Donnerstag, 20. Oktober 2011

W. A. Mozarts "La clemenza di Tito" - Gedanken und CD-Kritiken

La clemenza di Tito kennt man heute eigentlich nur noch aufgrund der Tatsache, dass auch Wolfgang Amadé Mozart diesen Opernstoff in seinem Todesjahr 1791 vertont hat.

Im 18. Jahrhundert sah das allerdings noch ganz anders aus - damals gehörte La clemenza di Tito zu den beliebtesten und am häufigsten vertonten Opernlibretti überhaupt.

Den Autor, Pietro Metastasio (1698-1782), kann man durchaus als "Librettisten-Legende" betiteln - sein Einfluss auf die italienische Opera seria, die große, ernste Oper des 18. Jahrhunderts, kann nicht groß genug eingeschätzt werden.
In einem Zeitraum von ungefähr 50 Jahren (ca. 1725 bis 1765) waren die von ihm geschriebenen Libretti quasi das Maß aller Dinge und wurden entsprechend oft vertont. Und andere Librettisten, die sich auch im Bereich der Opera seria betätigen wollten, nahmen seine raffiniert gestalteten und elegant gedichteten Stücke als Vorbilder und verfassten ihre Texte im selben Stil.

Vor allem Metastasios Operntexte, die er in den 1720er und 1730er Jahren gedichtet hatte, tauchen im restlichen 18. Jahrhundert in immer wieder neuen Vertonungen auf den Spielplänen der europäischen Opernhäuser auf (außer in Frankreich), man stößt hier häufig auf Titel wie "Didone abbandonata", "Alessandro nell'Indie", "Ezio", "Semiramide", "Artaserse" oder eben auch auf die "Clemenza di Tito", die unter anderem von Antonio Caldara (1734), Leonardo Leo sowie Johann Adolf Hasse (1735), Christoph Willibald Gluck (1752) und Niccolò Jommelli (1753) vertont wurde.
Ein großer Vorteil dieser Libretti war die Tatsache, dass die meist recht allgemein gehaltenen Arien-Texte fast beliebig austauschbar waren und man so jeweils vor Ort Arien streichen bzw. gegen andere Kompositionen aus völlig anderen Opern austauschen konnte, wenn z. B. ein berühmter Solist als Gaststar auftrat und ein persönliches Paradestück mitbrachte, das im Rahmen der gerade anstehenden Opernaufführung dargeboten werden sollte.

Aus heutiger Sicht erscheint diese Beliebigkeit bzw. auch die Tatsache, dass viele Operntexte -zigfach vertont wurden, ohne dass dies irgendjemanden störte, sehr gewöhnungsbedürftig - aber Opern im 18. Jahrhundert waren in der Regel keine als solitäre Kunstwerke geschaffenen Kompositionen, die quasi singulär und für die Ewigkeit kreiert wurden, sondern für konkrete Anlässe repräsentativer oder unterhaltender Art produzierte Gebrauchsmusik, die normalerweise zu keiner späteren Gelegenheit wiederholt wurde und wenn, dann höchstens in modifizierter und an die neuen aufführungstechnischen Gegebenheiten vor Ort angepasster Form.
Diese Einstellung Opern als eigenständigen Kunstwerken gegenüber änderte sich wirklich grundlegend erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts - dann mussten sich die Ausführenden an eine schon bestehende Partitur anpassen, nicht umgekehrt.

Als Komponist, der von frühester Jugend an auch mit Opernmusik befasst war, hatte natürlich auch Mozart bereits reichlich Erfahrungen mit Metastasio-Texten machen können, bzw. müssen. An seinen Texten kam man - wie erwähnt - in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts einfach nicht vorbei, auch wenn die Machart seiner Libretti spätestens nach Glucks sehr einflussreichen "Reformopern" ab 1762 doch zunehmend als nicht mehr ganz zeitgemäß betrachtet wurde.
Die Tatsache, dass z. B. der Chor nahezu keine Rolle in den Metastasio-Opern spielte und die Solo-Arie fast ausnahmslos die einzige musikalische Gesangsdarbietung darstellte, wurde immer mehr als Manko empfunden, zumal zeitgleich der Siegeszug der italienischen Opera buffa mit ihren lebensnäheren Figuren und den zahlreichen Ensemblenummern eingesetzt hatte und die Publikumsgunst quasi im Sturm eroberte.

Schon Mozarts allererste Konzertarien sind auf Operntexte Metastasios komponiert worden und in den Folgejahren vertonte er mit Il sogno di Scipione (KV 126), Betulia liberata (KV 118) und Il rè pastore (KV 208) dann auch noch drei abendfüllende Libretti des berühmten kaiserlichen Hofdichters.
Und auch seine in Italien uraufgeführten Opern Mitridate (KV 87) und Lucio Silla (KV 135) sind von zwei anderen Poeten - natürlich! - "à la Metastasio" konzipiert und verfasst worden.

Mit dem Idomeneo (KV 366), der im Jahre 1781 in München uraufgeführt wurde, legte Mozart seine bis dahin ambitionierteste Opera seria vor - in ihr versuchte er alles das umzusetzen, was für ihn unverzichtbarer Bestandteil einer großen, ernsten Oper war: Ensembleszenen, Chöre, Tanzeinlagen und durchkomponierte, oft mehrere Szenen zu größeren Komplexen zusammenfassende Musik.
Hier erkennt man die Einflüsse Glucks, der französischen Oper und der Opera buffa, die im Idomeneo allesamt von Mozart zu einer meiner Meinung nach sehr gelungenen Mischung vereinigt wurden und als Ergebnis ein Werk ergeben, das wohl seiner Auffassung von einer zeitgemäßen Opera seria entsprochen haben dürfte (Mozart hielt große Stücke auf seinen Idomeneo).
In diesem Zusammenhang ist es interessant zu verfolgen, wie und in welch großem Umfang er Einfluss auf seinen Librettisten nahm, um hier tatsächlich das für ihn dramaturgisch und textlich bestmögliche Ergebnis zur Vertonung vorgelegt zu bekommen. Mit einem klassischen Metastasio-Libretto hat das Textbuch des Idomeneo dann auch nicht mehr allzu viel zu tun…

So gesehen überrascht es dann, dass Mozart 10 Jahre später mit der Clemenza di Tito tatsächlich noch einmal einen echten "Metastasio-Klassiker" zu vertonen hatte - das wirkt zunächst anachronistisch, aber wenn man näher hinsieht, kommen ein paar Punkte zum Vorschein, die das Ganze etwas relativieren:
Zum einen konnte Mozart es sich nicht leisten, einen derart gut dotierten (und ehrenvollen) Opernauftrag, der ihn im Sommer 1791 aus Prag erreichte, abzulehnen, da er sich seit Längerem schon in ziemlichen Geldnöten befand.
Man hatte sich anlässlich der Krönung von Kaiser Leopold II. zum böhmischen König für das altbewährte Textbuch der Clemenza di Tito entschieden (Krönungsfeierlichkeiten sind ja eigentlich nie besonders fortschrittliche Zeremonien, sondern man setzt hier im Gegenteil ja immer besonders auf Kontinuität und Tradition), wohl nicht zuletzt deshalb, weil der in diesem Stück als wahrer Ausbund an Güte, Weisheit und Milde gerühmte römische Kaiser Titus (der von 79 bis 81 n. Chr. herrschte) ein wunderbares Abbild des zu huldigenden Herrschers abgab - eine solche Figur musste dem jeweiligen fürstlichen Auftraggeber bzw. Widmungsträger ja schmeicheln…!

Ich kann mir gut vorstellen, dass Mozart diesen Auftrag, wäre er ca. 6 Jahre früher gekommen, wohl abgelehnt hätte, da er sich Mitte der 1780er Jahre gerade auf dem - leider viel zu kurzen! - Höhepunkt (auch in finanzieller Hinsicht) seines Erfolges in Wien befand und wohl auch gar keine Zeit gehabt hätte, parallel zu seinen zahlreichen Konzertverpflichtungen vor Ort extra für diese Aufführung nach Prag zu reisen.

Zum anderen spricht es aber für Mozarts Künstlerpersönlichkeit, dass er sich, trotz der finanziellen Notwendigkeit, die ihn zur Annahme dieses Kompositionsauftrags zwang, dennoch nicht mehr in der Lage fühlte, ein zu dem Zeitpunkt fast 60 Jahre altes Metastasio-Libretto "mit Haut und Haaren" zu vertonen (wie er es in seiner Jugendzeit noch getan hatte), sondern sich vorab der Möglichkeit versicherte, Modifikationen an diesem Textbuch vornehmen lassen zu dürfen, um das Ganze zumindest ein wenig quasi auf die "Höhe der Zeit" zu bringen.

Und hier kommt nun Caterino Mazzolà (1745-1806) ins Spiel. Der als kurfürstlich-sächsischer Hofpoet tätige Italiener hielt sich im Sommer 1791 in Wien auf und bekam die Aufgabe übertragen, das 1734 entstandene Libretto Metastasios etwas umzuarbeiten und "aufzupeppen", wobei ihm Mozart wahrscheinlich schon ziemlich genau mitgeteilt haben dürfte, was für Erwartungen und Vorstellungen er an ein solches "modernisiertes" Libretto hatte.

Das Ganze ist wieder mal ein Vorgang, den ich ausgesprochen spannend finde und ein Vergleich zwischen der Original-Version der "Clemenza di Tito" und der von Mazzolà vorgelegten Umarbeitung ist wirklich sehr aufschlussreich:

Mazzolà hat die ursprünglich dreiaktige Oper (das ist bei Metastasio die übliche Aktanzahl) auf zwei Akte verkürzt und kommt damit einer zu der Zeit wohl üblichen Tendenz nach - allein Mozarts vier letzte Opern ab dem Don Giovanni sind allesamt Zweiakter.

Die Handlung kürzt Mazzolà vor allem innerhalb des zweiten Akts des Originals:
Dieser beginnt mit Sestos Auftritt, während im Hintergrund das Kapitol zu brennen beginnt. Dem schließen sich nun zahlreiche Auftritte und Abgänge der übrigen Personen (außer Titus natürlich) an, mehrere Arien wären hier zu singen und Mazzolà strafft das Ganze nun sehr wirkungsvoll und integriert das alles in die neu geschaffene Finalszene des ersten Aktes, während der - völlig untypisch für eine Opera seria - sogar ansatzweise so etwas wie Spannung aufkommt, die sogar dadurch noch gesteigert wird, dass der Akt mit der gemeinschaftlichen Klage von Chor und Solisten um den vermeintlich dahingemeuchelten Imperator endet und man erst nach der Pause im zweiten Akt erfährt, dass die Titelfigur der Oper den Anschlag unverletzt überlebt hat.

Außerdem entfällt der ganze Szenenkomplex innerhalb des zweiten Akts des Originals, während dem Annius und Sextus ihre Mäntel tauschen (damit Letzterer sich unbehelligt in der Stadt bewegen kann) und Annius - natürlich! - aufgrund des verräterischen Mantels von Titus fälschlicherweise als der Attentäter identifiziert wird, was wiederum Anlass gibt für ein paar Verzweiflungs-, Wut- und Entrüstungsarien (nämlich von Annius, Titus und Servilia), bevor sich die ganze Sache dann doch aufklärt, weil der Mitverschwörer Lentulus gestanden hat, dass Sextus (und nicht Annius) in die Verschwörung involviert war.
Diese, den eigentlichen Fortgang der Handlung doch etwas ungeschickt retardierende Episode, die zudem durch das sonst meist nur in Komödien vorkommende Verwechslungselement aufgrund vertauschter Kleidungsstücke enthält, was in diesem Rahmen dann doch etwas deplatziert wirkt, machte Mazzolà als Bearbeiter die Entscheidung, gerade hier den Rotstift anzusetzen, wahrscheinlich recht leicht.

Und so tritt, sobald Sextus seinem Freund Annius zu Beginn des bearbeiteten zweiten Aktes grade eben seine Mittäterschaft gestanden hat, dann auch schon Publius mit der Nachricht auf, dass er Sextus festnehmen und dem Senat zum Verhör vorführen müsse.

Ebenfalls gelungen finde ich die Einbindung mehrerer Ensembleszenen (Duette, Terzette, etc.), deren Gesangstexte Mazzolà fast ausschließlich aus den Rezitativ-Dialogen Metastasios gewonnen hat und die er geschickt erweitert bzw. im Versmaß angepasst hat.
Das schöne Duett zwischen Annius und Servilia im ersten Akt hat Mazzolà z. B. aus zwei aufeinanderfolgenden Arien dieser beiden Figuren gewonnen, in dem er beide Texte leicht modifiziert einfach in ein Duett zusammengelegt hat und somit die Liebenden nun mit- statt nacheinander singen lässt, was ja auch viel naheliegender ist, wenn man es mal so betrachtet - der Mann verstand sein dichterisches Handwerk, das muss man sagen!

Gestrichen wurden im Gegenzug eine ganze Reihe von Arien (Metastasios Libretti sehen bis auf ganz wenige Ausnahmen sowieso nur einen Wechsel zwischen Rezitativen und Solo-Arien vor, immerhin gibt es in der "Clemenza" auch zwei Chorauftritte, die Mazzolà dann auch prompt beibehält), wobei vor allem die Figur der Servilia eine ganz neue Gewichtung erhält - hat sie im Original noch ganze 5 Arien zu singen (genau so viel wie die beiden Hauptfiguren Sextus und Vitellia), bleibt ihr in der Neufassung gerade mal noch eine einzige Solonummer, während Sextus und Vitellia immerhin noch jeweils 2 Arien für sich verbuchen können.

Hatte Titelheld Titus im Original immerhin 4 Soloarien, kommt er mit 3 ihm jetzt verbleibenden Arien noch am besten weg - er ist in der Neufassung die Figur mit den meisten Solonummern - seine beiden zusätzlichen ausdrucksvollen orchesterbegleiteten Rezitative sowie die Solostelle in der Chornummer in der Mitte des zweiten Aktes mal gar nicht mitgerechnet (das alles überrascht natürlich schon deshalb nicht, weil die Figur des römischen Kaisers ja die eigentliche Huldigung an den frisch gekrönten Leopold darstellte, für den der ganze Aufwand ja betrieben wurde)!
Dass alle Figuren der Oper quasi als Ersatz für ihre gestrichenen Arien nun mehrfach an Ensemblenummern beteiligt sind, wertet deren Rollen aber natürlich auch wieder auf.

Das fertig bearbeitete Libretto bietet nun einen relativ bunten Wechsel von Solo- und Ensemblenummern und dürfte somit den Anforderungen Mozarts an ein wenigstens ansatzweise zeitgemäßes Libretto für eine Opera seria entsprochen haben, denn er vermerkt in seinem eigenhändig seit 1784 geführten Werkverzeichnis, dass Mazzolà den Titus erst zu einer "wahren Oper" gemacht habe - ein Lob, das für einen musikdramatisch so ungemein talentierten Künstler wie Mozart nicht hoch genug eingeschätzt werden kann!

Die Musik, die Mozart für diese Oper nun innerhalb recht kurzer Zeit (die aber für seine Verhältnisse gar nicht mal so knapp bemessen war) komponiert hat, ist in seinem typischen "Spätstil" verfasst (so tragisch es ist, bei einem gerade mal 35-Jährigen von "Spätstil" sprechen zu müssen) - der von größter Dichte und Knappheit und einer oft mitschwingenden melancholisch-abgeklärten Note durchzogen ist.

Dass Mozarts Schüler Franz Xaver Süßmayr (1766-1803), der später auch das Requiem-Fragment vollendete, ihm aller Wahrscheinlichkeit nach bei der Komposition der Secco-Rezitative geholfen hat, ist sicherlich für Mozart ungewöhnlich, zeigt für mich aber, welches Vertrauen er in Süßmayrs Fähigkeiten hatte (was man bei der Bewertung von dessen gerne gescholtener Requiem-Vervollständigung auch einmal berücksichtigen sollte).

Mir fällt beim Anhören der Titus-Musik immer wieder die teilweise geradezu frappante Kürze einiger Musiknummern auf (in der zeitgleich entstandenen Zauberflöte gibt es aber auch ein paar dieser ganz knapp gefassten Nummern) - man muss wirklich bewundern, dass Mozart es fertigbringt, auf allerkürzestem Raum den Kern der Aussage, die er musikalisch rüberbringen möchte, zu treffen und es nicht nötig hat, sich auf einem einmal gefundenen schönen melodischen Gedanken durch Wiederholungen und zahllose Abwandlungen "auszuruhen", wie es sicher so mancher andere Komponist getan hätte...

Das ist an all dem meiner Meinung nach eigentlich die größte Kunst: Dieses souveräne Beherrschen des epigrammatisch Kurzen und die künstlerische Selbstbeschränkung auch nur darauf - nicht mehr und nicht weniger! Das ist wie bei einem Maler, der mit ein paar wie nebenbei hingeworfenen Strichen eine skizzenartige Szene aufs Papier wirft, die bereits alles Notwendige enthält und für die keine weitere Ausmalung und Hinzufügung mehr erforderlich ist - auch, weil dann womöglich der Charakter des Spontanen und zielsicher Treffenden wieder verloren ginge!

Dieses Charakteristikum teilweise ganz erstaunlicher Knappheit bezieht sich in der Titus-Partitur vor allem auf zahlreiche Ensemblenummern und auch auf die Arien der Nebenfiguren Servilia, Annio und Publio.

Der Figur des Titus hat Mozart eher repräsentative Arien zugewiesen - diese klingen denn von allen auch am ehesten der Konvention verhaftet, manchmal kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Mozart hier auch ein bisschen mit dem Stilmittel der Parodie arbeitet und sich - ganz subtil - über typische Seria-Arien nobler Herrscherfiguren lustig macht. Die Titus-Arie "Se all'impero" im zweiten Akt mit ihren ausgiebigen Koloraturen und ihrer typischen Dreiteiligkeit scheint mir dafür ein besonders gutes Beispiel zu sein - so schön und nobel dieses Musikstück auch rüberkommt, Mozarts Souveränität erlaubte ihm, sich selbst hier auf ganz unterschwellige Art und Weise ein wenig lustig zu machen über die üblichen "Zutaten", die für eine Arie wie diese im Allgemeinen erwartet wurden und die anzuwenden er eigentlich nicht (mehr) nötig hatte.

Richtig aus sich herausgehen konnte Mozart - und das hört man auch - bei den großen Arien der beiden Hauptfiguren Vitellia und Sesto:
Hier nimmt er sich Zeit und verzichtet auf die sonst in dieser Oper quasi allgegenwärtige Knappheit der Form. Die beiden Rondos im zweiten Akt und Sestos "Parto, ma tu ben mio" im ersten Akt sind definitiv die musikalischen Höhepunkte der ganzen Oper - in zwei Fällen zusätzlich geadelt durch den Einsatz der Soloklarinette, bzw. des Bassetthorns (eine Klarinette, deren tiefer Tonumfang erweitert wurde), die dort mit der jeweiligen Gesangsstimme konzertieren. Beide Stücke sind Mozarts Freundschaft mit dem Klarinettisten Anton Stadler (1753-1812) zu verdanken, dem er diese Soli quasi ins Rohrblatt schrieb und der ihn für die Aufführung der Oper nach Prag begleitete. Man merkt dem Tonfall gerade dieser Klarinetten-Arien die zeitliche Nähe zum ebenfalls für Anton Stadler komponierten berühmten Klarinettenkonzert (KV 622) deutlich an - ganz großartige Musik!

Mit ihrer abgeklärten, durch und durch schönen Musik, die fern von allen Extremen scheint, ist Mozarts Titus für mich - neben einigen Opern des späten Gluck oder auch einigen, etwas später um die Wende zum 19. Jahrhundert entstandenen Werken Cherubinis - der ideale Ausdruck dessen, was man als "musikalischen Klassizismus" bezeichnen könnte!

Obwohl die Clemenza di Tito (KV 621) (6. September) dreieinhalb Wochen vor der Zauberflöte (KV 620) (30. September) ihre Uraufführung erlebte, trägt sie im chronologischen Köchel-Verzeichnis die höhere Nummer - das hat mich lange irritiert, aber ich vermute mal, dass es ganz einfach damit zusammenhängt, dass Mozart die Arbeit an der Zauberflöte schon fast beendet hatte, als ihn der ja relativ kurzfristige Auftrag für den Titus erreichte, das dürfte für die Nummerierung in der heute bekannten Weise dann wohl den Ausschlag gegeben haben.


Nun aber noch zu den Aufnahmen dieser Oper, mit denen ich mich etwas eingehender beschäftigt habe:

Tito: Anthony Rolfe Johnson
Sesto: Anne Sofie von Otter
Vitellia: Julia Varady
Servilia: Sylvia McNair
Annio: Catherine Robbin
Publio: Cornelius Hauptmann
The Monteverdi Choir
The English Baroque Soloists
Dir.: John Eliot Gardiner

Aufnahmedatum: Juni 1990


Zunächst - Orchester und Solisten dieser Aufnahme sind tadellos; exzellente Stimmen, ein akkurat aufspielendes Instrumentalensemble, da gibt es nichts zu bemängeln!

Aaaaber:
Die Interpretation Gardiners gefällt mir persönlich überhaupt nicht!
La Clemenza di Tito ist eine Krönungsoper, komponiert für einen festlichen Anlass.
Schon beim Anhören der Ouvertüre vermisse ich beim sehr transparenten, fast schon kammermusikalischen Klang der English Baroque Soloists ein bisschen die "sinfonische Substanz" des Ganzen.
Ein großes Manko scheint mir vor allem das gewählte, sehr schnelle Grundtempo dieser Opernaufnahme.
Es ist ein Charakteristikum vieler im Geiste der historisch informierten Aufführungspraxis entstandenen Aufnahmen der 1980er und zum Teil auch noch der 1990er Jahre, teilweise schon überzogen schnelle Tempi zu wählen - man hat fast den Eindruck, das dies vor gut 20 Jahren eine Art Hauptkriterium gewesen zu sein scheint: "Spielt möglichst so flott, wie es bisher noch niemand zuvor fertiggebracht hat, dann ist das Ganze schon mal historisch-authentisch und erhält auf jeden Fall die marketingtechnisch erforderliche Aufmerksamkeit, die für gute Verkaufszahlen der neuen Aufnahme erforderlich ist!" - das scheint, etwas überspitzt formuliert, für viele Ensembles seinerzeit - neben der Verwendung historischer Instrumente - das oberste Gestaltungsprinzip gewesen zu sein und John Eliot Gardiner stand hierbei durchaus mit mehreren Produktionen mit an der Spitze dieser stets einander überbieten wollenden "Geschwindigkeitsrekorde" (ich hatte zeitweise wirklich den Eindruck, das Ganze artet in einer Art "Wer schafft's noch schneller?"-Wettbewerb aus), ich erinnere mich z. B. an seine Aufnahmen der Bach-Passionen, die mich in diesem Punkt doch sehr enttäuscht haben, weil alles so fix "durchgehechelt" wurde.

Die vorliegende Aufnahme der "Clemenza di Tito" erfüllt leider genau diese Kriterien.
Vieles klingt hier zu leichtfüßig, ja fast nebensächlich oder beiläufig (z. B. der Marsch im ersten Akt), manches wirkt dadurch für mein Empfinden etwas zu routiniert und lieblos.
Irgendwie kommt bei dem Ganzen wenig Festlichkeit oder Theatralik auf, was eventuell auch der Tatsache geschuldet sein mag, dass diese Einspielung im Rahmen einer konzertanten Live-Aufnahme entstanden ist und die bühnentechnischen Aspekte dadurch etwas auf der Strecke geblieben sind (man höre z. B. nur einmal Sestos orchesterbegleitetes Rezitativ am Ende des ersten Aktes an - da fehlt mir einfach die hier ja eigentlich reichlich vorhandene Dramatik).
Die Soloklarinette in Sestos Arie "Parto, ma tu ben mio" kommt aufgrund des hohen Tempos kaum mit, die Wirkung verblasst dadurch fast ganz, zumal die Tonregie es nicht fertiggebracht hat, die Klarinette ein wenig in den Vordergrund zu stellen, sie "gurgelt" verzweifelt ihre rasenden Passagen irgendwo verloren im Hintergrund.

Ich bin froh, dass man offenbar nun schon seit einigen Jahren erkannt hat, dass eine übertriebene Geschwindigkeit vielleicht doch nicht das alleinige "Allheilmittel" ist, mit dem man sich - neben der Verwendung alter Instrumente - von traditionelleren Interpretationen abheben kann. Die hier rezensierte Titus-Aufnahme fällt aber leider noch in genau diese Zeit.

Leider sind auch die Seccorezitative erheblich gekürzt worden (was evtl. auch der Konzertsituation geschuldet war?), wobei ich leider anmerken muss, dass mir keine Aufnahme bekannt ist, wo hier keine - mehr oder weniger umfangreichen - Kürzungen vorgenommen wurden! Keine Ahnung, warum man es nicht für nötig empfindet, dem Zuhörer zur Abwechslung einmal die ungekürzten Rezitative darzubieten; im Theater kann man da ja immer noch Striche anbringen, aber für eine exemplarische Einspielung könnte man sich ja vielleicht diese Mühe mal machen. Außerdem stört mich das in dieser Aufnahme eingesetzte Hammerklavier - ein Cembalo klingt einfach eleganter und geht klanglich auch an den wenigen Stellen, in denen es mit dem Orchester zusammen zum Einsatz kommt, nicht einfach im Streicherklang unter.

Tito: Peter Schreier
Sesto: Teresa Berganza
Vitellia: Julia Varady
Servilia: Edith Mathis
Annio: Marga Schiml
Publio: Theo Adam
Rundfunkchor Leipzig
Staatskapelle Dresden
Dir.: Karl Böhm

Aufnahmedatum: Januar 1979


Was für ein Gegensatz liegt zwischen dieser und der zuvor erwähnten Gardiner-Einspielung!
Erstaunlich, dass es sich in beiden Fällen um dieselben Noten handelt - aber gerade diese großen Unterschiede zwischen Aufnahme A und B machen das Ganze ja auch so spannend!
Karl Böhm geht diese Einspielung mit deutlich langsamerem Grundtempo an (noch schneller als Gardiner wäre auch schlecht möglich) und die Staatskapelle Dresden trägt ihren Teil dazu bei, dass das Ganze eher sinfonisch und festlich klingt - teilweise nicht nach Oper, sondern mehr nach Oratorium, was mir persönlich aber vom Gesamtergebnis her doch deutlich besser gefällt, als die vorher beschriebene Interpretation.

Gerade die Chorszenen geraten bei Böhm sehr beeindruckend, weil er sich genügend Zeit lässt, z. B. den Chor, der im zweiten Akt von Vitellias großer Soloszene zum Schlussbild überleitet, auch seine feierliche Wirkung voll entfalten zu lassen: Das Ganze klingt hier tatsächlich nach einem Huldigungsmarsch (was im gesungenen Text des Chores ja auch angelegt ist), bei dem auch die eingesetzten Pauken schön zur Wirkung kommen können.
Mich erinnert dieser Chor immer an einen Satz aus einer Mozart-Messe, aber genau diese Assoziation trifft die Stimmung dieser Szene ja eigentlich sehr genau. Bei Gardiner wird dieser Chor in knapp 2 Minuten durchgepeitscht und wirkt auf mich eher wie eine Art Geschwindmarsch, wobei die festliche Wirkung hier natürlich komplett auf der Strecke bleibt; Böhm braucht hingegen fast dreieinhalb Minuten für denselben Satz - wirklich interessant, wie unterschiedlich man ein und dasselbe Musikstück interpretieren kann!

Auch die oben erwähnte Arie "Parto, ma tu ben mio" wird beim von Karl Böhm gewählten, deutlich moderateren Tempo ein wirklicher Ohrenschmaus: Wenn man der Soloklarinette die Zeit lässt, kann sie ihren Beitrag zu dieser Arie wunderbar entfalten. Die Wirkung ist - verglichen mit der Gardiner-Interpretation - plötzlich eine komplett andere.

Auch der aus drei einzelnen Nummern bestehende, sich effektvoll aufbauende Szenenkomplex am Ende des ersten Aktes kommt bei Böhm deutlich spannungsgeladener rüber (sofern man bei dieser Oper überhaupt von "Spannung" sprechen kann!), als es die Gardiner-Interpretation vermag.
Der den ersten Akt dann beschließende Trauergesang wirkt ebenfalls wie aus einer Messvertonung Mozarts exportiert - das mag so nicht jedermanns Sache sein, aber wenn man sich den Hintergrund der "Clemenza di Tito" als Huldigungs- und Krönungsoper ins Gedächtnis ruft, dann passt diese weihevolle, quasi-religiöse Atmosphäre eigentlich ganz gut.

Die auch hier wieder (zumindest ein wenig) gekürzten Seccorezitative wirken in dieser Aufnahme leider etwas hölzern und statisch - man hat das Gefühl, dass hier eine eher unliebsame "Pflichtübung" zelebriert wird, so uninspiriert klingt das. Als ob man hier demonstrieren wollte, dass die von Herrn Süßmayr komponierten Rezitative von ihrer Qualität her im Vergleich zur übrigen Mozart-Musik deutlich abfallen. Walter Taussig am Cembalo kann anscheinend nur schlichte Akkorde vorgeben, da gibt es weitaus raffiniertere Continuospieler am Tasteninstrument. Schade!

Die Solisten dieser Aufnahme sind gut, vor allem Julia Varady als Vitellia gefällt mir ausgesprochen, aber auch Teresa Berganza als Sesto. Marga Schiml als Annio hingegen enttäuscht etwas: Sie klingt etwas gouvernantenhaft und bringt auch manch überflüssiges Vibrato mit.
Peter Schreier in der Titelrolle mag nicht jedermanns Geschmack sein (bei ihm scheiden sich ja offensichtlich häufig die Geister), aber wie ich schon bei meiner Vorstellung der legendären Freischütz-Aufnahme unter der Leitung von Carlos Kleiber angemerkt habe, mag ich Peter Schreiers Tenor eigentlich ganz gerne und auch hier als Titus kann er sich durchaus hören lassen, wenn mir zugegebenermaßen Interpreten wie Anthony Rolfe Johnson oder Stuart Burrows dann doch noch etwas mehr zusagen.

Tito: Stuart Burrows
Sesto: Yvonne Minton
Vitellia: Janet Baker
Servilia: Lucia Popp
Annio: Frederica von Stade
Publio: Robert Lloyd
Chorus & Orchestra of the Royal Opera House, Covent Garden
Dir: Sir Colin Davis

Aufnahmedatum: Juli 1976


Wie Karl Böhm wählt auch Sir Colin Davis ein eher moderates, tendenziell jedoch ein klein wenig schnelleres Tempo für seine Titus-Aufnahme.
Auch sein Orchester besitzt einen vollen, sinfonischen Klang und der zum Einsatz kommende Chor scheint sogar groß besetzt zu sein, was natürlich den entsprechenden Szenen klanglich zu einem besonders voluminösen Klang verhilft.
Immerhin wird das Ganze dadurch nicht zäh oder langatmig. Allerdings vermisst man gerade am Ende des ersten Aktes die deutlich zupackendere Attitüde, die der Chor in der Böhm-Aufnahme an dieser Stelle hatte - hier klingt der Chor vor allem elegant und wie mit einem "Weichzeichner" aufgenommen.

Janet Baker als Vitellia mag nicht jedermanns Sache sein, sie kommt teilweise etwas scharfstimmig rüber (was ihrer sängerischen Gesamtleistung jedoch keinen Abbruch tut), wirkt aber nicht zuletzt in den Rezitativen wunderbar dramatisch, bzw. zum Teil geradezu wutschäumend, was ihre Interpretation dieser Rolle natürlich besonders eindrücklich macht!
Yvonne Minton verleiht ihrem Sesto eine recht helle (und damit sehr weiblich wirkende) Stimme, was ich etwas ungewohnt fand, da die meisten Interpretinnen dieser Rolle doch eher dem Mezzo-Fach zuzurechnen sein dürften. Stuart Burrows als Titus wirkt in dieser Aufnahme ganz besonders nobel und herrschaftlich.

Die auch hier leider wieder ein wenig gekürzten Seccorezitative werden sehr lebendig vorgetragen, wozu auch eine entsprechend flexible Begleitung durch das Cembalo (John Constable) kommt. Im Vergleich zu den hölzern interpretierten Rezitativen der Böhm-Aufnahme hat man den Eindruck, dass man hier völlig anderen Dialog-Gesang zu hören bekommt - es geht also doch!

Tito: Philip Langridge
Sesto: Ann Murray
Vitellia: Lucia Popp
Servilia: Ruth Ziesak
Annio: Delores Ziegler
Publio: László Polgár
Chor und Orchester der Oper Zürich
Dir.: Nikolaus Harnoncourt

Aufnahmedatum: März 1993


Von der Harnoncourt-Aufnahme aus Zürich besitze ich nur einen immerhin recht umfangreichen Querschnitt, der einen ganz guten Eindruck vermittelt.

Typisch für Herrn Harnoncourt ist das zwar transparent, aber längst nicht so dünn wie bei Gardiner klingende Orchester, dem der Dirigent die von ihm so bevorzugten, teils recht drastischen und abrupten Tempo- und Dynamikwechsel auferlegt.
So beginnt zum Beispiel das erste Duett der Oper in fast Böhm'schem Tempo (also betont langsam), nur um dann im zweiten Teil in eine schon fast übertriebene Geschwindigkeit auszubrechen - muss man diesen Gegensatz denn so drastisch ausdrücken? Ich finde das etwas übertrieben.
Der Marsch im ersten Akt kommt in einem derartigen Tempo daher, dass man diese Interpretation fast schon als parodistisch auffassen könnte - keine Ahnung, was das soll…
Etwas störend finde ich auch die zuweilen wie grelle Blitzschläge eingesetzten, "knatternd" dreinfahrenden Blechbläser an verschiedenen Stellen der Partitur!

Zum Glück lässt sich Harnoncourt für gefühlvolle Nummern wie dem Duett zwischen Annio und Servilia im ersten Akt oder Sestos "Parto, ma tu ben mio" deutlich mehr Zeit als Gardiner, was die Wirkung dieser Stücke sehr erhöht.

Leider wirkt der Chor ziemlich dröge (und auch etwas dumpf) - gerade am Ende des ersten Aktes bleibt die Wirkung seiner Einbeziehung in die Handlung total auf der Strecke, so trocken und teilnahmslos klingt er hier.

Ungewohnt finde ich Lucia Popp als Vitellia - sie klingt viel zu rein, zu wenig dämonisch, dramatisch und rachsüchtig (gerade auch im Vergleich zu den Damen Varady und Baker!). Frau Popp als Servilia zu besetzen (wie bei Davis) halte ich für die glücklichere Wahl.

Philip Langridge als Tito kommt leider ziemlich kurzatmig bis heiser rüber, ihm fehlt außerdem ein wenig die herrschaftliche Noblesse.

Persönlich würde ich die Aufnahme von Sir Colin Davis den anderen hier vorgestellten vorziehen, einige Sätze sind jedoch meiner Meinung nach in der Einspielung von Karl Böhm noch besser gelungen!


Tito: Eric Tappy
Sesto: Tatiana Troyanos
Vitellia: Carol Neblett
Servilia: Catherine Malfitano
Annio: Anne Howells
Publio: Kurt Rydl
Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor
Wiener Philharmoniker
Dir.: James Levine

Aufnahmedatum: Mai - Juni 1980


Zum Abschluss noch eine Empfehlung für eine wirklich gelungene Verfilmung der "Clemenza":
Die im Jahr 1980 unter der Regie des legendären Jean-Pierre Ponnelle (1932-88) entstandene Produktion, die die Darsteller in Kostümen der Mozartzeit in den Ruinen der Caracallathermen, auf dem Forum Romanum und am Titusbogen in Rom - als quasi an den "Originalschauplätzen" agieren lässt.

Bewusst künstlich gehalten (und damit mit dem an sich ja schon artifiziellen, gleichnishaften Libretto korrespondierend) kann man sich hier an wunderschönen Bildern und Kostümen erfreuen und die unvergleichliche, ganz spezielle Personenführung des genialen, viel zu früh verstorbenen Ponnelle genießen. Sehr beeindruckend und oft mit ganz einfachen Gesten und Interaktionen gestaltet.

Einer meiner liebsten Opernfilme überhaupt!

1 Kommentar:

  1. Danke, habe Link gesetzt:
    http://amadyssesn.blogspot.com/2011_12_26_archive.html

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