… und wieder einmal geht es um das Phänomen (oder den Zwang?), alles nur Erdenkliche in Listen packen zu müssen:
Ausgehend von den vor allem im angloamerikanischen Bereich offensichtlich seit einigen Jahren schon ausgesprochen beliebten Büchern mit diesen ominösen "100 (oder besser gleich 1000) Dingen", die man getan, besucht, bereist, gelesen, gegessen, angeschaut oder gehört haben soll, "bevor das Leben vorbei ist" ("... before you die", wie es im Original viel direkter und drastischer heißt!), hat es in den letzten Jahren auch hier bei uns eine Flut von Büchern mit derartigen Listen gegeben (oft waren es eh nur Übersetzungen aus dem Englischen), wobei man immer wieder erstaunt ist, zu welch noch so abwegig erscheinenden Themenbereichen es mittlerweile schon diese Aneinanderreihungen ach so unverzichtbarer Orte, Filme, Bücher, Getränke usw. gibt, ohne deren Kenntnis ein erfülltes Leben offenbar nicht möglich ist!
Zugegeben: Die meisten dieser Bücher interessieren mich absolut nicht (zumal ich z. B. von Architektur nicht allzu viel Ahnung habe, so dass ich eh nicht beurteilen könnte, wie gut oder repräsentativ die vorgestellte Auswahl ist in einem Buch mit dem Titel "1001 Gebäude, die Sie sehen sollten, bevor das Leben vorbei ist" - kein Scherz, diesen Band gibt es wirklich!) und ich verstehe das Ganze daher grundsätzlich eh nur als eine Art gutgemeinte (wenn oft auch etwas fragwürdige) Anregung, obwohl es ja Leute geben soll, die solche Listen voller Ernsthaftigkeit geradezu zwanghaft abarbeiten müssen - was ich schon ziemlich gruselig finde…
Aber immerhin mit einem Band habe ich mich dann doch etwas näher beschäftigt, nicht zuletzt, weil mich sehr interessiert hat, wie sich die Auswahl der magischen "1001 Positionen" der diesem Buch zugrunde liegenden Liste zusammensetzt (und wie das Ganze präsentiert wird): Es handelt sich um den 2008 auf deutsch erschienenen, immerhin stolze 960 Seiten starken Band
"1001 Klassik-Alben, die Sie hören sollten, bevor das Leben vorbei ist"
Die englischsprachige Ausgabe dieses Buchs erschien bereits im Jahr 2007; als Herausgeber fungiert Matthew Rye, der einem Team aus 35 Autoren und -rinnen vorsteht, die - welch Überraschung - fast durchgehend in Großbritannien und den USA publizistisch tätig sind.
Dies wirkt sich begreiflicherweise auch auf die getroffene Werkauswahl aus - es ist ein nicht zu übersehender Schwerpunkt auf britische und amerikanische Komponisten gelegt worden (zugegeben für mich als Fan "britischer Klassik" ein Pluspunkt für dieses Buch!), was dazu führt, dass man hier auf vorgestellte Werke von hierzulande oft nahezu unbekannten Komponisten wie z. B. Elliott Carter, William Walton, Frank Bridge, Arnold Bax, William Boyce, George Butterworth, Malcolm Arnold etc. trifft - also Komponisten, die man als deutscher Autor eines solchen Buches möglicherweise zwar kennen, nicht aber unbedingt alle in eine Liste mit den wichtigsten 1001 Klassik-Werken aufnehmen würde… Aber wie gesagt: Genau dieser Schwerpunkt gefällt mir persönlich besonders an diesem Buch!
So fehlen denn auch - aus deutscher Sicht - z. B. Komponisten wie die Bach-Söhne (lediglich Carl Philipp Emanuel ist hier mit einem Werk vertreten) oder Albert Lortzing, aber auch Musiker wie z. B. die Franzosen Auber und Adam.
Nun gut, die Zusammenstellung in diesem Buch ist natürlich eine individuelle, allerdings sollten meiner Meinung nach wichtige Werke wie z. B. Dvoraks Stabat mater und sein Requiem, Mendelssohns Oratorium Paulus oder die Oper Mignon von Ambroise Thomas in einem solchen Buch nicht fehlen - wohlgemerkt immer unter dem Aspekt, dass dafür andere Werke, von denen (bzw. ihren Komponisten) man zumindest als Leser aus dem deutschsprachigen Kulturraum noch nie etwas vernommen hat, sehr wohl hier zu finden sind…!
Aufgeteilt ist der im Übrigen reich mit CD-Covern und Interpretenfotos bebilderte Band in 7 Kapitel, die der ganzen Aufzählung eine chronologische Struktur geben sollen - es geht um die Entstehung bzw. Uraufführung der jeweils vorgestellten Werke:
Vor 1700/ 1700-60/ 1761-1800/ 1801-50/ 1851-1900/ 1901-50/ 1951 - Gegenwart
Ärgerlich finde ich die Titel- und Komponistenverzeichnisse in diesem Buch, auf die man meist angewiesen ist, um ein bestimmtes Werk finden zu können (denn wer weiß schon auf Anhieb, in welchem Jahr die Sinfonie X oder die Oper Y uraufgeführt wurden, um dann direkt das betreffende Jahr aufzuschlagen und somit ohne Umwege fündig zu werden?) - besagte Verzeichnisse sind, gelinde gesagt, schlampig und erschreckend unvollständig zusammengestellt worden!
Ginge man nach dem Titelverzeichnis, müsste man z. B. davon ausgehen, dass weder Mendelssohns Oratorium Elias, noch Schumanns Klavierkonzert, geschweige denn die Wagner-Opern Der fliegende Holländer, Lohengrin oder Tannhäuser, in diesem Buch enthalten sind (und das sind nur ein paar Beispiele, die einem bereits nach kurzer Suche auffallen)!
Natürlich gibt es zu diesen Werken entsprechende Artikel, diese findet man aber nur bei entsprechendem Blättern in den in Frage kommenden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, hier kann man zu einem schnelleren Ergebnis kommen, wenn man vorher in einem separaten Opern- oder Konzertführer nachschlägt, wann die Uraufführungen dieser Werke denn gewesen sind - aber das kann es ja wohl nicht sein, oder...?
Hier würde ich mir wünschen, dass der deutsche Verlag für eine 2. Auflage (wenn es dazu überhaupt kommen sollte - mich würde wirklich interessieren, wieviel Nachfrage gerade dieser Band beim Publikum geweckt hat!) hier noch mal eine gründliche Überarbeitung dieser und anderer Stellen in die Wege leitet - so was ist einfach nur ärgerlich für den Benutzer/ Leser und hätte mit ein wenig mehr Sorgfalt vermieden werden können!
Da dieses Buch ja nicht den Anspruch erhebt, ein Konzert- oder Opernführer zu sein, hätte ich mir gewünscht, dass es auch ein Verzeichnis der erwähnten Künstler, Orchester und Ensembles gegeben hätte - leider auch Fehlanzeige! Leider bestehen aber sämtliche Einzelartikel zu zwei Dritteln aus Werkbeschreibungen in knappster Form (dafür hatte ich mir dieses Buch eigentlich nicht zugelegt - sowas bekommt man in weitaus ausführlicherer Art und Weise in zahlreichen anderen Konzert- und Opernführern!) und nur jeweils am Ende stehen dann ein paar wenige Sätze zur als empfehlenswert erachteten Einspielung des zuvor vorgestellten Werks. Ich hätte mir gewünscht, mehr über die jeweiligen Aufnahmen zu erfahren und dafür gern auf weitere Infos zum Stück selber verzichtet - darum sollte es hier doch eigentlich gehen, oder habe ich das Konzept dieses Buchs falsch verstanden?
Auch über die Auswahl zu manchen hier empfohlenen "Referenzaufnahmen" muss man sich zuweilen wundern, obwohl dies ja nun wirklich Geschmackssache ist - aber da häufig neben der etwas ausführlicher präsentierten Aufnahme eines Werks zumindest noch zwei oder drei Alternativeinspielungen aufgelistet werden, fragt man sich doch, warum hier des Öfteren Aufnahmen, die sonst allerorten als absolute Referenzen genannt und gerühmt werden, nicht einmal erwähnt werden (z. B. bei Verdis Don Carlos die Giulini-Aufnahme von 1971)? Und warum werden bei Berlioz' Harold en Italie gleich drei Alternativ-Einspielungen mit William Primrose als Solisten genannt, die noch dazu alle aus den 1940er/ 50er Jahren stammen - gibt es wirklich keine anderen, vielleicht auch klanglich etwas moderneren und dennoch empfehlenswerten Aufnahmen dieses Werks?
Gut, ich will mich hier nicht in Einzelheiten verlieren - der etwas unglückliche Aufbau dieses Buchs krankt (neben der erwähnten schlampigen lexikalischen Aufbereitung der Suchverzeichnisse) vor allem daran, dass hier das Konzept des bezeichnenderweise bereits in mehreren Neuauflagen erschienenen Bandes "1001 Alben die Sie hören sollten, bevor das Leben vorbei ist" offenbar eins zu eins übernommen wurde: Was für eine pop- und rockmusikalische Plattensammlung perfekt passt (z. B. die chronologische Anordnung nach den Entstehungsjahren oder die zwangsläufige ausschließliche Ausrichtung nach den verschiedenen Bands und Interpreten), muss - wie sich zeigt - ja nicht unbedingt für ein ebenso aufgebautes Buch mit Klassik-Alben funktionieren!
Da hätte man sich meiner Meinung nach vielleicht doch etwas mehr Gedanken über den optimalen Aufbau dieses "Klassik-Ablegers" machen sollen, vielleicht wäre eine chronologische Anordnung nach den Aufnahmejahren auch bei den klassischen Werken eine ganz interessante Zeitreise durch die Geschichte der Tonaufnahme im 20. Jahrhundert geworden? Dies würde allerdings ein einwandfreies Komponisten- / Titelverzeichnis, in dem man dann auch wirklich alle (!) besprochenen Werke finden kann, voraussetzen (denn ohne dieses würde man sich dann wohl wirklich auf der Suche nach einem bestimmten Werk komplett verzetteln)…
Jedenfalls ist das vorliegende Ergebnis mit seinem Charakter als halber Konzert- und Opernführer, in dem empfohlene Einspielungen immer nur am Rande vorkommen, so nicht besonders überzeugend! Lautet der Buchtitel nicht "1001 Klassik-Alben"? Man hat aber eindeutig mehr den Eindruck, dass das Buch eigentlich passender mit "1001 Klassik-Werke" betitelt wäre...
Immerhin eignet sich der Band wunderbar zum stundenlangen Rumblättern, Bildergucken, Schmökern, Sich-Wundern (*zwinker*), etc. - und das ist ja immerhin auch schon etwas!
Wie gesagt: Für mich als Fan speziell britischer Komponisten bietet dieses Buch mit seiner Auswahl eine Reihe erfreulicher Erwähnungen und Entdeckungen, dennoch wage ich zu behaupten, dass der an klassischer Musik eher allgemein interessierte deutschsprachige Leser, der sich dieses Buch zulegt, vielleicht doch besser mit einer Empfehlung für Albert Lortzings Zar und Zimmermann statt eines Sinfonien-Bündels von William Boyce versehen worden wäre…
Aber zu meckern gibt es ja immer was…;-)
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen