Sonntag, 31. März 2013

Musik zur Passionszeit (IV) - Bachs Markus-Passion (BWV 247): Musik unbekannt? (Teil 3)

Bachs Markus-Passion zum Dritten – ich glaube, man merkt, dass mich dieses Thema fasziniert…

Zum Abschluss der diesjährigen Passionszeit heute noch ein paar Bemerkungen zu verschiedenen Aufnahmen der Markus-Passion, mit denen ich mich etwas eingehender beschäftigt habe.

Zunächst eine relativ neue Aufnahme aus dem Jahr 1997 mit folgender Besetzung:

Christiane Oelze, Sopran
Rosemarie Lang, Alt
Peter Schreier, Tenor
Wolf Euba (Sprecher, Evangelist)
Favorit- und Capellchor Leipzig
Neues Bachisches Collegium Musicum Leipzig
Peter Schreier, Leitung

Die hier eingespielte Fassung der Markus-Passion ist die älteste und zugleich puristischste, nämlich die im Jahr 1964 von Diethard Hellmann erstellte Rekonstruktion, die zugleich auch die Grundlage für die meisten nachfolgenden Fassungen dieser Passionsmusik gebildet hat (meine Erläuterungen zu den Eigenarten dieser Version finden sich im zweiten Teil).

Da Hellmann keinerlei Eigenkompositionen oder Ergänzungen aus Fremdwerken zulässt, bzw. auf Übernahmen/ Parodien von Bach-Stücken verzichtet, deren Verwendungsmöglichkeit in der Markus-Passion auf noch theoretischeren Füßen stünde, als die von den Bachforschern Wilhelm Rust und Friedrich Smend "identifizierten" Stücke das eh schon tun, ist diese Version sicher die "kargste" - sie beinhaltet quasi lediglich den Kern dessen, was nach wie vor als einigermaßen gesichert zur Markus-Passion Johann Sebastian Bachs im Jahr 1731 gehört haben dürfte.

Daher wird der Evangelientext in der hier vorgestellten Aufnahme auch von einem Sprecher vorgetragen, die Choräle werden ohne Instrumentalbegleitung vom Chor a-cappella vorgetragen (was im Rahmen der ursprünglichen Aufführung dieser Passion sicher auch nicht so der Fall war - aber die Art der Original-Instrumentierung der Choräle ist eben auch nicht gesichert! Eigentlich fast schon ein Wunder, dass Hellmann sich überhaupt auf konkrete Choralsätze Bachs festgelegt hat...).

Die ursprünglich bei PHILIPS Classics erschienene Hochpreis-Version sah so aus:

Mittlerweile ist diese Einspielung jedoch erfreulicherweise auch in der Low-Budget-Reihe eloquence erschienen, jetzt allerdings unter dem Label der ebenfalls zum UNIVERSAL-Konzern gehörenden DECCA (warum auch immer?).

Der Chor in dieser Aufnahme klingt sehr gut - transparent, deutliche Artikulation. Peter Schreier wählt zügige Tempi und prägnant akzentuierte Rhythmen, was vor allem dem Eingangs- und Schlusschor sehr gut bekommt. Auch das Instrumentalensemble klingt nach einer angenehmen Mischung aus größtenteils modernem Instrumentarium und historisch informierter Interpretationsweise!

Wenn diese rekonstruierte Version denn nun tatsächlich der verschollenen Originalpartitur Bachs nahekommt, scheint dieser gerade für den Charakter des Eingangschors der Markus-Passion - quasi dem "Eintrittsportal" in seine Passionsmusik - eine ganz neue Aussage gefunden zu haben, die doch erheblich von dem hymnusartigen Charakter des Eingangschores der Johannes-Passion und dem wie ein endloser Zug Klagender am Hörer vorbeiziehenden Eröffnungssatz der Matthäus-Passion abweicht:
So klingt das "Geh, Jesu, geh zu deiner Pein!" rhythmisch sehr akzentuiert – der Satz erinnert mich spontan an einen Tanzsatz aus einer französischen Suite vom königlichen Hof in Versailles - und klingt eigentlich überhaupt nicht trauernd oder zerknirscht, sondern eher freudig-erwartungsvoll (aber nicht jubelnd!). Hier spielt wohl das "Ostergeschehen im Hinterkopf" schon eine Rolle!

Da in der Hellmann-Version die Arie “Angenehmes Mord-Geschrey“ mangels passender Vorlage unvertont blieb, erklingen in dieser Einspielung also auch nur fünf Arien (statt der sechs, die die vollständig erhaltene Textvorlage eigentlich enthält), davon auch eine mit Peter Schreier als Solist, den ich lange nicht mehr gehört habe, schon gar nicht in einer Aufnahme, die immerhin aus den späten 1990er Jahren stammt! Die meisten Aufnahmen mit ihm entstanden in den 1970er Jahren. So gesehen fand ich es interessant, ihn hier mal wieder zu hören. Seine Stimme scheint ein wenig nachgedunkelt zu sein, aber ansonsten klingt er routiniert und so angenehm anzuhören wie früher!

Am ungewohntesten in dieser Aufnahme sind sicherlich die gesprochenen Bibeltexte aus dem Markus-Evangelium, die hier der bekannte Rezitator Wolf Euba vorträgt (er ist seit Jahren vor allem beim Bayerischen Rundfunk tätig). Er trägt sehr eindrücklich den Text (weitgehend) in der alten Übersetzung Luthers vor, die ja auch die Textgrundlage für die verschollenen Rezitative des Evangelisten der Markus-Passion bildete.

Manko der dafür immerhin supergünstigen CDs der eloquence-Reihe sind allerdings die äußerst sparsam ausgestatteten "Booklets". Immerhin wird hier darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Markus-Passion um eine Rekonstruktion durch Diethard Hellmann handelt.

Die Trackliste stellt sich allerdings etwas missverständlich so dar:
1. Geh, Jesu, geh zu deiner Pein! (Chor)
2. Und nach zwei Tagen war Ostern (Rezitativ: Evangelist)
3. Mir hat die Welt trüglich gericht't (Choral)
4. Und am ersten Tag der süßen Brote (Rezitativ: Evangelist)
...
Wer immer diese Trackliste zusammengestellt hat, konnte sich anscheinend nicht vorstellen, dass es bei dieser Version der Markus-Passion eben keine Rezitative sondern halt „nur“ einen Erzähltext gibt.
Und wer immer nun unwissend diese CD abspielt und ins "Booklet" mit der Trackliste schaut, der wundert sich sicher sehr, was das mit diesem komischen Evangelisten denn soll, der die "ausgeschilderten" Rezitative nicht mal wie eigentlich üblich singen kann…
Wahrscheinlich muss man sogar dankbar sein, dass Herr Euba nicht auch noch mit dem evangelistenüblichen "Tenor"-Hinweis in der Besetzungsliste versehen wurde…


Dann gibt es eine Einspielung von BRILLIANT Classics - leider wie schon ihr Gegenstück mit der Aufnahme der Lukas-Passion beim selben Label ohne Angabe zum Aufnahmedatum, wobei ich auch hier einen Zeitpunkt Mitte der 1990er Jahre vermute.
Wie immer bei BRILLIANT Classics ist die Aufnahme sehr preisgünstig (und meines Wissens auch Teil der dort erschienenen Bach-Gesamteinspielung), zum anderen aber leider auch äußerst sparsam ausgestattet (zumindest die Version, die ich besitze) - 2 CDs plus Hülle und eine Track- und Besetzungsliste auf der Rückseite. Das war's - kein Booklet, nix ...
Allerdings ist diese Einspielung mehrfach mit anderen Covern aufgelegt worden – vielleicht ist eine dieser anderen Auflagen etwas besser ausgestattet gewesen?

Es musizieren:
Rogers Covey-Crump (Evangelist, Tenor)
Gordon Jones (Christusworte, Bariton)
Connor Burrowes (Knabensopran)
David James (Altus)
Paul Agnew (Tenor)
Teppo Tolonen (Bariton)
The Ring Ensemble of Finland
European Union Baroque Orchestra
Roy Goodman, Leitung

Laut CD-Hülle wurde die aus dem Jahr 1993 stammende Rekonstruktions-Version von Simon Heighes eingespielt, wie einem kleinen, aber immerhin vorhandenen Hinweis neben dem Werktitel zu entnehmen ist.
Aber irgendwas scheint da nicht ganz zu stimmen mit dieser Angabe (zu den Besonderheiten der Heighes-Version siehe auch hier den zweiten Teil) - ich konnte an manchen Stellen des Evangelistenberichts zwar die zu erwartenden Passagen aus der Markus-Passion von Reinhard Keiser heraushören, die in dieser Fassung in Ermangelung der originalen Bach-Noten Verwendung findet, aber an anderen Stellen erklangen auch wieder irgendwelche anderen Vertonungen - vor allem in einigen Turbae-Chören...
Außerdem beginnt die Keisersche Passionshandlung ja erst später (Ölberg-Szene), während bei Bach schon die vorhergehenden Geschehnisse vertont wurden.
Es stellt sich also die Frage, was für eine Musik in den Rezitativen ganz zu Beginn dieser Einspielung zu hören ist, die von Keiser kann es ja nicht sein.
Aus Bachs Weihnachtsoratorium wurden hier übrigens mindestens 2 Anleihen gemacht:
Die Hohenpriester stellen direkt zu Beginn "Ja nicht auf das Fest, auf das nicht ein Aufruhr werde!" fest und singen dabei allerliebst zur Melodie von "Lasset uns nun gehen gen Bethlehem" (so singen es die Hirten im WO in der 3. Kantate).
Und später in der Kreuzigungs-Szene wird das "Pfui, wie fein zerbrichst du den Tempel" auf die Weise der Weisen aus dem Morgenland gesungen (WO, 5. Kantate): "Wo ist der neugebor'ne König der Jüden?".
Irgendwie stört mich das schon sehr, wenn solch bekannte Stellen hier "zweckentfremdet" werden, die im Weihnachtsoratorium einen völlig anderen Charakter haben und zudem noch mehr als 3 Jahre nach der Markus-Passion von Bach komponiert wurden!
Außerdem hätte zumindest für das "Pfui!"-Chörchen eine Vorlage von Reinhard Keiser existiert - aber man scheint sich in dieser Aufnahme hinsichtlich der Vorlagen nach Belieben und wohl auch etwas willkürlich bedient zu haben...
Sollte dies alles wirklich so von Simon Heighes stammen, wie auf dem Cover angegeben??

Das Tempo der Einspielung ist deutlich langsamer als in der Schreier-Aufnahme (denn es werden dieselben 5 Arien und der Eingangs- und Schlusschor aus der allgemein als Grundlage geltenden Hellmann-Version verwendet, so dass zumindest hier ein Vergleich möglich ist) und die ganze Goodman-Aufnahme wirkt vom Klang her nicht so klar und deutlich wie die von Schreier.
Auch die Aussprache der allesamt nicht deutschsprachigen Solisten und des finnischen Chores wirkt (Unsicherheiten wegen der Sprachbarriere?) undeutlicher und auch irgendwie teilnahmsloser...
Die Besetzung der hohen Solo-Stimmen mit Knabensopran und Altus mag ja historisch korrekt sein, aber mich stört das gewaltig, zumal wenn es so klingt, wie in dieser Aufnahme:
Der Altus David James singt streckenweise (zumindest für meine Ohren) wie eine Parodie eines Altisten: Er heult und jault und seine Stimmfärbung finde ich nur schwer erträglich.
Und der Knabensopran ist (wie oft in solchen Besetzungen) irgendwie mit dem Ausdrucksgehalt seiner beiden Arien total überfordert.
Außerdem hat (nicht nur) er hörbare Schwierigkeiten mit dem deutschen Text. Ich bin nicht sicher, ob er wirklich weiß, was er da eigentlich singt.
Und da er seinen Text in den Arien ständig wiederholen muss, nervt es irgendwann, wenn er zum x-ten Mal "Errrr kommt, errr isss vorhanden" oder "Angenehmes Mordsgeschrei" von sich gibt.
Es mag ja sein, dass es bei Pilatus damals ein Mordsgeschrei gab, aber das ist ja wohl definitiv was anderes, als das im Arientext eigentlich gemeinte "Mord-Geschrei"...
Mein Fazit zu dieser Aufnahme also: Interessante Fassung der Markus-Passion (da man nicht zu 100% weiß, von wem sie nun eigentlich stammt) zu einem Spottpreis.
Aber das rächt sich eben durch die insgesamt etwas lieblose Interpretation (und das nicht vorhandene Booklet mit den hier eigentlich unentbehrlichen Erläuterungen). Schade!

Die derzeit neueste Aufnahme der Markus-Passion entstand im März 2009 in der Dresdener Frauenkirche und ist als Konzertmitschnitt bei Carus erschienen – hier dann auch zur Abwechslung mal mit ausführlichem Booklet, in dem sogar der komplette Text der Passion abgedruckt ist!

Aufgeführt wird hier wiederum die Fassung von Diethard Hellmann, also lediglich 5 Arien, Choräle a-cappella, Evangelistentext wird von einem Sprecher vorgetragen. Lediglich die Choralsätze, die im Rahmen der beim Carus-Verlag im Jahr 2001 erfolgten Neuedition der Hellmann-Rekonstruktion durch Andreas Glöckner aufgrund der neu hinzugezogenen Choralsammlung des Bach-Schülers Johann Ludwig Dietel nochmal neu überarbeitet wurden, stellen eine Ergänzung bzw. Abweichung zur ursprünglichen Hellmann-Version dar.

An dieser Einspielung wirken mit:
Dominique Horwitz (Sprecher, Evangelist)
Anja Zügner und Dorothea Wagner (Sopran)
Clare Wilkinson und Silvia Janak (Alt)
Ensemble amarcord
Kölner Akademie
Michael Alexander Willens, Leitung

Das sich aus fünf ehemaligen Thomanern zusammensetzende Ensemble amarcord stellt – zusammen mit den Solistinnen – den recht klein ausfallenden, dafür aber transparent und textdeutlich klingenden Chor in dieser Aufnahme; der erste Tenor Wolfram Lattke übernimmt aber auch die Solo-Arie zu Beginn des zweiten Teils der Passion.

Im Gegensatz zur Schreier-Einspielung wirken vor allem die orchesterbegleiteten Stücke nicht ganz so „knackig-frisch“ und akzentuiert, auch ist das gewählte Tempo etwas langsamer – mir gefällt die Interpretation Schreiers (gerade beim Eingangs- und Schlusschor) hier deutlich besser.

Mit Dominique Horwitz als Sprecher bin ich nicht so ganz glücklich – vor allem im ersten Teil scheint er seine Rolle als Evangelist noch nicht ganz gefunden zu haben, sein Vortragstonfall wirkt an einigen Stellen etwas merkwürdig, teilweise betont er den zugegeben etwas altertümlichen Luther-Text auch falsch. Erst im zweiten Teil findet er dann doch noch zu einer recht ansprechenden, dramatisch motivierten Erzählweise. Warum allerdings auch in dieser Einspielung sein Part im Booklet wiederum als Rezitativ deklariert wird, weiß ich beim besten Willen nicht…

Völlig außer Konkurrenz steht im Vergleich hierzu die eigenwillige Rekonstruktion der Markus-Passion des Niederländers Ton Koopman, der sich komplett von den bisher erfolgten Rekonstruktionsansätzen löste und seinen ganz eigenen Weg bei der Auswahl zu parodierender Stücke aus dem großen “Fundus“ des Bach-Oeuvre zur “Wiederherstellung“ der verlorenen Musik für dieses Werk ging – hierzu leider aber keine konkreten Hinweise im Booklet der im September 1999 entstandenen Einspielung macht, was ich wahnsinnig schade (und auch ein bisschen merkwürdig) finde...

Es musizieren:
Christoph Prégardien (Evangelist, Tenor)
Peter Kooy (Christusworte, Bass)
Sibylla Rubens (Sopran)
Bernhard Landauer (Altus)
Paul Agnew (Tenor)
Klaus Mertens (Bariton)
Boys of the Breda Sacrament Choir
The Amsterdam Baroque Orchestra & Choir
Ton Koopman, Leitung

Musikalisch gibt es an der Umsetzung dieser Version nichts auszusetzen – es musiziert ein routiniertes und klanglich überzeugendes Ensemble, allen voran Christoph Prégardien als Evangelist, aber auch der famose Klaus Mertens, den ich sehr gerne höre!

Eines muss man Ton Koopman lassen: Er hat Bachs Tonfall aufgrund seiner lebenslangen intensiven Beschäftigung mit dessen Musik so verinnerlicht, dass seine Vertonung der recht umfangreichen Evangelistenrezitative und der Turbae-Chöre (also der Äußerungen der Priester, Soldaten und Volksmenge) wirklich faszinierend authentisch klingen – wenn man es nicht wüsste, man würde meinen, dass hier „echte“ Barockmusik erklingt und nicht eine ausgesprochen gekonnte Nachschöpfung vom Ende des 20. Jahrhunderts!

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