Mittwoch, 19. Februar 2014

Neuerwerbung: Vinci - Alt-Arien (Filippo Mineccia)

Wer meine Beiträge hier im Blog regelmäßig liest, der weiß, dass ich ein großer Fan der Barockoper und (das gehört dann quasi zwangsläufig zusammen) der Gesangskunst der Countertenöre bin.

Und als ein solcher kann ich nur ausgesprochen zufrieden feststellen: Wir leben wirklich in paradiesischen Zeiten!
Was da auf diesem Gebiet in den letzten, sagen wir, 10 Jahren für eine rasante Entwicklung in puncto Gesangstechnik, Repertoire stattgefunden hat, verbunden mit einem nie für möglich gehaltenen Popularitätsschub dieser doch recht speziellen Gesangstechnik, hätte ich mir wirklich nie zu träumen gewagt!

Ich fand die männlichen Sänger, die sich mit ihren Falsettstimmen (und einer immer weiter verfeinerten Technik) peu à peu das Terrain (zurück)eroberten, das vor allem im 17. und 18. Jahrhundert den Kastraten gehörte, immer schon ausgesprochen faszinierend. Aber in den 1980er und 1990er Jahren (als meine “Karriere“ als Klassikfan im zarten Teenageralter begann) war zum einen das Angebot an solchen Sängern noch sehr überschaubar und zum anderen fehlte auch die Akzeptanz beim breiten Publikum:
Der zu Beginn der Neunziger vor allem in Deutschland populär gewordene Jochen Kowalski hatte gerade hier bei uns eine echte Pionierrolle inne (für die man ihm aus heutiger Sicht wirklich dankbar sein muss!), wurde aber – den Eindruck hatte ich seinerzeit jedenfalls häufiger – immer auch ein bisschen wie ein zirkusreifes, exotisches Kuriosum zum Bestaunen rumgereicht; der Künstler und Sänger Kowalski rangierte da irgendwie erst an zweiter Stelle…

Im Umfeld Kowalskis folgten dann Countertenöre wie Andreas Scholl, Brian Asawa oder David Daniels, die dann ebenfalls eine erfreuliche Popularität erreichten - das Feld weitete sich, blieb aber immer noch recht überschaubar.

Zu Beginn des neuen Jahrtausends traten dann jedoch innerhalb relativ kurzer Zeit eine ganze Reihe junger Countertenöre ins Rampenlicht, die über eine stupende Technik und fantastische Stimmen verfügten und zudem ein gutes Gespür für Repertoirefundstücke, Bühnenpräsenz und auch Marketinggespür mitbrachten (ohne das geht heutzutage ja nun wirklich gar nichts mehr!) – und damit ein immer größer werdendes Publikum gleichermaßen faszinierten und begeisterten.

In Kombination dazu konnte man zahlreiche junge Barockmusikensembles erleben, die – ausgerüstet mit sämtlichen, in einem Zeitraum von über 30 Jahren gewonnenen spieltechnischen und interpretatorischen Erkenntnissen der historisch informierten Aufführungspraxis – einen bis dato nie gekannten Schwung, Energie und Leidenschaft in die vorklassische Opernmusik hineinbrachten, so dass man als Zuhörer unwillkürlich mitgerissen wurde und jeder Gedanke an museale, verstaubte und experimentelle Archivwiederbelebungsversuche bei diesen Interpretationen gar nicht erst aufkam!
Das klang alles plötzlich so unmittelbar und vital, als wäre es soeben frisch komponiert worden. Plötzlich spürte man etwas von dem Erfolg und der Faszination dieser Musik (und natürlich der zugehörigen virtuosen Gesangskunst), die diese vor rund 300 Jahren in ganz Europa beim Publikum gehabt haben musste!

Und je größer der Erfolg beim (heutigen) Publikum wurde, desto mehr Bereitschaft entstand dann auch bei den Klassiklabels, in relativ kurzer Zeit immer wieder neue Aufnahmen mit Stars wie Max Emanuel Cencic oder Philippe Jaroussky zu produzieren – ganz zur Freude von Fans wie mir! Countertenöre als Verkaufsschlager krisengebeutelter Plattenlabels – wer hätte das jemals für möglich gehalten? :-)

Beflügelt durch diesen Erfolg ist in den letzten Jahren eine stets wachsende Zahl vielversprechender weiterer Countertenöre hinzugekommen (dieses Stimmfach hat merklich an Attraktivität für den Nachwuchs gewonnen und zum Glück längst den Exotenstatus abgelegt!), man könnte mittlerweile fast schon den Überblick verlieren, wenn man nur mal ein paar Namen wie Franco Fagioli, Valer Barna-Sabadus, Bejun Mehta, Florin Cezar Ouatu, Tim Mead oder Iestyn Davies Revue passieren lässt!
Für mich die Entdeckung des letzten Jahres war der Australier David Hansen, dem wohl ebenfalls eine weiterhin vielversprechend verlaufende internationale Karriere bevorstehen dürfte!

Es gibt also im Moment im Countertenorbereich eine Menge zu entdecken – das gesangstechnische Niveau (und damit der Anspruch des Publikums!) hat hier ganz neue Qualitäten erreicht, alles in allem also eine ausgesprochen erfreuliche Entwicklung!

Dass ich gerade hier immer Augen und Ohren auf der Suche nach interessanten Neuentdeckungen aufhalte, kann man sich vorstellen und so fiel mir kürzlich das im Juli 2013 eingespielte Solodebüt des jungen italienischen Countertenors Filippo Mineccia in die Hände (besonders viele italienische Countertenöre hatten wir bisher erstaunlicherweise auch noch nicht, oder?) – das Arien des viel zu früh verstorbenen Starkomponisten der neapolitanischen Opera seria, Leonardo Vinci (ca. 1690-1730), enthält.
Damit hat dieser Künstler das “Wettrennen“ gewonnen, als erster Countertenor eine CD herauszubringen, die ausschließlich Arien dieses Komponisten enthält…

Begleitet wird Mineccia hierbei vom italienischen Ensemble Stile Galante unter der Leitung von Stefano Aresi.
Ich spreche übrigens deshalb von “Wettrennen“, weil ich irgendwie den Eindruck habe, dass – wenn nicht die Künstler selbst, so doch zumindest deren Marketingstrategen – im Moment auf Teufel komm raus versuchen, mit unzähligen Konzeptalben in Erinnerung an große Kastraten oder Opernkomponisten der damaligen Zeit, die dank des bis heute oft sträflich vernachlässigten Repertoires zumindest zum Teil den werbewirksamen Zusatz “Weltersteinspielungen“ tragen dürfen, jeweils schneller zu sein als die Konkurrenz.
Nachdem man nun Gesangsstars wie Senesino, Carestini und – natürlich! - Farinelli bereits “abgearbeitet“ hat, sind jetzt die eher unbekannten Komponisten der damaligen Zeit dran, da die prominenteren Namen wie Georg Friedrich Händel oder Antonio Vivaldi bereits vielfach vertreten sind (man darf gespannt sein, welche Namen da in den nächsten Monaten noch alles aus den Archiven geholt werden!). Nun also – wie erwähnt -zunächst mal Leonardo Vinci, dessen Oper Artaserse im Jahr 2012 mit einer spektakulären “Countertenor-All-Star-Besetzung“ auf der Bühne, im Konzert und auf CD für Aufsehen sorgte!

Ich sage es gleich vorweg: Ich hatte mir mehr von der Darbietung verschiedener Vinci-Arien durch Filippo Mineccia versprochen!

Man ist als Hörer in den letzten Jahren sehr verwöhnt worden, das muss ich zugeben – der schon erwähnte Anspruch an Countertenöre ist definitiv um ein Vielfaches höher als noch vor 20 Jahren!
Wäre damals dieses Album erschienen, hätte es mir sicherlich deutlich mehr zugesagt, so gesehen ist meine hier vorgebrachte sehr subjektive Kritik natürlich das berühmte “Jammern auf hohem Niveau“, aber jetzt und hier war ich dann doch ziemlich enttäuscht, weil ich nach den ausgesprochen positiven Erfahrungen der letzten Jahre einfach mehr erwartet hatte:

Allein schon das Orchester scheint mir von der Tontechnik nicht wirklich optimal in Szene gesetzt worden zu sein: Es klingt beengt, der räumliche Eindruck fehlt fast ganz. Hinzu kommt eine gewisse Dominanz der tiefen Streicher (also der beiden Celli und des Kontrabasses), die das Klangbild meiner Meinung nach viel zu sehr dominieren. Kurz: Mit dem Orchesterklang bin ich bei dieser Aufnahme nicht wirklich glücklich.

Ja, und dann die Stimme Mineccias – ich persönlich finde Klang und Timbre nicht wirklich angenehm und empfinde sie darüber hinaus auch häufig als nicht besonders kräftig und tragfähig; sie wirkt stellenweise heiser und “flatterig“, ja kurzatmig. Dadurch fehlt ihr das gewisse Etwas, wie zum Beispiel eine Kantabilität, die auch mal eine ausdrucksvolle Gesangslinie mit lange ausgehaltenen Tönen ermöglicht oder die scheinbar mühelos wirkende, spielerische Virtuosität in Koloraturen und Verzierungen, die viele Countertenöre heute mitbringen.
Wenn Mineccia dann tatsächlich mal “aufdreht“, also dramatische Akzente in den leidenschaftlichen Arien (mit hörbarer Kraftanstrengung) zu setzen versucht, neigt er dazu, unverhältnismäßig scharf und etwas keifend zu klingen, was mich frappant an den Tonfall von Countertenören aus den 1970er oder 1980er Jahren erinnert (z. B. Paul Esswood, von dem ich einige Aufnahmen ziemlich anstrengend finde), also eine Zeit, in der diese besondere Gesangstechnik im Vergleich zu heute noch nicht wirklich wieder in all ihren Facetten neu entdeckt worden war und man offenbar - mangels Erfahrung und verbreiteter Gesangspraxis - leider hin und wieder einige Abstriche an das gesangstechnische Niveau machen musste.

Diese gerade beschriebenen Assoziationen habe ich in den letzten Jahren beim Anhören von Aufnahmen zahlreicher anderer “Newcomer“ eigentlich nie gehabt, es zeigt aber, dass die stimmtechnischen Herausforderungen für Countertenöre natürlich nach wie vor dieselben wie schon vor 30 oder 40 Jahren sind, man war als Zuhörer nur geneigt, dies in den letzten Jahren häufiger mal zu vergessen.
In ihren besten Momenten erinnert mich die Stimme Mineccias an den von mir sehr geschätzten amerikanischen Countertenor Derek Lee Ragin, der mit seiner charakteristischen (und vielleicht auch nicht von allen Zuhörern uneingeschränkt goutierten) Stimme vor allem in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern auch in mehreren Opernaufnahmen mitgewirkt hat, darunter in der von mir so geliebten Aufnahme der Oper Cleofide von Johann Adolf Hasse. Aber diese Assoziation stellt sich – leider – beim Anhören der neuen CD von Filippo Mineccia nicht permanent ein, was wirklich schade ist!

So bleibt bedauerlicherweise ein ausgesprochen zwiespältiger Eindruck von dieser CD zurück – irgendwie konnte ich die Musik Leonardo Vincis gar nicht richtig genießen, weil ich beim Anhören ständig über Mineccias Stimme “gestolpert“ bin, mit der ich einfach nicht warm geworden bin.
Schade um ein an sich hochinteressantes Repertoire eines Komponisten, von dem ich - spätestens seit meiner Begegnung mit dem Artaserse - sehr gerne mehr zu hören wünsche! Es ist zwar unfair dem Künstler gegenüber, aber ich habe mich schon gefragt, wie das Programm dieser Aufnahme hier mit einem anderen Countertenor anstelle von Filippo Mineccia wohl geklungen hätte…?!?

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