Montag, 31. Oktober 2011

Blutsauger im Opernhaus - "Der Vampyr" von Heinrich Marschner

Seit Monaten - ach, was sage ich - seit nun schon mindestens zwei Jahren stößt man kurz nach Betreten jeder x-beliebigen Buchhandlung auf einen (oder mehrere) gut gefüllte Tische, auf denen sich eine Unzahl von Romanen, Bildbänden und Sachbüchern zum Thema Vampire stapelt - ich hätte nie gedacht, dass es zu dem Thema - abgesehen von Graf Dracula - so viel Literatur geben würde! Vampire sind im Moment vollkommen im Trend, auch im Kino und in zahllosen Fernsehserien - wer hätte das noch vor drei oder vier Jahren gedacht, wo man mit dem klassischen Thema Vampire niemanden wirklich in Verzückung hätte versetzen können - und heute sind es gerade und vor allem die Teenies, die sich für diese beißfreudigen "Freunde der Nacht" ganz besonders begeistern können…!

Pünktlich zu Halloween möchte ich daher heute dieses Thema aufgreifen und einmal auf eine Oper aufmerksam machen, die ganz wunderbar in diesen Trend passen würde, wenn, ja wenn man die Chance hätte, diese Oper auch mal in irgendeinem unserer zahlreichen Opernhäuser erleben zu können!

Dabei wäre es doch sicher eine gute Gelegenheit für ein ambitioniertes Theater, hier mal auf einen Trendzug aufspringen zu können (da hat man als Opernhaus ja auch nicht immer wirklich Gelegenheit zu…) und vielleicht auch mal ein gezielt jüngeres Publikum anzulocken!

Die Rede ist von Heinrich Marschners am 29.03.1828 in Leipzig uraufgeführter Oper Der Vampyr (op. 42) - die ein typisches Stück jener Epoche der Schwarzen Romantik darstellt, in der sich die Leute für Geister-, Schauer- und Fluchgeschichten aller Art besonders begeisterten (ähnlich wie heutzutage) und nicht nur in England sogenannte Gothic novels entstanden, die diese Mode aufgriffen und durch immer neue Themen nährten und dem Ganzen neue Facetten des Gruselns und des Übernatürlichen hinzufügten.

Natürlich gab es auch zahlreiche Bühnenwerke, die sich der Thematik der Schwarzen Romantik verschrieben - Carl Maria von Webers 1821 uraufgeführte Oper Der Freischütz dürfte das wohl bekannteste Beispiel aus diesem Sektor sein und man kann sich gut vorstellen, warum sich gerade Mozarts Oper Don Giovanni aus dem Jahr 1787 mit ihrer Höllenfahrt des zügellosen Titelhelden am Ende just in diesen Jahren einer ganz besonderen Beliebtheit erfreute.

Heinrich Marschner (1795-1861) war 1824 Musikdirektor der Dresdner Oper geworden, und von 1827 bis 1831 musikalischer Leiter der Oper Leipzig, bevor er dann von 1831 bis 1859 Hofkapellmeister der Oper in Hannover wurde.
In der Leipziger Zeit entstand (7 Jahre nach Webers Freischütz) mit dem Vampyr sein erster großer Opernerfolg, der dann 1833 von seiner ebenfalls im Bereich des Übernatürlichen angesiedelten Oper Hans Heiling (König der Erdgeister) op. 80 noch überflügelt wurde.

Das Libretto zu dieser Vampiroper verfasste Wilhelm August Wohlbrück (1794-1848), der Schwager des Komponisten.
Das Textbuch basiert auf der 1816 entstandenen Erzählung "The Vampyre" von John Polidori (1795-1821) und diese Erzählung gilt als die erste bedeutende Vampirerzählung der Literatur, die den Vampirmythos aus dem Bereich der Volkssage herausholt und mit dem adligen, eleganten Gentleman Lord Ruthven den ersten "modernen" Vampir erschafft. Eine Figur, die nicht nur abstoßend, sondern auf faszinierende Weise auch attraktiv, anziehend und geradezu unwiderstehlich auf ihre Opfer wirkt - da schwingt unterschwellig bereits eine ganze Menge Erotik mit...!

Polidori war ein Freund von Mary Shelley (1797-1851), deren weltberühmter Roman "Frankenstein" im Jahr 1818 erschienen, aber ebenfalls bereits im Jahr 1816 als Grundidee entstanden war.
Interessant, dass diese beiden heute wohl berühmtesten Figuren des Gruselgenres (der wahnsinnige, Monster erschaffende Wissenschaftler sowie der unwiderstehliche und unerbittlich mordende Vampir) beide zur selben Zeit von zwei befreundeten Autoren kreiert wurden!
John Polidori war Gefährte und Leibarzt des berühmten Lord Byron (1788-1824), einer schillernden und exzentrischen Figur, die gut in die Epoche der Romantik passte und die Erzählung "The Vampyre" baut auf einem Fragment Byrons auf, dem Polidori Elemente für seine eigene Story entnahm.
Dies führte dann schon bei der Erstveröffentlichung der Erzählung im Jahr 1819 dazu, dass irrtümlich Lord Byron als Autor von "The Vampyre" bezeichnet wurde, was der Geschichte jedoch auch zu weit größerer Beachtung und Erfolg verhalf und wohl auch deshalb von John Polidori nicht reklamiert und richtiggestellt wurde.

Nach zahlreichen weiteren Vampirerzählungen (unter anderem von Edgar Allan Poe, Nikolai Gogol, Joseph Sheridan Le Fanu oder Leo Tolstoi) sorgte letztendlich Bram Stoker (1847-1912) mit seinem im Jahr 1897 erschienenen Welterfolg "Dracula" dafür, dass Polidoris Erzählung ziemlich in Vergessenheit geraten ist, obwohl gerade der uns allen bekannte Graf Dracula und alle seine Nachfolger ohne das Vorbild von Polidoris Gentleman-Vampir Lord Ruthven undenkbar wären.

Im Gegensatz zur literarischen Vorlage hat Marschners gut zweieinhalbstündige Oper in vier Akten übrigens ein Happyend.
Nach der Ouvertüre folgen 20 Musiknummern, die durch Dialoge miteinander verbunden sind.

Worum geht es?

Lord Ruthven ist zum Vampyr geworden, weil er einst meineidig geworden ist, also einen falschen Eid geleistet hat, bzw. weil er einen Eid gebrochen hatte. Diese schwere Sünde hat ihn zu einem Diener der Hölle gemacht und er muss seitdem ruhelos umherziehen und seinen Opfern, die ihm aufgrund seines fast schon als hypnotisch zu bezeichnenden Wesens als Vampyr willenlos verfallen sind, das Blut aussaugen. So hat er auch seine Familie, Frau und Kinder töten müssen, ohne sich diesem inneren, teuflischen Drang nach dem Blut anderer Menschen entziehen zu können - dies ist die Strafe, die er zu tragen hat. Anders als spätere Vampirfiguren ist er nicht darauf beschränkt, sich nur in der Nacht draußen umherbewegen zu können, jedoch besitzt das Mondlicht für ihn magische, heilende und auch verjüngende Fähigkeiten.

Er hat vor Beginn der Opernhandlung dem jungen, mittellosen Adligen Edgar Aubry das Leben gerettet und dieser steht seitdem in seiner Schuld.

Zu Beginn der Oper trifft der Zuschauer auf eine Szenerie, die er bereits aus der Wolfsschluchtszene aus Webers Freischütz bestens kennt:
Eine unheimliche, nächtliche Schlucht in fast unzugänglicher Wildnis, bevölkert von allerlei übernatürlichen Geistererscheinungen.
Marschners Oper - das muss man leider sagen - erweckt leider häufiger den Eindruck, dass sie eine Art "Freischütz-Reloaded" darstellt, so ähnlich sind sich manche Szenen, Personenkonstellationen und musikalische Nummern.

Vielleicht hat diese Tatsache dazu beigetragen dass sich der Vampyr im Vergleich zum Freischütz nie wirklich dauerhaft im Repertoire hat halten können - im Zweifel hat man halt das Original diesem Nachzügler vorgezogen (auch wenn das ungerecht erscheinen mag).

In diese gruselige Atmosphäre (Weber schafft es jedoch meiner Meinung nach eindeutig, in seiner Wolfsschlucht musikalisch eine wesentlich gelungenere Spukatmosphäre hervorzuzaubern) tritt nun Lord Ruthven, der Vampyr, der hier eine Verabredung mit dem Vampyrmeister hat.
Ihm wird ein weiteres Erdenjahr vergönnt, wenn er es schafft, innerhalb von 24 Stunden drei "zarte, reine Bräute" als Opfer darzubringen. Freischütz-Kennern wird diese Bedingung bekannt vorkommen - der finstere Jagdgeselle Kaspar muss Samiel, dem schwarzen Jäger (im Übrigen genau wie der Vampyrmeister eine reine Sprechrolle) ein ähnliches Opfer darbringen, um ein weiteres Jahr des Überlebens zu erhalten.

Lord Ruthven willigt jedenfalls ein (was bleibt ihm auch anderes übrig?), zumal er bereits Vorbereitungen für zumindest zwei Opfer getroffen hat:

Zuerst läuft ihm die schwärmerische Janthe, Tochter des noblen Sir Berkley, noch direkt vor Ort in die Arme. Sie hat sich Hals über Kopf in den sie unwiderstehlich anziehenden jungen Lord verliebt und das väterliche Schloss kopfüber in der Nacht vor ihrer Hochzeit verlassen, um mit dem heimlichen Geliebten durchzubrennen. Lord Ruthven fackelt nicht lange und nach einem kurzen Duett zieht er die junge Dame in die berüchtigte Vampyrhöhle, aus der schon kurze Zeit später die sie mittlerweile suchenden Diener und Landleute ihre verzweifelten Todesschreie vernehmen.

In seiner triumphierenden Arie (die dieser Szene vorausgeht) hat Ruthven mit finsterer Bariton-Stimmlage bereits seine "Visitenkarte" als schurkisch-skrupelloser, jedoch auch sehr anziehender Bösewicht (womit er Mozarts Don Giovanni als weiterem Vorbild ebenfalls recht nahekommt) abgegeben:
Ha! welche Lust, aus schönen Augen
An blühender Brust
Neues Leben
In wonnigem Beben
Mit einem Kusse in sich zu saugen!
Ha! welche Lust
In liebendem Kosen
Mit lüsternem Mut
Das süßeste Blut
Wie Saft der Rosen
Von purpurnen Lippen
Schmeichelnd zu nippen!
Und wenn der brennende Durst sich stillt,
Und wenn das Blut dem Herzen entquillt,
Und wenn sie stöhnen voll Entsetzen,
Haha! Welch Ergötzen! Welche Lust!
Mit neuem Mut
Durchglüht mich ihr Blut;
Ihr Todesbeben ist frisches Leben!
Armes Liebchen, bleich wie Schnee,
Tat dir wohl im Herzen weh!
Ach, einst fühlt' ich selbst die Schmerzen
Ihrer Angst im warmen Herzen,
Das der Himmel fühlend schuf.

Nachdem der Vampyr nun also sein erstes Opfer gefunden hat, wird er vom rasenden Vater Janthes, der sich ebenfalls auf der Suche nach der Verschwundenen eingefunden hat, gestellt und tödlich verwundet. Man lässt ihn sterbend zurück, als klar wird, dass man sich unmittelbar vor der verrufenen Vampyrhöhle befindet.

Nun tritt mit Edgar Aubry der jugendliche Held der Oper auf (ein Tenor natürlich, was sonst?) und erkennt in dem Sterbenden Lord Ruthven, der ihm einst das Leben rettete.
Ruthven nutzt diese Tatsache für seine Zwecke, in dem er Edgar schwören lässt, alles, was dieser von ihm weiß, bzw. noch erfahren oder auch nur erahnen wird, 24 Stunden lang zu verschweigen. Der edelmütige Edgar schwört dies feierlich, wenn auch mit Grausen (man hat ihm in London über seinen Lebensretter erzählt, dass dieser vermutlich ein Vampyr sei) und schleppt den verwundeten Ruthven auf eine Anhöhe, wo er ihn, mit dem Gesicht zum Mond liegend, schaudernd zurücklässt.
Die Strahlen des Mondlichts heilen den Vampyr nahezu augenblicklich und dieser erhebt sich und schreitet seinem nächsten Opfer entgegen. Marschner findet für diese Szene eine eindringliche Musik, die das Ganze untermalt!

Nun entwickelt sich im 2. Akt zunächst eine recht typische Opernhandlung:
Reiches Mädchen aus gutem Hause (Malwina) liebt mittellosen Jüngling (den uns bereits bekannten Edgar) - ihr gestrenger Herr Papa (Sir Humphrey, Lord von Davenaut), hat jedoch bereits einen anderen (wohlhabenden) Heiratskandidaten ausgeguckt: Den in der Nachbarschaft ansässigen Earl von Marsden, der es mit der Hochzeit auch noch ziemlich eilig hat, da er als Gesandter nach Madrid bestellt wurde und am selbigen Tag - nach vollzogener Trauung - noch abreisen muss. Natürlich verbirgt sich hinter diesem Earl niemand anderes als Lord Ruthven, der sich als der seit Jahren im Ausland umhergereiste Bruder des jüngst verstorbenen Earl (und damit jetzt als der Erbe seines Titels) ausgibt und sich auf dessen Stammsitz eingenistet hat.

Als Edgar erkennt, welchem Bräutigam seine geliebte Malwina da am selben Tage noch zugeführt werden soll, ist er entsetzt, lässt sich aber mehrfach von Ruthven unter dem Verweis auf den von ihm geleisteten Schwur davon abhalten, Malwina oder deren Vater zu warnen.

Malwina selbst ist natürlich auch nicht gerade begeistert, diesen unheimlichen bleichen Mann heiraten zu müssen, da sie auf ihren Edgar ebenfalls nicht verzichten will.
Ihr Vater zeigt sich natürlich stur und beharrt auf dem von ihm als Ehrenmann gegebenen Wort.
Malwina wird - eine weitere Parallele zum Freischütz - quasi als Ebenbild Agathes gezeichnet: Rein, standhaft, von zuversichtlichem Gottvertrauen gestärkt. Allein schon ihre große Auftrittsarie "Heiter lacht die goldne Frühlingssonne", die einen wirkungsvollen Gegensatz zur Düsternis der unmittelbar vorangegangenen Szene an der Vampyrhöhle darstellt, erinnert in ihrem Aufbau schon sehr an Agathes Szene "Wie nahte mir der Schlummer" aus dem 2. Akt des Freischütz.

Und auch Edgar Aubry lässt sich - zumindest in Teilen - gut mit Max aus dem Freischütz vergleichen - seine Arie "Wie ein schöner Frühlingsmorgen" mit ihrem Schwanken zwischen lyrischer Liebessehnsucht und dem Schrecken vor der dunklen Bedrohung korrespondiert mit Maxens ungleich berühmterer, im Aufbau ähnlicher Arie "Durch die Wälder, durch die Auen" - das Unglück will es, dass es Weber bei bisher jedem der aufgezeigten Beispiele deutlich besser gelingt, sowohl die jeweiligen Stimmungen prägnanter auszudrücken, wie auch die eingängigeren Melodien zu finden…!

In einer eindrucksvollen Szene schildert Lord Ruthven dem entsetzten Edgar, wie er selbst zum Vampyr wurde und wie Edgar dasselbe Schicksal droht, wenn er seinen Eid bricht und Malwina vor ihm warnt:

“Reue sühnet Meineid nicht;
Kehre du zurück mit Graus
In das kaum verlassne Haus.“
Nun gehst du, ein grausiger Leichnam, einher,
Bestimmt, dich vom Blute derer zu nähren,
Die dich am meisten lieben und ehren.
Im Innern trägst du verzehrende Glut,
Bei deinem Leben hast du's geschworen:
Was durch dich lebt, ist durch dich verloren;
Der Gattin, der Söhne, der Töchter Blut,
Es stillet zuerst deine scheußliche Wut,
Und vor ihrem Ende erkennen sie dich
Und fluchen dir und verfluchen sich!
Doch was dir auf Erden das Teuerste war,
Ein liebliches Mädchen mit lockigem Haar,
Schmiegt bittend die kleinen Handchen um dich.
Die Tränen ins helle Äuglein ihr treten.
Sie lallet: “Vater, verschone mich,
Ich will auf Erden für dich beten!“
Du siehst ihr ins unschuldig fromme Gesicht,
Du möchtest gern schonen und kannst es doch nicht!
Es reizt dich der Teufel, es treibt dich die Wut!
Du musst es saugen, das teure Blut!
So lebst du, bis du zur Holle fährst,
Der du auf ewig nun angehörst;
Selbst dort noch weichet vor deinem Blick
Die Schar der Verworfnen mit Schaudern zurück:
Denn gegen dich sind sie engelsrein,
Und der Verdammte bist du allein!

Diese, zwischen Arioso und orchesterbegleitetem Rezitativ hin und her changierende "Große Szene" weist schon voraus auf Richard Wagner, der sich von Marschners Opern durchaus inspirieren und beeinflussen ließ und in seinem 1843 uraufgeführten Fliegenden Holländer einige Elemente aus dem Vampyr wieder aufgreifen wird. Der Zuschauer erfährt hier durchaus Tragisches über den ruhelosen Vampyr und man fühlt schon fast Mitleid für ihn, was diese Figur wiederum zu einem ausgesprochen vielschichtigen Charakter macht (zumindest an dieser Stelle des Stücks), der sich nicht so einfach in die klassische Schublade des "nur" bösen Schurken einordnen lässt!

Im 3. Akt feiern die Landleute auf dem Schloss des Earl of Marsden die bevorstehende Hochzeit von Emmy Perth, der Tochter des Gutsverwalters des Earls, mit George Dibdin, der wiederum Bediensteter von Sir Humphrey ist.

In der naiven und hübschen jungen Emmy findet Lord Ruthven (hier natürlich in seiner Rolle als Earl of Marsden auftretend) dann sein zweites Opfer - das Mädchen kann sich dem Reiz des weltmännisch und galant auftretenden Edelmanns nicht entziehen und folgt ihm willenlos nach kurzer Verführung ins Verderben. Hier drängt sich nun natürlich der Vergleich mit Mozarts Don Giovanni auf - und zwar mit der Szene, wo dieser das Bauernmädchen Zerlina von ihrer Hochzeitsgesellschaft weglockt und verführt und diese Tat mit dem berühmten Duett "La ci darem la mano" einleitet.
Das entsprechende Verführungsduett im Vampyr ("Leise dort zur fernen Laube") durchzieht im Gegensatz zur lyrischen Stimmung bei Mozart jedoch ein konsequent bedrohlich-nervöser Unterton in den tiefen Orchesterstimmen, was die Spannung dieser Szene natürlich entsprechend steigert.

Um den Gegensatz zu dieser Bedrohung besonders wirkungsvoll zu gestalten, enthält der 3. Akt mit den zahlreichen Trink- und Tanzgesängen der feiernden Landleute eine biedermeierlich-fröhliche Atmosphäre, die jedoch trügerisch ist, da der Tod Emmys nicht mehr verhindert werden kann und der Vampyr seinen Verfolgern entwischt. Der kurze Trauergesang aller Anwesenden, die erschüttert vor der getöteten Braut stehen, bildet dann auch einen dramaturgisch eindringlichen Kontrast zum unmittelbar vorangegangenen ausgelassenen Trinkgelage.

Im 4. Akt wird es nun spannend - wird Edgar es schaffen, die drohende Hochzeit seiner geliebten Malwina so lange hinauszuzögern, bis die 24 Stunden verstrichen sind und er nicht mehr an den geleisteten Schwur gebunden ist? Die Zeit für Lord Ruthven, diese dritte Braut noch rechtzeitig auszusaugen, wird nämlich allmählich knapp…

Das Finale, dass diese Szenen schildert, ist Marschner wirklich ziemlich packend gelungen - und auch hier erinnert wieder einiges an das Finale des Freischütz (z. B. wenn der Vampyrmeister wie Samiel aus der Tiefe emporsteigt, um sein Opfer unter Donner und Blitz mit in die Hölle zu nehmen oder der abschließend gemeinschaftlich gesungene Lobpreis an die rettenden Himmelsmächte), wenngleich Marschner sich hier deutlich knapper fasst als Weber (und wieder einmal bei Weitem nicht so "knackige" Melodien findet wie dieser)…

Nachdem es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr ruhig um diese Oper geworden war, sorgte der Komponist (und Bewunderer Marschners) Hans Pfitzner (1869-1949) mit seiner revidierten Fassung aus dem Jahr 1924 dafür, dass sie zumindest zeitweise wieder ins Repertoire zurückfand.
Pfitzner kürzte hierfür einige Nummern (vor allem Ensembles), die sich zum Teil etwas langatmig gestalten, ohne dass sie die Handlung weiterbringen.
Außerdem fasste er die vier zu zwei Akten zusammen und platzierte die Ouvertüre als Überleitung zwischen erstem und zweitem Bild um. Die Wiederentdeckung des Vampyrs für die Opernbühne fiel passenderweise in die Zeit des deutschen Expressionismus, wo man sich erneut für Übernatürliches und Schauriges begeisterte - der auch heute noch bekannte Vampir-Stummfilmklassiker Nosferatu von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahr 1922 fällt zum Beispiel genau in diese Zeit…

So gesehen eigentlich eine gute Gelegenheit, auch einmal über eine Wiederentdeckung dieser Oper in der heutigen Zeit nachzudenken, die Voraussetzungen scheinen mir im Moment geradezu ideal zu sein!

Leider sieht es in puncto verfügbarer Aufnahmen dieser Oper im Moment ziemlich düster aus.

Ich habe eine Einspielung, die im August 1999 in Köln entstanden und beim Label CAPRICCIO erschienen ist und die unter anderem mit folgenden Mitwirkenden aufwarten kann:

Edgar Aubry: Jonas Kaufmann
Lord Ruthven: Franz Hawlata
Malwina: Regina Klepper
Janthe/ Emmy: Anke Hoffmann
George Dibdin: Thomas Dewald
Sir Humphrey: Markus Marquardt
WDR Rundfunkchor und - orchester Köln
Dirigent: Helmuth Froschauer


Leider enthält die Aufnahme keine Dialoge und einige Nummern (vor allem die Ensembles im 2. Akt) wurden leicht gekürzt - es könnte sich hierbei um die von Hans Pfitzner vorgenommenen Eingriffe handeln, wozu im Booklet leider nichts erwähnt wird.

Ansonsten ist der Klang der Aufnahme tadellos, die Damen überzeugen durch gute Gesangsleistungen, Franz Hawlata in der Titelrolle hat einen grimmig-fordernden Unterton in seinem markanten Bariton, was seiner Rolle ganz gut ansteht (aber manchmal auch etwas stört) und der damals noch völlig unbekannte Tenor Jonas Kaufmann brilliert als wirklich schönstimmiger und kraftvoller jugendlicher Held Edgar.

Auch Chor und Orchester können überzeugen (auch wenn ich mir an manchen Stellen doch noch etwas mehr Dramatik gewünscht hätte, statt "soliden" aber irgendwie recht "gezähmt" wirkenden Musizierens!), so dass diese doch recht neue Aufnahme eigentlich zu empfehlen wäre - allerdings bin ich nicht sicher, ob sie momentan noch auf dem Markt ist.
Aber das ändert sich ja sowieso bestimmt demnächst wieder - CAPRICCIO bringt zurzeit einige ältere Opernaufnahmen wieder in neuer Aufmachung heraus und hier könnte man jetzt ja mit dem zwischenzeitlich berühmt gewordenen Jonas Kaufmann in einer Hauptrolle werben!

Eine etwas sonderbare Produktion, die seit einigen Jahren schon auf dem Markt ist (und die ich vor einiger Zeit zu einem wahren "Ramschpreis" erstanden habe), stellt eine Aufnahme aus dem Januar 1980 dar, die in Italien entstanden ist:

Edgar Aubry: Josef Protschka
Lord Ruthven: Siegmund Nimsgern
Malwina: Carol Farley
Janthe: Galina Pisarenko
Emmy: Anastasia Tomaszewska Schepis
George Dibdin: Oslavio Di Credico
Sir Humphrey: Martin Engel
Orchestra Sinfonica e Coro della Radiotelevisione Italiana
Dirigent: Günter Neuhold


Abgesehen davon, dass ich die Klangqualität dieser Aufnahme nicht besonders gut finde (mein CD-Player produziert ein häufiges Knacken, so als ob er eine verkratzte LP abspielen würde), kämpfen einige Darsteller hörbar mit den Tücken der deutschen Sprache - der Chor ist überhaupt nicht zu verstehen, so undeutlich ist hier die Aussprache. Und das sind Faktoren, die mich schon ziemlich stören!

Siegmund Nimsgern als Vampyr klingt deutlich eleganter als Franz Hawlata und auch Josef Protschka als Edgar finde ich wirklich gut!

Auch diese Aufnahme verzichtet leider auf die Dialoge und auch hier wurden einige Kürzungen in der Partitur vorgenommen.

Ich bin nach wie vor überrascht, dass man eine bei uns fast nie aufgeführte Oper dann ausgerechnet in Italien produziert hat - hätte man das nicht hierzulande wesentlich einfacher haben können?
Im Übrigen habe ich den Eindruck, als hätte man bei den CD-Ausgaben des Vampyrs einen heimlichen Wettbewerb gestartet, wem es gelungen ist, das seltsamste Cover dafür zu entwerfen…

Mir ist noch eine Aufnahme unter der Leitung von Fritz Rieger mit Nikolaus Hillebrand und Arleen Augér (aus dem Jahr 1974) bekannt, hierzu kann ich aber nichts weiter sagen.

Ich finde, es wäre an der Zeit, sich sowohl auf der Bühne wie auch auf Tonträgern dieser nicht uninteressanten Vampiroper einmal in aller Sorgfalt anzunehmen - ich bin sicher, sie verfehlt ihre Wirkung nicht, wenn man die Gelegenheit nutzt, ihr mit guten Sängern, moderner Bühnentechnik und den entsprechenden Effekten neues Leben einzuhauchen! Immerhin hat man mit dieser Marschner-Oper die wirklich seltene Chance, mit der Figur des Lord Ruthven den ersten "richtigen" Vampir der Weltliteratur zu erleben - der Urvater für alle nachfolgenden Draculas, Nosferatus, Lestats, Krolocks und wie sie sonst noch alle heißen mögen.

Daher an dieser Stelle auch der Hinweis, dass es Marschners Vampyr derzeit immerhin in einer "kammermusikalischen Version" in der Hamburger Kammeroper zu erleben gibt, wie eine kurze Recherche aktuell ergeben hat. Wer da in der Gegend wohnt, möge sich das ruhig mal anschauen - es lohnt sich bestimmt!

Und dann gibt es noch eine gekürzte, "familienfreundliche" Version am Theater Lübeck. Leider auch wieder "nur" eine stark bearbeitete Fassung, aber immerhin doch schon mal etwas (bevor man die Oper gar nicht auf der Bühne erleben kann) - bezeichnend, dass sich aktuell der Norden als besonders opernvampirfreundlich hervortut... :-)

Abschließend wünsche ich allen damit ein schön gruseliges Halloween und schließe mit dem Text der von Emmy und dem Chor dargebotenen Romanze aus dem 3. Akt (meiner Lieblingsnummer aus dem Vampyr) - ein wirklich stimmungsvolles Stück, das mit fahlen, nervös zitternden Streicher- und Bläserklängen eine angenehme Schauerstimmung aufkommen lässt (und zweifellos Vorbild war z. B. für Wagners Senta-Ballade aus dem Holländer oder auch dem Lied vom verfluchten Jäger Herne aus Nicolais Lustigen Weibern von Windsor):

Sieh, Mutter, dort den bleichen Mann
Mit seelenlosem Blick.
Kind, sieh den bleichen Mann nicht an,
Sonst ist es bald um dich getan,
Weich schnell von ihm zurück!
Schon manches Mägdlein, jung und schön,
Tat ihm zu tief ins Auge sehn,
Musst' es mit bittern Qualen
Und seinem Blut bezahlen!
Denn still und heimlich sag' ich's dir:
Der bleiche Mann ist ein Vampyr!
Bewahr' uns Gott auf Erden,
Ihm jemals gleich zu werden.

Was, Mutter, tat der bleiche Mann?
Mir graust vor seinem Blick!
Kind, sieh den bleichen Mann nicht an,
Viel Böses hat er schon getan,
Drum traf ihn solch' Geschick!
Und ob er längst gestorben nun,
Kann er im Grabe doch nicht ruhn,
Er geht herum als bleiche,
Lebend'ge grause Leiche!
Denn still und heimlich sag' ich's dir:
Der bleiche Mann ist ein Vampyr!
Bewahr' uns Gott auf Erden,
Ihm jemals gleich zu werden.

Wie dauert mich der bleiche Mann,
Wie traurig ist sein Blick!
Kind, sieh den bleichen Mann nicht an,
Sonst ist es bald um dich getan,
Weich schnell von ihm zurück!
Er geht herum von Haus zu Haus,
Sucht sich die schönsten Bräute aus,
Zeigt eine sich gewogen,
So wird sie ausgesogen!
Denn still und heimlich sag' ich's dir:
Der bleiche Mann ist ein Vampyr!
Bewahr' uns Gott auf Erden,
Ihm jemals gleich zu werden.

Es lacht mich an der bleiche Mann
Und heitrer wird sein Blick.
Kind, siehst du ihn noch immer an?
Weh mir, es ist um dich getan,
Weich schnell von ihm zurück!
Sein erster Blick, mit Todesschmerz
Durchzuckte er dein frommes Herz,
Ach, lass dadurch dich warnen,
Sonst wird er dich umgarnen!
Denn still und heimlich sag' ich's dir:
Der bleiche Mann ist ein Vampyr!
Bewahr' uns Gott auf Erden,
Ihm jemals gleich zu werden.

Das Mägdlein folgt dem bleichen Mann,
Es lockte sie sein Blick;
Hört nicht der Mutter Warnen an,
Und bald war es um sie getan,
Nie kehrte sie zurück!
Ein Opfer ward sie seiner Lust,
Mit blut'ger Spur an Hals und Brust
Fand man den Leichnam wieder;
Sie fuhr zur Hölle nieder!
Nun geht sie selber, glaubt es mir,
Umher als grausiger Vampyr!
Bewahr' uns Gott auf Erden,
Ihr jemals gleich zu werden!


Lord Ruthven (kommt in einen großen Mantel gehüllt, langsam und unbemerkt während der letzten Takte von links hinten und tritt unter die Leute): Guten Abend, ihr schönen Kinder!

Die Mädchen fahren mit einem Ausruf des Schreckens auseinander

… jaja - das sind so klassische Bilder, die man bei dieser Szene automatisch vor Augen hat, die hätte man in einer deutschsprachigen Oper aus dem Jahr 1828 so gar nicht erwartet, oder?

Happy Halloween!!!

2 Kommentare:

  1. "Der Vampyr" an der Hamburger Kammeroper lohnt sich absolut. Das Haus ist ohnehin einen Besuch wert.

    AntwortenLöschen
  2. es gibt so viele -auch unbekannte - großartige Opern... bitte nicht dieses unsägliche, ungenießbare, Bauchschmerzen verursachende Machwerk!

    AntwortenLöschen