Freitag, 29. März 2013

Musik zur Passionszeit (IV) - Bachs Markus-Passion (BWV 247): Musik unbekannt? (Teil 2)

Jetzt also noch ein paar Informationen zu den ganz unterschiedlichen Versuchen, die in den vergangenen 50 Jahren unternommen wurden, die bis dato lediglich theoretisch existente Markus-Passion von Johann Sebastian Bach zu rekonstruieren und wieder zum Erklingen zu bringen:

Im März 2003 erschien in der leider nicht mehr erscheinenden Chormusikzeitschrift Cantate ein zweiteiliger Artikel mit dem hübschen Titel “Gesichter eines oratorischen Phantoms“, für den der Autor Alexander Reischert sich die wirklich beachtenswerte Mühe gemacht hat, alle bis dato unternommenen Versuche einer Rekonstruktion der Markus-Passion aufzulisten - er kommt dabei immerhin auf die stolze Anzahl von 16 Versionen!

Diese Aufzählung und vor allem die kurze Beschreibung der zum Teil recht unterschiedlichen Lösungsansätze möchte ich an dieser Stelle den interessierten Lesern nicht vorenthalten, eventuell kann der eine oder die andere ja mal vergleichen, welche dieser Versionen er oder sie daheim im CD-Schrank stehen hat (sofern sich eine Markus-Passion von Johann Sebastian Bach überhaupt im heimischen Plattenschrank finden lässt...):

Diethard Hellmann war demzufolge 1964 der Erste, der versuchte, die Markus-Passion für eine praktikable Aufführung einzurichten. Er verfuhr hierbei nach den Erkenntnissen, die vor allem die im 1. Teil bereits erwähnten Bachforscher Wilhelm Rust und Friedrich Smend schon herausgefunden hatten.
Es verblieben damit allerdings noch die Arien, für die bislang noch keine Parodievorlagen ermittelt werden konnten:
Die Arie “Welt und Himmel, nehmt zu Ohren“ parodierte Hellmann aus der Arie “Leit, o Gott, durch deine Liebe“, die aus der Trauungskantate BWV 120 a stammt.
Für die Arie “Angenehmes Mord-Geschrey“ fand jedoch auch er keine passende Vorlage – sie blieb wie der komplette Evangelientext unvertont. Hellmann verzichtet auf jegliche eigene Neukomposition und bietet damit nur ein „Grundgerüst“ auf der Basis der bis dahin gewonnenen musikwissenschaftlichen Erkenntnisse.
Um die Markus-Passion trotzdem aufführen zu können, empfiehlt er entweder das bloße Vorlesen des Evangeliumstextes oder das vollständige Weglassen desselben, wodurch die Markus-Passion dann allerdings eher den Charakter einer "normalen" Kantate (die ja in der Regel ebenfalls keine durchgehende Handlung besitzt) bekäme.

1974 wagte sich mit dem Ratzeburger Kirchenmusikdirektor Neithard Bethke der erste Komponist an eine Neuvertonung der Evangelistenworte. Er legte seiner Version der Markus-Passion die oben beschriebene Fassung von Hellmann zugrunde und vervollständigte einige Chöre und Arien aus Sätzen des Weihnachtsoratoriums.

1978 wiederum suchte Gustav Adolph Theill für seine Version sogar für die zu vertonenden Rezitative Parodievorlagen in Bachs Oeuvre und bediente sich dabei einiger Passagen der Kantate BWV 187 „Es wartet alles auf dich“ und vor allem bei der Matthäus-Passion – vor allem letzteres ist eine gut nachzuvollziehende Entscheidung, denn der Evangeliumstext von Markus und Matthäus weist gerade in der Passionsgeschichte etliche fast identische Passagen auf.
Durch dieses Verfahren konnte sich Theill somit auch auf größtenteils authentische Bach-Rezitativ-Kompositionen stützen. Die Arie “Welt und Himmel, nehmt zu Ohren“ unterlegt Theill im Gegensatz zu Hellmann jedoch mit der Musik des dritten Satzes der A-Dur-Messe BWV 234. Die Arie “Angenehmes Mord-Geschrey“ erhält bei ihm die Musik des 8. Satzes der Kantate BWV 204 “Ich bin in mir vergnügt“, dort heißt es im Original – thematisch vielleicht nicht ganz passend – “Himmlische Vergnügsamkeit“...


1978/ 79 vertonte auch der Herforder Kirchenmusiker (und ehemalige Thomaner) Johannes H. E. Koch die Rezitative selber und entschied sich hierbei jedoch gar nicht erst in irgendeine Konkurrenz zu Bach treten zu wollen: Er vertonte die Evangelistenworte in einem gemäßigt modernen Tonfall, reich an vielfältigen Harmonien, aber trotz aller Expressivität immer akribisch dem Sprachfluss des Evangelistentextes folgend. Diese Rezitative (und Turba-Chöre) werden nur von der Orgel – die Christusworte hingegen von zwei Gamben begleitet (quasi eine Hommage an die Matthäus-Passion).

Ich finde die Idee von hörbar modern klingenden Rezitativen an sich gar nicht schlecht – es gibt diesen Passagen gar nicht erst den Anschein einer barocken „Authentizität“ (die sie ja eh nicht haben können!) und verleiht einer Aufführung eine interessante künstlerisch-musikalische Erweiterung durch das ständige Hin und Her zwischen „Alt“ und „Neu“.

1981 schuf Volker Bräutigam (Professor an der Evangelischen Hochschule für Kirchenmusik in Halle/ Saale) eine noch „radikalere“ Version:
Die rekonstruierte Hellmann-Version der Markus-Passion ergänzte er mit einem Evangelienbericht, der auf einer Zwölftonreihe basiert und von Orgel und Schlaginstrumentarium begleitet wird (also hören würde ich diese Fassung schon mal gern – wie das wohl klingen mag??)...

Dieses „neutönende“ Ensemble soll während einer Aufführung auch räumlich getrennt von den übrigen Ausführenden stehen – der Chor hingegen als verbindende „Brücke“ zwischen den beiden Vertretern so unterschiedlicher Klangwelten. Das Ganze muss man sich demnach also als ein nicht nur musikalisch sondern auch räumlich durchdachtes Gesamtkunstwerk vorstellen.

1983 komponierten auch Tadeusz Maciejewski und Stefan Sutkowski die Rezitative der Markus-Passion neu und machten zugleich anscheinend sehr großzügige Anleihen sowohl bei der Matthäus- wie auch der Johannes-Passion und sogar in der eigentlich nicht als von Bach geltenden Lukas-Passion.

Einen ähnlichen Weg wählte 1984 der Organist Christoph Albrecht, der jedoch auf ein allzu großes (und wahllos erscheinendes) Zusammenstellen von Anleihen aus verschiedenen Werken zugunsten nur einer beliehenen Quelle verzichtete (was ich eigentlich auch konsequenter finde):
Die Markus-Passion vom Dresdener Kreuzkantor Gottfried August Homilius (1714-85) – ein Komponist, der ja erst in den letzten Jahren eine gewisse Renaissance erlebt hat. Der Vorteil: Wie alle anderen Komponisten einer Markus-Passion auch, verwendet Homilius (natürlich) Luthers Bibeltext – die Rezitative können somit „passgenau“ in die zu rekonstruierende Bach-Version übernommen werden. Albrecht kombiniert diese mit der schon mehrfach erwähnten Hellmann-Fassung.

1993 entschied sich der Freiburger Komponist Otfried Büsing für eine weitere interessante Variante: Er vertonte den Evangelistenbericht in einer modernen Bibelübersetzung (der von Walter Jens), weil zugegebenermaßen die zur Bach-Zeit noch verwandte Luther-Fassung doch einige Formulierungen enthält, die ohne Erläuterungen heute so nicht mehr problemlos verstanden werden. Im Gegensatz zu Bach (und der gängigen Praxis der damaligen Zeit) wird der Evangelist hier nicht von einem Tenor, sondern von einem Bariton gesungen, während die Christusworte ein Tenor übernimmt (um dessen Rolle als noch recht jungen Mann zum Zeitpunkt des Geschehens besser zu verdeutlichen).
Die Begleitung dieses Passionsberichtes übernimmt ein Kammerorchester.

Ebenfalls 1993 griff der britische Musikwissenschaftler Simon Heighes auf die Markus-Passion des in Hamburg tätigen Reinhard Keiser (1674-1739) zurück. Immerhin stammt von Bach höchstpersönlich nicht nur eine Abschrift dieser Passion, der Thomaskantor hat diese auch zu Karfreitag 1726 in der Leipziger Nikolaikirche (und wohl auch schon einige Jahre zuvor im Rahmen seiner Weimarer Tätigkeit) aufgeführt!
Eine nicht geringe Wertschätzung Bachs diesem seinem Kollegen gegenüber dürfte damit wohl erwiesen sein. Die Inspiration Bachs durch Keisers Komposition ging unter anderem soweit, dass Bach in seiner Matthäus-Passion auf dessen Idee zurückgriff, die Christusworte von einem Streichensemble und nicht vom „bloßen“ Continuo begleiten zu lassen!
So gesehen scheint Heighes’ Idee, für die Rekonstruktion der bachschen Markus-Passion auf eine Passion Keisers zurückzugreifen, naheliegender als die Wahl von Homilius’ Markus-Passion, die Christoph Albrecht 1984 getroffen hatte.

Konstantin Köppelmann (Kantor der Münchner Immanuelkirche) orientierte sich 1994 für seine Fassung an den Versionen von Gustav Adolph Theill und Diethard Hellmann. Allerdings rekonstruierte er die Arie “Welt und Himmel, nehmt zu Ohren“ auf der Grundlage einer Bass-Arie aus der Johannes-Passion (evtl. ist hier “Mein teurer Heiland, lass dich fragen“ gemeint? Ich habe hierzu leider keine weitere Information finden können).
Auch Köppelmann komponierte die fehlenden Rezitative neu - allerdings wieder im Bachstil.

Anlässlich der 75-Jahr-Feier seiner niederländischen Bachvereinigung wählte 1996 Jos van Veldhoven Teile der Markus-Passion des in Dresden tätigen Komponisten Marco Giuseppe Peranda (1625-75) aus, um sie mit den Fragmenten der Markus-Passion von Bach zu kombinieren. Der von Peranda vertonte Text ist – naturgemäß – mit dem Picanders weitgehend identisch (zumindest in den für die Rekonstruktion benötigten Evangelientexten). Interessanterweise ist in dieser Version nunmehr Bachs Musik plötzlich die „modernere“ – Perandas Musik ist ganz dem Stil des 17. Jahrhunderts verhaftet und obendrein durchweg a cappella gehalten. Somit können auch ungeübte Zuhörer jederzeit unterscheiden, wessen Musik gerade vorgetragen wird.
Auch in dieser Fassung kommt damit wieder das Stilelement „alte Musik“ in Kontrast zu „neuerer Musik“ zum Tragen, diesmal wie erwähnt allerdings originellerweise mit umgekehrten Vorzeichen.

1997 wählte der britische Literaturprofessor Austin Harvey Gomme eine ähnliche Lösung wie Simon Heighes es 4 Jahre zuvor getan hatte:

Er „borgte“ die Evangelistenpartie aus der Markus-Passion von Reinhard Keiser. Beide Versionen (also die von Heighes und Gomme) unterliegen allerdings der Problematik, dass Keisers Markus-Passion erst mit der Szene im Garten Gethsemane beginnt (wie viele Passionsmusiken dies tun) und nicht wie Picanders Passionstext bereits mit der Salbung in Bethanien und dem letzten Abendmahl. Somit musste hier das Bachfragment umgestellt und angepasst werden – betroffen sind immerhin eine Arie und drei Choräle, die Gomme entsprechend umplatzieren musste, um sie überhaupt aufführen zu können. Auch dies wiederum eine Notlösung.
Wenn ich das richtig verstanden habe, hat Simon Heighes demnach die in Keisers Passion (und der Version von Gomme) fehlenden Szenen zu Beginn der Handlung aus einer anderen Quelle ergänzt (wobei ich – wenn dies so war - leider wieder keine Informationen finden konnte, woher er die Musik borgte) oder diese sogar selber im Bach-Stil vertont.

Genauso pragmatisch verfuhr nämlich der Hamburger Kirchenmusikdirektor von St. Jacobi Rudolf Kelber im Jahr 1998/99: Er komponierte die fehlenden Szenen zu Beginn der Passion einfach selber und kombinierte ansonsten ebenfalls den restlichen Evangelienbericht aus der Markus-Passion von Reinhard Keiser mit dem Bachfragment. Außerdem integrierte er drei weitere Bach-Arien in seine Fassung der Markus-Passion. Bei seinem Hamburger Amtsvorgänger Telemann bediente er sich außerdem, indem er einige Turbae-Chöre Keisers durch Telemanns Vertonungen ersetzte (schließlich stammen auch von Telemann einige Passionsmusiken, darunter auch mehrere Fassungen einer Markus-Passion).

Im Bach-Jahr 2000 viel beachtet worden ist die Fassung, die Ton Koopman (und damit der bislang prominenteste „Rekonstrukteur“) 1999 erstellte: Er blendete quasi sämtliche bisher gewonnenen Erkenntnisse zu parodierten Stücken aus und begann quasi janz von vorn mit der Arbeit.

Dabei stellte er sich vor, ein Schüler Bachs zu sein, der im Kompositionsunterricht von diesem folgenden Auftrag erhält: “Hier ist ein Textbuch; vertone es und verwende dazu so viel wie möglich aus den Werken, die ich bis heute (1731) geschrieben habe. Was du nicht finden kannst, das komponiere selbst.“
Im Booklet zu seiner Einspielung der Markus-Passion schreibt Koopman, dass er vor allem in den Partituren der Kantaten auf die Suche ging und tatsächlich für einige Stücke gleich mehrere brauchbare Lösungen finden konnte. Für einige Chöre hätte er in der Johannes-Passion eventuell brauchbare Lösungen finden können, doch aus dieser wollte er sich nicht bedienen (was ich aufgrund der Bekanntheit dieses Werks auch gut finde!)
Koopman ist der Ansicht, dass die seit der Hellmann-Version immer wieder aus der Trauerode BWV 198 herangezogenen Stücke gar nicht so besonders gut zur Rekonstruktion der Markus-Passion geeignet sind – er erwähnt “hervorragende Lösungen, die die Verwendung der Trauerode überflüssig machen“. Das größte Manko des Booklets dieser Aufnahme ist es dann, sich konsequent darüber auszuschweigen, wo Koopman denn nun seine Anleihen stattdessen gemacht hat – sehr ärgerlich, wie ich finde! Warum daraus ein solches Geheimnis machen??
Bei der erforderlichen Neukomposition der Rezitative kommt Koopman immerhin seine immense Musizierpraxis zugute: Er kennt Bachs geistliche Musikwelt wohl so gut wie kaum ein anderer! Trotzdem war die (wie ich finde ausgesprochen gelungene) Neukomposition der Rezitative der Markus-Passion “à la Bach“ für ihn eine große Herausforderung, die den Thomaskantor in seiner Bewunderung noch weiter steigen ließ, wie er schreibt.

2001 fertigte der Schweizer Komponist Matthias Heep eine Fassung an, die wiederum mit dem bewussten Stilbruch „Alt gegen Neu“ operiert:
Er komponierte acht in sich geschlossene Sätze für Soli, Chor und modernes Orchester, die sich jeweils mit Abschnitten der rekonstruierten Markus-Passion abwechseln. Offensichtlich verzichtete Heep auf alle Choräle der Textvorlage und integrierte lediglich einen (im Originaltext nicht vorkommenden) Choral “Kyrie, Gott Vater“, den er ins Zentrum der gesamten Passion platziert.

Nach siebenjähriger Vorarbeit (in der das gesamte Oratorien- und Kantatenwerk Bachs studiert wurde) erlebte schließlich im Jahre 2003 die Fassung des italienischen Komponisten Guido Mancusi ihre Erstaufführung. Auch er komponierte die Rezitative im Bachstil neu (diese ganzen Neukompositionen müsste man mal miteinander vergleichen – das könnte sehr interessant werden!) und wählte einige andere Parodievorlagen als in älteren Rekonstruktions-Versionen der Markus-Passion.

Wie gesagt: Ich bin ziemlich beeindruckt von den so unterschiedlichen Herangehensweisen – es zeigt sich, wie sehr die Kreativität von so einem Fragment befördert werden kann! Sehr spannend und so gesehen ist es dann auch gar nicht mehr so schlimm, dass die Musik der Markus-Passion verloren gegangen ist, da man damit diese Möglichkeit erhalten hat, dass sich so viele Musiker und Komponisten kreativ-schöpferisch an diesem Werk „austoben“ können!

Auch für die Zukunft kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass noch weitere Rekonstruktionen der Markus-Passion auf ganz verschiedene Arten folgen werden. Ich bin gespannt!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen