In den Wochen vor Ostern höre ich gerne die verschiedensten Vertonungen der Passionsgeschichte (das passt jetzt einfach am besten, im Sommer oder im Herbst bin ich dafür einfach so gut wie nie in der Stimmung!) - und dabei muss man sich nicht nur auf die Barockzeit beschränken: Es gibt eine erstaunliche Vielfalt an Passionsmusiken aus den verschiedensten Epochen der Musikgeschichte und ich habe hier in den letzten Jahren schon einige wirklich schöne persönliche Entdeckungen für mich machen können.
In diesem Jahr lag mein Schwerpunkt auf Passions-Vertonungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ich habe mich etwas eingehender mit folgenden Werken beschäftigt:
Frank Martin (1890-1974)
Golgotha (1948)
Krzysztof Penderecki (geb. 1933)
Lukas-Passion (1966)
Sofia Gubaidulina (geb. 1931)
Johannes-Passion (2000)
Die ursprünglich in russischer Sprache im Bach-Jahr 2000 entstandene Johannes-Passion von Sofia Gubaidulina habe ich in einer deutschsprachigen Einspielung aus dem Jahr 2007 vorliegen.
Helmuth Rilling dirigiert seine Gächinger Kantorei sowie den Kammerchor der Musikhochschule Trossingen und das Rundfunksinfonieorchester Stuttgart des SWR (in Kombination zur Passion enthält die Doppel-CD passenderweise auch noch Gubaidulinas 2001 entstandenes Werk Johannes-Ostern, also den zweiten Teil ihrer kompositorischen Auseinandersetzung mit der biblischen Ostergeschichte nach Johannes).
Man merkt der gut 70-minütigen Johannes-Passion durchaus an, dass die Komponistin der russisch-orthodoxen Kirche angehört - vor allem die mehrfach eingesetzten, für mich irgendwie typisch russisch klingenden Glocken erinnern mich frappant an die Welt der Ostkirche, obwohl strenggenommen eine Passionskomposition (noch dazu mit Orchesterbegleitung) wie die hier erwähnte in der strengen russisch-orthodoxen Liturgie gar keinen Platz hat und das Werk - es ist im Rahmen einer modernen Hommage an J. S. Bach anlässlich seines 250. Todesjahres entstanden - somit von vornherein für den Konzertsaal bestimmt war.
Eine "klassische" Johannes-Passsion beginnt in der Regel mit der Gefangennahme im Garten Gethsemane, bei Gubaidulina setzt die Geschichte bereits mit der Fußwaschung ein und wird in leicht gekürzter Form in mehreren Blöcken zusammengezogen. Unterbrochen wird der Passionsbericht mehrfach durch recht ausführliche Passagen aus der Offenbarung des Johannes (von dem man meines Wissens annimmt, dass er mit dem Evangelisten Johannes identisch war) - ein Prinzip, dass Gubaidulina auch in ihrem ein Jahr später entstandenen Werk Johannes-Ostern weiterverfolgt.
Ich muss zugeben, dass mir diese Kopplung Passionsbericht - Offenbarung nicht so recht einleuchten will, theologisch gesehen hat die Schilderung der Leiden Christi doch eine ganz andere Bedeutung als die Ereignisse der Apokalypse, oder?
Naja - die Musik, die Sofia Gubaidulina für ihre Johannes-Passion komponiert hat, überzeugt mich persönlich nicht besonders, muss ich sagen.
Eine gewisse Gleichförmigkeit innerhalb der einzelnen Sätze finde ich etwas ermüdend, zumal der mit der Schilderung der Passionsgeschichte befasste Bass (in meiner Aufnahme singt Nicholas Isherwood die Partie) das Ganze in einem nervigen Singsang vorträgt, den man weder als Rezitativ noch als ariosen Gesang bezeichnen kann - das Ganze hat etwas von einem mehr oder weniger teilnahmslos in den eigenen Bart Hineinbrummeln, was auf mich vor allem eher unfreiwillig komisch wirkt und das kann ja eigentlich in so einem Werk nicht beabsichtigt sein…?!
Allerdings weiß man als Zuhörer bei zeitgenössischen Werken oft nicht, ob das Ganze wirklich so gedacht ist oder ob in diesem Fall vielleicht eher der Solist für die merkwürdige Wirkung des Vortrags verantwortlich ist - das ist wirklich schwierig einzuschätzen. Jedenfalls finde ich diese Passagen als Zuhörer eher schwer zu ertragen und doppelt bedauerlich finde ich die Tatsache, dass der Chor im Hintergrund zu diesem seltsamen Evangelistenbericht oft wirklich interessante Passagen zu singen hat (von denen man gern etwas mehr hören würde), die aber eben leider total im Hintergrund verbleiben, weil der Solist absoluten Vorrang hat und die ganze Aufmerksamkeit des Hörers beansprucht - sehr schade! Warum hätte man statt dieser Gleichzeitigkeit das Ganze nicht etwas entzerren und damit dem Chor nicht auch Gelegenheit geben können, seine Partie "störungsfrei" darzubieten?
Die Passagen mit den Schilderungen aus der Offenbarung des Johannes folgen (leider) demselben Prinzip der steten Wiederholung einer oder mehrerer ziemlich spröder melodischer Floskeln, so dass sich auch hier meine Begeisterung eher in Grenzen hielt.
Erst gegen Ende des Stücks ("Der Gang nach Golgatha"), wo Passions- und Offenbarungsbericht zunehmend parallel ablaufen und ineinander verschränkt werden, nimmt die Spannung deutlich zu - diese intensive Passage hat mich noch am meisten angesprochen.
Die 1966 in Münster uraufgeführte, etwa 75-minütige Lukas-Passion von Krzysztof Penderecki ist in den vergangenen 45 Jahren ein echter "Klassiker" der Neuen Musik geworden. Ich besitze eine für NAXOS im Jahr 2002 aufgenommene Einspielung - Antoni Wit dirigiert das Warschauer Nationale Philharmonische Orchester und den zugehörigen Chor.
Wie in der katholischen Kirchenmusik üblich, verwendet Penderecki eine lateinische Textgrundlage für seine Passion und zwar den entsprechenden Text des Evangelisten Lukas (allerdings unter Auslassung mehrerer Verse), ergänzt durch Verse aus dem Johannesevangelium, verschiedener Psalmen und der Klagelieder des Jeremia. Neben diesen biblischen Texten finden auch noch einige sonstige liturgische Texte Verwendung in dieser Lukas-Passion, so integrierte Penderecki z. B. sein bereits im Jahr 1962 entstandenes Stabat Mater in das größere Werk.
Anders als bei Bach ist der Evangelist, der die Passionsgeschichte vorträgt, bei Penderecki ein Sprecher, während alle anderen Beteiligten (Jesus, Petrus, etc.) von Gesangsstimmen verkörpert werden. Neben einigen kürzeren Solonummern übernimmt aber vor allem der Chor in dieser Lukas-Passion den gesanglichen Hauptpart - und Penderecki verlangt diesem hier wirklich einiges ab: Extrem knifflige A-Cappella-Stellen und harmonische Herausforderungen aber auch "sangesferne" Lautäußerungen wie Schreien und Lachen, mit denen die Geschehnisse der Passionsgeschichte eine zusätzliche, fast naturalistische Dimension erhalten, die sehr beklemmend wirkt und mit dazu beiträgt, dass das ganze Werk unter einer großen Spannung steht, die den Zuhörer nur schwer unbeeindruckt lässt.
Allerdings kann ich mir vorstellen, dass der Besuch einer Live-Aufführung dieser Lukas-Passion noch viel mitreißender wirken dürfte, als das bloße Anhören einer CD-Aufnahme (obwohl gerade der Warschauer Philharmonische Chor in der erwähnten NAXOS-Einspielung wirklich exzellent ist!).
Dieses Werk in einer ansprechenden Konzertatmosphäre (wo sich die Intensität der Musik aus meiner Erfahrung heraus viel unmittelbarer von den Ausführenden auf die Zuhörer überträgt) erleben zu können, muss wirklich überwältigend sein - schon die bloße Wirkung aus der "Klangkonserve" hinterlässt ja bereits einen großen Eindruck; ich werde mal zusehen, dass ich möglichst bald einmal ein Konzert mit der Lukas-Passion von Penderecki besuche - das möchte ich mir nicht entgehen lassen!
Beeindruckend an diesem Werk finde ich vor allem die Tatsache, dass Penderecki nicht zu Gunsten einer möglichen besseren Akzeptanz beim Publikum auf irgendwelche der modernen kompositorischen Stilmittel verzichtet, sondern von Zwölftontechnik über Cluster, Vierteltöne, etc. eigentlich nichts auslässt, was zur Entstehungszeit der Lukas-Passion zum "guten Ton" zeitgenössischer Komponisten gehörte.
Irgendwie gelingt es ihm aber - trotzdem oder gerade deswegen? - das Ganze zu einem ausgesprochen überzeugenden Werk voller Dramatik, Spannung und großer Emotion zusammenzufügen, das seitdem beim Publikum verdientermaßen eine große Akzeptanz erfährt, was man ja nun weiß Gott nicht von vielen zeitgenössischen Kompositionen behaupten kann!
Wie gesagt, zum bloßen "Nur-Anhören" auf CD scheint mir persönlich Pendereckis Lukas-Passion weniger geeignet - hier ist für mein Empfinden die Live-Atmosphäre und der unmittelbare Klang im Rahmen einer Aufführung unbedingt erforderlich, um das Ganze zu seiner vollen Wirkung zu bringen, dennoch sagt mir diese Komposition deutlich mehr zu, als Gubaidulinas Johannes-Passion.
Ale eine echte Entdeckung hingegen, die ich auch als reines Hörerlebnis uneingeschränkt empfehlen kann, entpuppte sich das in den Jahren 1945 bis 1948 entstandene französischsprachige Passionsoratorium Golgotha des Schweizer Komponisten Frank Martin. Martin ist ein hierzulande leider ziemlich unbekannt gebliebener Komponist, dessen Musik zwar moderne Einflüsse seiner Zeit aufnimmt (u. a. aus der Zwölftonmusik), die aber immer im für die Zuhörerschaft gut fassbaren tonalen Rahmen verbleibt und deren Erfolg und Beliebtheit auch bei einem breiteren Publikum somit eigentlich nichts im Wege gestanden hätte. Keine Ahnung, warum das nicht in dem Maße geschehen ist, wie es diese ausgesprochen aparte und ausdrucksstarke Musik eigentlich verdient hätte!
Nun - es besteht ja immer Gelegenheit für eine Wiederentdeckung viel zu lange unbeachtet gebliebener Werke und gerade Golgotha ist ein wunderbarer Beitrag zur Gattung "Passionsmusik", die im 20. Jahrhundert entstanden ist!
Der französische Text dieses gut anderthalbstündigen Werks setzt sich aus Episoden der biblischen Passionsgeschichte (vom Einzug Jesu in Jerusalem bis zur Auferstehung in einer bunten Zusammenstellung aus entsprechenden Textstellen aller vier Evangelien) und thematisch passenden, das Geschehene reflektierende Passagen aus den Schriften des Kirchenlehrers Augustinus zusammen.
Ich habe mir die im Jahr 2009 aufgenommene, bei harmonia mundi im letzten Jahr erschienene Einspielung mit der Cappella Amsterdam, dem Estonian Philharmonic Chamber Choir und Estonian National Symphony Orchestra unter der Leitung von Daniel Reuss angehört und war wirklich sehr angetan von diesem, mir bislang nur vom Titel her bekannten Oratorium!
Die Rolle des die Passionsgeschichte vortragenden Evangelisten wird bei Martin nicht von einem, sondern abwechselnd von allen vier Solisten und auch dem Chor übernommen. Hinzu kommt die umfangreiche Jesus-Partie, die hier ganz traditionell von einem Bariton übernommen wird.
Da in das Oratorium Golgotha - abweichend zu den meisten anderen Passionsvertonungen - auch die Palmsonntagsgeschichte und eine der längeren abschließenden Reden Jesu, die er unmittelbar vor Beginn der eigentlichen Passionsgeschichte gehalten hat, integriert wurden, stellt diese Bariton-Partie somit den umfangreichsten Solistenbeitrag zu diesem ansonsten vom Chor dominierten Werk dar.
In der mir vorliegenden Aufnahme singt Mattijs van de Woerd den Jesus mit einem leichten, angenehm timbrierten, zugleich aber auch intensiv und ausdrucksstark klingenden Bariton. Aber auch an den übrigen Ausführenden dieser Einspielung gibt es nichts zu bemängeln!
Die Musik des gesamten Oratoriums bewegt sich durchweg in einer an französischer, meinem Empfinden nach aber auch an englischer Chormusik der Spätromantik (also der Zeit um das Jahr 1900 herum) orientierten Klangwelt, während die expressiven Solopassagen mich gelegentlich unter anderem an Opernmusik dieser Epoche (z. B. an den späten Puccini) erinnerten.
Der ganze, zwischen (gemäßigter) Dramatik und meditativem Innehalten hin- und herwechselnde Tonfall von Golgotha mit seiner Mischung aus klanglicher Tradition und (behutsamer) Moderne überzeugte mich jedenfalls spontan sehr und hat mich wirklich angesprochen.
Über solche persönlichen Neuentdeckungen freue ich mich natürlich immer wieder sehr!
Ich wünsche einen besinnlichen Karfreitag und schöne Osterfeiertage!
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