen als Konservativer, den Traditionen der Klassik und des 19. Jahrhunderts verhafteter Musiker.

Saint-Saëns selber dürfte dies kaum als Makel angesehen haben - er hat in seinem umfangreichen Oeuvre so ziemlich alle traditionellen Gattungen gepflegt (Sinfonien, Konzerte, Oper, Oratorium, Klavier-, Orgel- und Kammermusik) und hierbei durchaus neue Ideen und Strömungen mit einfließen lassen. Als großer Neuerer oder gar Revolutionär hätte er sich selber wohl nie bezeichnet, er nutzte die althergebrachten Formen und füllte sie mit seinen ganz eigenen Ideen. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man Saint-Saëns in mancherlei Hinsicht (z. B. in Bezug auf musikästhetische Ansichten) mit seinem deutschen Zeitgenossen Carl Reinecke (1824-1910) vergleichen könne - da ist durchaus was dran.
Jedenfalls lohnt sich eine Beschäftigung mit Saint-Saëns' zahlreichen Kompositionen - die man leider viel zu selten auf Konzertprogrammen vorfindet.
Mir persönlich haben es vor allem seine Klavier-, Violin- und Cellokonzerte sowie die Sinfonien angetan! Natürlich ist sein Karneval der Tiere aus dem Jahr 1886 ein kleines Meisterwerk des musikalischen Humors (und zeigt, wie souverän Saint-Saëns die Kompositionskunst beherrschte), aber es ist schon etwas ungerecht, dass sein vielgestaltiges Gesamtwerk für viele heutzutage nur noch auf dieses eine Stück reduziert wird!

Das 1858 entstandene Oratorio de Noël op. 12 ist eine Komposition des gerade einmal 23-jährigen Saint-Saëns. Der junge Musiker war damals als Organist an der berühmten Pariser Kirche La Madeleine angestellt und hier erlebte dieses Werk dann auch seine Uraufführung.

Im Vergleich zu Bachs Weihnachtsoratorium ist das Oratorio de Noël deutlich kürzer: Es umfasst 10 Einzelsätze und hat eine Aufführungsdauer von knapp 40 Minuten.
Saint-Saëns schreibt fünf Solisten (Sopran, Mezzosopran, Alt, Tenor und Bariton), einen gemischten Chor, Harfe, Orgel sowie ein Streichorchester vor - also eine insgesamt eher intime Besetzung, zumindest im Vergleich zu manch anderem Chorwerk, das im selben Zeitraum entstanden ist.

Schon der erste Satz des Oratorio de Noël, das Prélude, ist etwas Besonderes:
Eine instrumentale Pastorale (im charakteristischen 12/8el-Takt) für Orgel und Streicher, vom Komponisten mit dem Hinweis "Prélude dans le style de Séb. Bach" quasi als Hommage vor allem des Organisten Saint-Saëns an den großen Thomaskantor gedacht. Mitte des 19. Jahrhunderts war es nicht unbedingt selbstverständlich, im Stile eines Barock-Komponisten zu komponieren (zumal, wenn es sich wie hier nicht um eine Fuge handelte!); gerade Bachs Musik wurde damals erst schrittweise wiederentdeckt, große Teile auch erstmalig im Druck veröffentlicht und in der Folge fand sie dann zunehmend mehr Bewunderer.

Für uns Heutige, die wir wahrscheinlich mehr Barockmusik gehört haben, als es Saint-Saëns in seinem langen Leben jemals möglich war, klingt dieses Prélude nicht wirklich besonders nach Bach oder Barock, aber in der damaligen Zeit muss die Wirkung dieses Satzes eine ganz andere gewesen sein.

Jedenfalls liegt die Parallele dieser Pastoralmusik und der berühmten Sinfonia, die die zweite Kantate des Weihnachtsoratoriums von Bach einleitet, trotz aller kompositorischer Unterschiede auf der Hand und sie erklärt sich auch dadurch, dass Saint-Saëns Subskribent der damals ganz neu erscheinenden Bach-Gesamtausgabe war und im Jahr 1856 das Weihnachtsoratorium im Rahmen dieser Ausgabe erschienen war.

Als Komponist geistlicher Musik für die katholische Kirche verwendet Saint-Saëns einen lateinischen Text für sein Oratorium und die einzige Stelle, in der in diesem Werk direkt auf die Weihnachtsgeschichte Bezug genommen wird, folgt unmittelbar nach dem Prélude, wenn aus dem 2. Kapitel des Lukasevangeliums die Verse 8 bis 14 zititert werden, in denen es um die Hirten auf dem Felde geht, denen der Engel des Herrn mit seiner Botschaft erscheint, gefolgt von den himmlischen Heerscharen mit ihrem Gotteslob. Genau diese Textstelle folgt im Übrigen auch bei Bach im Anschluss an seine Sinfonia in der zweiten Kantate des Weihnachtsoratoriums.

Diese Textstelle wird bei Saint-Saëns mit verteilten Rollen von den Solisten und später dem Chor vorgetragen. Die übrigen Texte, die in diesem Werk noch verwendet werden, stammen hauptsächlich aus verschiedenen Psalmen und gehören traditionell zur Liturgie der Weihnachtszeit.

Die übrigen acht Sätze dieses kleinen Oratoriums gestaltet der Komponist sehr abwechslungsreich - gerade auch in Bezug auf die jeweilige solistische wie instrumentale Besetzung. Vor allem die mehrfach prominent eingesetzte Harfe trägt in großem Maße zur weitgehend poetisch-idyllischen Stimmung bei und schafft eine ausgesprochen elegante Klangfarbe, die für diese Epoche (wir befinden uns schließlich mitten in der Romantik) ganz typisch ist.

Besonders schön finde ich den fünften Satz, ein Benedictus als Duett zwischen Sopran und Bariton, ganz kammermusikalisch begleitet lediglich von Harfe und Orgel - fantastisch! Ein Stück, an dem ich mich einfach nicht satt hören kann!

Der einzige Satz, in dem (zunächst) eine nicht ganz so lyrische Stimmung aufkommt, ist der sechste, wo zu den Worten aus dem 2. Psalm ("Warum toben die Heiden") eine etwas unruhigere, zumindest ansatzweise dramatischere Atmosphäre entsteht, die sich aber recht schnell wieder legt, wenn der Chor - dann wieder ganz "entspannt" die traditionell am Ende von Psalmgebeten gesungene Kleine Doxologie anstimmt ("Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen").

Auch wieder eine Referenz an Bach ist (nachdem zu Beginn des vorletzten Satzes das Thema des Prélude nochmals aufgenommen wurde und Saint-Saëns danach die Spannung kontinuierlich steigert) der befreiend jubelnde Schlusschor des Oratorio de Noël: Saint-Saëns komponiert hier einen kurzen und kompakt gesetzten Chorsatz ("Tollite hostias"), der einen irgendwie an den typischen Schlusschoral einer Bachkantate erinnert.

Es gibt nicht allzu viele Aufnahmen von Saint-Saëns' Oratorio de Noël - zwei davon möchte ich hier kurz vorstellen:


Ute Selbig (Sopran)
Elisabeth Wilke (Mezzosopran)
Annette Markert (Alt)
Armin Ude (Tenor)
Egbert Junghanns (Bariton)
Michael-Christfried Winkler (Orgel)
Jutta Zoff (Harfe)
Dresdner Kreuzchor
Dresdner Philharmonie
Leitung: Martin Flämig

Aufnahme von 1987 (Lukaskirche Dresden)


Antonia Bourvé (Sopran)
Gundula Schneider (Mezzosopran)
Sabine Czinczel (Alt)
Marcus Ullmann (Tenor)
Jens Hamann (Bariton)
Romano Giefer (Orgel)
Claudia Karsch (Harfe)
Vocalensemble Rastatt
Les Favorites
Leitung: Holger Speck

Aufnahme von 2006 (Evang. Stadtkirche Rastatt)

Beide Aufnahmen finde ich gelungen, jede hat ihre kleinen Vorzüge - so wird z. B. der etwas dramatischere 6. Satz in der Einspielung unter Holger Speck deutlich zupackender musiziert als in der an dieser Stelle leider etwas zu sehr gebremsten älteren Dresdner Aufnahme, was natürlich einen umso wirkungsvolleren Kontrast zu den übrigen, besinnlicheren Sätzen bildet.
Dafür "lahmt" die Rastatter Aufnahme im Schlusschor etwas - da finde ich die kräftig-strikte Interpretation der Flämig-Einspielung passender, zumal sie mich so deutlich mehr an den vom Komponisten hier wohl beabsichtigten Schlusschoral-Charakter à la Bach erinnert.

Und für das wunderbare Benedictus (5. Satz) hätte man in der Rastatter Aufnahme ein etwas langsameres Tempo wählen können - meinem Empfinden nach entfaltet dieser Satz seine Wirkung dann noch etwas besser.

Insgesamt sagen mir stimmlich die fünf Solisten der älteren Dresdner Aufnahme etwas mehr zu, aber wie gesagt - beide Einspielungen haben ihre Meriten und ergänzen sich gut, da unter anderem auch der Klang der Orgel in beiden Fällen ziemlich unterschiedlich ausfällt und man so einen interessanten Vergleich darüber anstellen kann, welchen Einfluss zwei ganz verschiedene Orgeln auf den Gesamtklang des musizierenden Ensembles in diesem Oratorium haben können.

Zu dem rund 40-minütigen Oratorio de Noël kommen auf beiden CDs ergänzende Musikstücke hinzu, die wiederum beide ihre Vorzüge haben:
Aus Sicht desjenigen, der sich für weitere Werke des doch eher unbekannten Komponisten Camille Saint-Saëns interessiert, bietet die Aufnahme mit dem Vocalensemble Rastatt hier noch eine Ergänzung, in dem dieser Einspielung noch sechs weitere kleine geistliche Kompositionen dieses französischen Komponisten hinzugefügt wurden - ein Orgelstück ("Bénédiction nuptiale" op. 9) sowie fünf Stücke für Solostimmen bzw. Chor mit Orgelbegleitung auf lateinische Texte der katholischen Liturgie.

Eine aus weihnachtsmusikalischer Sicht mindestens genauso gelungene Lösung bietet die Aufnahme mit dem Dresdner Kreuzchor - hier gibt es als zweites Stück die (ebenfalls nicht so häufig zu hörende) Choralkantate "Vom Himmel hoch", die Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-47) im Jahr 1831 komponierte. Diese sechssätzige, gut fünfzehnminütige Kantate über das bekannte Weihnachtslied von Martin Luther (für Sopran- und Baritonsolo, Chor und Orchester) ist ebenfalls als eine Art Hommage an Johann Sebastian Bach zu verstehen, der seinerseits im Rahmen seiner Kantorentätigkeit häufig Kantaten vom Typus der Choralkantate komponierte.
So gesehen gefällt mir gerade in der Weihnachtszeit die letztgenannte Kombination dann doch besser, weil man so gleich zwei wirklich schöne, nicht allzu geläufige Weihnachtsmusiken aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zusammen auf einer CD bekommt.

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