Donnerstag, 28. März 2013

Musik zur Passionszeit (IV) - Bachs Markus-Passion (BWV 247): Musik unbekannt?

Im Gegensatz zur Lukas-Passion, die immerhin in einer vollständigen und sauberen Abschrift (von Johann Sebastian und seinem Sohn Carl Philipp Emanuel Bach höchstpersönlich angefertigt) vorliegt und für die „lediglich“ bislang nicht eindeutig geklärt werden konnte, wer sie eigentlich komponiert hat, liegt der Fall der Markus-Passion, die im Bach-Werke-Verzeichnis (BWV) die Nummer 247 erhalten hat, deutlich schwieriger:

Dass es mindestens eine Vertonung des Leipziger Thomaskantors Johann Sebastian Bach des Passionsberichts nach den Worten des Evangelisten Markus gegeben hat, ist unstrittig – das Problem hierbei ist allerdings, dass die Musik dieser Passion nicht (mehr) existiert…

So tragisch diese Tatsache ist, dass uns Bachs Original-Komposition der Markus-Passion aus dem Jahr 1731 nicht erhalten ist, so spannend finde ich es aber auch, dass sich anhand zahlreicher, immerhin in großen Teilen gut nachvollziehbarer Fakten zu den „Grundelementen“ dieser Passionsmusik kreativen Komponisten und Musikwissenschaftlern somit eine Möglichkeit bietet, sich auch einmal schöpferisch mit einem Bach-Werk auseinanderzusetzen!

Denn wo hat man schon einmal Gelegenheit zu solch einem kreativen Herumexperimentieren? Das ist ja schließlich auch eine Form der nach wie vor äußerst lebendigen Bach-Rezeption! Und immerhin eine, die sich zur Abwechslung mal nicht nur auf rein interpretatorischer Ebene abspielt.

Vergleichbar ist dies wohl am ehesten mit ähnlichen Stücken, die aus den unterschiedlichsten Gründen Fragmente geblieben sind, z. B. Mozarts Requiem oder seine c-moll-Messe. Auch hier wurden und werden ja immer wieder einmal Versuche unternommen, diese Werke möglichst "im Geiste Mozarts" zu vervollständigen...

Auch zur Markus-Passion gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von ganz unterschiedlichen Versuchen, dieses Werk in eine aufführbare Form zu bringen, also eine vollständige Passionsmusik erklingen zu lassen.

Weil mich solche Themen („unvollendete Werke und deren Rekonstruktionsversuche“) nun einmal ungemein reizen, möchte ich anlässlich diesjährigen Karwoche ein paar weitere Fakten zur Markus-Passion präsentieren:

Da im Zuge der Aufteilung des musikalischen Nachlasses von Johann Sebastian Bach (er starb im Jahr 1750) unter vier seiner Söhne und seiner Witwe Anna Magdalena wohl etliche Werke im Zuge später oft aus akuter Geldnot erfolgter Weiterverkäufe als unwiederbringlich verloren gelten müssen (obwohl man ja niemals nie sagen sollte!), lässt sich wohl mit einiger Sicherheit annehmen, dass auch die Partitur der Markus-Passion in diese Gruppe fällt – leider!

Aber immerhin ist eine nicht zu vernachlässigende Komponente hierbei erhalten geblieben: Das vollständige, vom Dichter Picander (das ist Christian Friedrich Henrici [1700-1764]) verfasste Textbuch dieser Paßions-Music nach dem Evangelisten Marco!
Der Text findet sich abgedruckt im 3. Teil der Gesamtausgabe der picanderschen Gedichte – mit dem Hinweis, dass selbiger am Char-Freytage 1731 aufgeführt worden sei.
Auch wenn im Text keine Angabe zum Komponisten gemacht wird, der für die Vertonung dieser erwähnten Aufführung verantwortlich war, besteht eigentlich kein Zweifel darüber, dass nur Bach dies gewesen sein kann, denn zu seinen Aufgaben als Thomaskantor gehörte nun einmal auch die Komposition der Passionsmusik, die am Karfreitag abwechselnd in der Leipziger Thomas- und der Nikolaikirche gegeben wurde.

Am Karfreitag, dem 23. März 1731, war turnusgemäß übrigens die Thomaskirche Schauplatz der Aufführung (die Matthäus-Passion war hier 1727 ebenfalls zum ersten Mal erklungen).
Der Text dieser später dann weltberühmten Matthäus-Passion befindet sich – nebenbei bemerkt – im 2. Teil der Picander-Werke abgedruckt (1729 erschienen) und auch hier wird kein Komponist genannt!
Bach hat schließlich zu dieser Zeit häufig mit Picander zusammengearbeitet und somit besteht eigentlich kein Zweifel, dass uns zumindest der Text seiner verschollenen Markus-Passion als Grundlage der Vertonung erhalten wurde – eine überaus wichtige Basis für die weitere Vorgehensweise sämtlicher Rekonstruktionsversuche!

Interessant für diese Rekonstruktionen ist natürlich zunächst ein Blick auf die Konzeption und den Umfang der Textdichtung:
Ein wesentlicher (und naturgemäß stets unveränderter) Bestandteil der Markus-Passion ist natürlich der entsprechende Evangelientext in der Übersetzung Martin Luthers. Picander steigt wie in der Matthäus-Passion zu einem relativ frühen Zeitpunkt in die Handlung ein: Die Salbung in Bethanien, die nach einer List zur Ergreifung Jesu suchenden Hohepriester und das letzte Abendmahl werden in den Passionsbericht einbezogen. Viele Passionsmusiken, darunter auch Bachs Johannes-Passion von 1724, beginnen ja erst mit der Schilderung der Ereignisse im Garten Gethsemane am Ölberg.

Die Markus-Passion besteht aus den üblichen 2 Teilen („Vor und nach der Predigt“), der zweite Teil beginnt wie die Matthäus-Passion mit dem Verhör Jesu vor dem Hohepriester Kaiphas.

Der entscheidende Unterschied der Konzeption der Markus-Passion im Gegensatz zur wenige Jahre zuvor entstandenen Matthäus-Passion besteht nun darin, dass die Markus-Passion deutlich weniger die biblische Handlung unterbrechende und kommentierende Arien enthält, nämlich „lediglich“ 6 Stück (und das sind noch weniger als in der Johannes-Passion!).

Hinzu kommt, dass die zahlreichen Arien in der weitaus größer konzipierten Matthäus-Passion fast ausnahmslos jeweils ein längeres Arioso vorangestellt erhalten – diese charakteristische „Formpaarung“ fehlt in der Anlage der Markus-Passion vollständig. Dafür wird die biblische Handlung jedoch wesentlich häufiger durch verschiedene Choralstrophen (insgesamt 16) unterbrochen, als dies in Matthäus- und Johannes-Passion der Fall ist.

Ich denke, man könnte also schon davon sprechen, dass Bach und Picander nach der gewaltigen Matthäus-Passion ganz bewusst eine ganz andere Konzeption für ihre neu zu schaffende Passionsmusik geplant haben, nach dem Motto: „Die Matthäus-Passion können wir sowieso nicht mehr übertreffen – üben wir uns diesmal etwas mehr in Selbstbeschränkung und Einfachheit!“
Wer weiß, vielleicht reagierten beide aber auch nur auf Kritik aus den Reihen der „Offiziellen“ aus dem Rat der Stadt Leipzig, denen die Matthäus-Passion zu weitschweifig und umfangreich gewesen war und die sich nun eine etwas zurückgenommenere und kleiner dimensionierte Passionsmusik erbaten?

Jedenfalls ist diese „bescheidenere“ Anlage der Markus-Passion ein Glücksfall für die Rekonstruktionsversuche heutiger Musikwissenschaftler: Müssen doch beispielsweise an größeren Stücken „nur“ die Noten für die erwähnten 6 Arien und den Eingangs- und Schlusschor ge- bzw. erfunden werden. Man stelle sich die weitaus größere Schwierigkeit des Unterfangens vor, wenn uns die Noten der Markus-Passion erhalten geblieben wären und man stattdessen jetzt versuchen würde, anhand des vorhandenen Picander-Textes die verschollenen Klänge der Matthäus-Passion zu rekonstruieren...!

Weiterhin hilfreich für Rekonstruktionsansätze ist die Tatsache, dass Bach in den 1730er-Jahren, in denen die Markus-Passion entstand, tatsächlich häufig zum „Recycling“ bereits komponierter (meist weltlicher) Stücke neigte (die Musikwissenschaft nennt dies das „Parodieverfahren“, aber ich mag den Begriff nicht so sehr, weil ich mit „Parodie“ irgendwie immer etwas Komisches assoziiere und das scheint mir im Zusammenhang mit einer Passionsmusik wenig hilfreich...).
Als wirtschaftlich denkender Mensch wollte Bach ungern etwas Gelungenes verkommen lassen (recht so!) und arbeitete so sehr ökonomisch – und durchaus zeitgemäß, denn im Barock machten dies fast alle Compositeurs mit Vorliebe so, wobei „Anleihen“ nicht nur bei älteren eigenen Werken erfolgten...

Und was nun etlichen erfolgreich „recycelten“ Stücken beispielweise im bachschen Oster-, dem Weihnachts- und dem Himmelfahrts-Oratorium recht sein sollte (entstanden 1725, 1734 und 1735) - oder auch in Bachs lateinischen Messvertonungen - könnte doch ohne Weiteres von ihm auch in der Markus-Passion so praktiziert worden sein – so hypothetisch erscheint mir diese Annahme nicht.

Die Annahme, dass die Original-Partitur der Markus-Passion offenbar von einem der Erben Johann Sebastians verkauft wurde, wird übrigens durch die Tatsache gestützt, dass in einem Verkaufskatalog von Breitkopf in Leipzig im Jahr 1764 eine (allerdings nur) 48 Seiten umfassende Partitur "Anonymo, Paßions-Cantate, secundum Marcum" angeboten wurde, die den Titel „Geh, Jesu, geh zu deiner Pein“ trägt (das ist der Beginn des Eingangschors der Picander-Dichtung der Markus-Passion).

Wenn man mal davon absieht, dass es sich bei den lediglich 48 Seiten eventuell nur um einen Teil der Partitur gehandelt haben dürfte (z. B. Bibelworte und Choräle), ist es zumindest nicht unwahrscheinlich, dass es sich hierbei tatsächlich um Bachs Passionsmusik gehandelt haben könnte – interessant wäre in diesem Zusammenhang herauszufinden, wie viele andere Komponisten außer Bach sich noch an der Vertonung der Passionsdichtung Picanders versucht haben.

Meines Wissens war aber Picanders Wirkungskreis als Dichter außerhalb Leipzigs nicht so bedeutend groß und welcher Komponist sollte zur damaligen Zeit eine Markus-Passion vertonen, wenn er nicht eine konkrete Aufführungsgelegenheit dafür gehabt hätte?

Es hätte sich dabei also mindestens um einen Kantor einer nicht unbedeutenden Stadt handeln müssen, in der man über genügend Kräfte verfügte, eine Passionsmusik auf die Beine zu stellen, die immerhin eine Besetzung mit Sopran, Alt, Tenor, Bass; 2 Traversflöten, 2 Oboen, Streicher, Viola da gamba und Basso continuo erforderte. Diese Besetzungsangaben sind nämlich ebenfalls in dem erwähnten Breitkopf-Katalog enthalten (und ein weiterer nützlicher Hinweis für Rekonstrukteure der heutigen Zeit!).

Leider, leider fehlt in diesem Katalog die Angabe eines Komponisten und das erstaunt schon. Konnte sich 1764 – also immerhin 33 Jahre nach der Uraufführung – kein Leipziger mehr an die gleichnamige Markus-Passion des langjährigen Thomaskantors Bach erinnern? Es wäre in diesem Verkaufskatalog doch sicher ein umsatzfördernder Hinweis gewesen, hätte man die angebotene Partitur (und wenn auch nur aus bloßen „Verdachtsgründen“) mit dem Komponisten-Namen des sicher noch vielen Leipzigern geläufigen Thomaskantors Bach schmücken können.

Es ist übrigens nicht bekannt, welchen Weg die derart feilgebotene Partitur genommen hat...

Verschollene, durch Zufall wiederentdeckte Partituren von Passionsmusiken Bachs haben – dies nur am Rande – natürlich auch schon die Phantasie von Autoren beflügelt, da gibt es z. B. einen ausgesprochen unterhaltsamen Kriminalroman, in dem sich alles um solch eine geheimnisvolle Partitur dreht.

Jedenfalls konnte bereits im 19. Jahrhundert der Musikwissenschaftler Wilhelm Rust (1822-92) durchaus plausibel auf mögliche Quellen aus dem Bach-Oeuvre verweisen, die Vorlage für in der Markus-Passion verwendete Parodien gewesen sein könnten. Dass Bach regelmäßig solche Verfahren anwendete, war damals schon bekannt.

Rust stellte vor allem in Bezug auf Metrum und Reimschema einiger Texte fest, dass Bach Musikstücke aus folgenden Kantaten für seine Markus-Passion entliehen und weiterverarbeitet haben könnte:

BWV 198 „Lass, Fürstin, lass noch einen Strahl“ (Trauerode)
BWV 244 a „Geh, Leopold, zu deiner Ruh“ (Trauermusik)


Die Arie „Falsche Welt, dein schmeichelnd Küssen“ der Markus-Passion glaubte er ebenfalls recht überzeugend als parodierte ursprüngliche Eingangs-Arie aus der Kantate BWV 54 "Widerstehe doch der Sünde" wiedererkannt zu haben.

Somit ließen sich insgesamt sowohl der Eingangs- wie auch der Schlusschor, sowie 4 von 6 Arien der Markus-Passion mehr oder weniger rekonstruieren. Zu beachten ist dabei allerdings, dass Bach beim „Parodieren“ älterer Stücke nie einfach nur die Texte austauschte und eventuell noch die Instrumentation veränderte - er verstand es auch meisterhaft, oft nur durch kleine, aber ungemein wirkungsvolle Änderungen, das ältere Musikmaterial perfekt an jedwede neuere Herausforderungen anzupassen.
Wer merkt z. B. dem Weihnachtsoratorium noch an, dass viele seiner Einzelsätze ursprünglich weltlichen (meist recht banalen) Kantaten entstammen?

Und gerade diese geniale Kunstfertigkeit Bachs erschwert natürlich die Arbeit der Rekonstrukteure von heute dann doch ungemein!

Die beiden Arien “Welt und Himmel, nehmt zu Ohren“ und “Angenehmes Mord-Geschrey“ sind demnach als einzige ohne erkennbare Parodievorlagen geblieben und wurden 1731 von Bach eventuell neu komponiert (was natürlich auch vorkam, er hat ja nicht ständig alles „recycelt“!).

Der Musikforscher Friedrich Smend (1893-1980) wiederum hat sich unter anderem um die „Wiederherstellung“ der zahlreichen Choräle, die in der Markus-Passion verwendet werden, sehr verdient gemacht. Glücklicherweise ist das von Bach hinterlassene „Repertoire“ an von ihm vierstimmig gesetzten Chorälen sehr umfangreich.
Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel hat allein aus dem ihm zur Verfügung stehenden Nachlass eine vierteilige (!) Sammlung von Chorälen zusammengestellt und herausgegeben.

Es gibt natürlich mehrere Möglichkeiten, hier zum Teil aus mehreren Fassungen ein und desselben Chorals zu wählen (und verschiedene Rekonstruktions-Fassungen wählen hier tatsächlich ganz unterschiedliche Versionen aus) – aber das ist im Vergleich zu den anderen Schwierigkeiten bei der „Wiederherstellung“ der Markus-Passion damit wohl der „luxuriöseste“ Part der gesamten Übung...

Der umfangreiche Evangelientext (inklusive der zahlreichen Turba-Chöre, also die Stellen, in denen im Bibeltext die Hohepriester oder die Volksmenge zu Wort kommen) ist hingegen wohl tatsächlich nicht mehr auffindbar und wird wohl auch schon 1731 von Bach komplett neu vertont worden sein (ähnlich wie dies beim ja ebenfalls recht „parodielastigen“ Weihnachtsoratorium von 1734 geschehen ist).
Das ist zweifellos der größte Verlust an der gesamten vertrackten Geschichte der Markus-Passion!
Auf Parodievorlagen kann man somit nicht zurückgreifen, weshalb bei allen Rekonstruktionsversuchen hier auch die einschneidendsten (damit aber auch interessantesten) Lösungen gefunden werden mussten.

Lediglich der Turba-Chor „Pfui dich, wie fein zerbrichst du den Tempel“ wird in einigen „Neufassungen“ der Markus-Passion mit der Melodie des Chors „Wo ist der neugebor‘ne König der Jüden“ aus dem Weihnachtsoratorium unterlegt, wobei mir der deutlich friedlichere Charakter dieses Chorsatzes (immerhin tragen ihn die Weisen aus dem Morgenland vor!) nicht sonderlich gut zu dem hier eigentlich erforderlichen aggressiven Charakter zu passen scheint, den die erregte Volksmenge, die Jesus derart schmäht, an den Tag legen müsste!
Außerdem ist das Weihnachtsoratorium dreieinhalb Jahre nach der Markus-Passion entstanden – damit ist die Theorie einer „Entleihung“ des Chores aus diesem Oratorium eh nicht zu halten - so gesehen müsste es dann ja eigentlich eher umgekehrt gewesen sein!

Soweit also zur nicht uninteressanten Ausgangslage – auf diesem (in seiner Bestimmung mehr oder weniger gesicherten) Material aufbauend, sind dann im Lauf der letzten knapp 50 Jahre doch erstaunlich zahlreiche Versuche unternommen worden, die verlorene Markus-Passion von Johann Sebastian Bach irgendwie zu neuem Leben zu erwecken.

Damit es nicht zu umfangreich wird - mehr hierzu dann beim nächsten Mal!

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