Montag, 31. Oktober 2011

Blutsauger im Opernhaus - "Der Vampyr" von Heinrich Marschner

Seit Monaten - ach, was sage ich - seit nun schon mindestens zwei Jahren stößt man kurz nach Betreten jeder x-beliebigen Buchhandlung auf einen (oder mehrere) gut gefüllte Tische, auf denen sich eine Unzahl von Romanen, Bildbänden und Sachbüchern zum Thema Vampire stapelt - ich hätte nie gedacht, dass es zu dem Thema - abgesehen von Graf Dracula - so viel Literatur geben würde! Vampire sind im Moment vollkommen im Trend, auch im Kino und in zahllosen Fernsehserien - wer hätte das noch vor drei oder vier Jahren gedacht, wo man mit dem klassischen Thema Vampire niemanden wirklich in Verzückung hätte versetzen können - und heute sind es gerade und vor allem die Teenies, die sich für diese beißfreudigen "Freunde der Nacht" ganz besonders begeistern können…!

Pünktlich zu Halloween möchte ich daher heute dieses Thema aufgreifen und einmal auf eine Oper aufmerksam machen, die ganz wunderbar in diesen Trend passen würde, wenn, ja wenn man die Chance hätte, diese Oper auch mal in irgendeinem unserer zahlreichen Opernhäuser erleben zu können!

Dabei wäre es doch sicher eine gute Gelegenheit für ein ambitioniertes Theater, hier mal auf einen Trendzug aufspringen zu können (da hat man als Opernhaus ja auch nicht immer wirklich Gelegenheit zu…) und vielleicht auch mal ein gezielt jüngeres Publikum anzulocken!

Die Rede ist von Heinrich Marschners am 29.03.1828 in Leipzig uraufgeführter Oper Der Vampyr (op. 42) - die ein typisches Stück jener Epoche der Schwarzen Romantik darstellt, in der sich die Leute für Geister-, Schauer- und Fluchgeschichten aller Art besonders begeisterten (ähnlich wie heutzutage) und nicht nur in England sogenannte Gothic novels entstanden, die diese Mode aufgriffen und durch immer neue Themen nährten und dem Ganzen neue Facetten des Gruselns und des Übernatürlichen hinzufügten.

Natürlich gab es auch zahlreiche Bühnenwerke, die sich der Thematik der Schwarzen Romantik verschrieben - Carl Maria von Webers 1821 uraufgeführte Oper Der Freischütz dürfte das wohl bekannteste Beispiel aus diesem Sektor sein und man kann sich gut vorstellen, warum sich gerade Mozarts Oper Don Giovanni aus dem Jahr 1787 mit ihrer Höllenfahrt des zügellosen Titelhelden am Ende just in diesen Jahren einer ganz besonderen Beliebtheit erfreute.

Heinrich Marschner (1795-1861) war 1824 Musikdirektor der Dresdner Oper geworden, und von 1827 bis 1831 musikalischer Leiter der Oper Leipzig, bevor er dann von 1831 bis 1859 Hofkapellmeister der Oper in Hannover wurde.
In der Leipziger Zeit entstand (7 Jahre nach Webers Freischütz) mit dem Vampyr sein erster großer Opernerfolg, der dann 1833 von seiner ebenfalls im Bereich des Übernatürlichen angesiedelten Oper Hans Heiling (König der Erdgeister) op. 80 noch überflügelt wurde.

Das Libretto zu dieser Vampiroper verfasste Wilhelm August Wohlbrück (1794-1848), der Schwager des Komponisten.
Das Textbuch basiert auf der 1816 entstandenen Erzählung "The Vampyre" von John Polidori (1795-1821) und diese Erzählung gilt als die erste bedeutende Vampirerzählung der Literatur, die den Vampirmythos aus dem Bereich der Volkssage herausholt und mit dem adligen, eleganten Gentleman Lord Ruthven den ersten "modernen" Vampir erschafft. Eine Figur, die nicht nur abstoßend, sondern auf faszinierende Weise auch attraktiv, anziehend und geradezu unwiderstehlich auf ihre Opfer wirkt - da schwingt unterschwellig bereits eine ganze Menge Erotik mit...!

Polidori war ein Freund von Mary Shelley (1797-1851), deren weltberühmter Roman "Frankenstein" im Jahr 1818 erschienen, aber ebenfalls bereits im Jahr 1816 als Grundidee entstanden war.
Interessant, dass diese beiden heute wohl berühmtesten Figuren des Gruselgenres (der wahnsinnige, Monster erschaffende Wissenschaftler sowie der unwiderstehliche und unerbittlich mordende Vampir) beide zur selben Zeit von zwei befreundeten Autoren kreiert wurden!
John Polidori war Gefährte und Leibarzt des berühmten Lord Byron (1788-1824), einer schillernden und exzentrischen Figur, die gut in die Epoche der Romantik passte und die Erzählung "The Vampyre" baut auf einem Fragment Byrons auf, dem Polidori Elemente für seine eigene Story entnahm.
Dies führte dann schon bei der Erstveröffentlichung der Erzählung im Jahr 1819 dazu, dass irrtümlich Lord Byron als Autor von "The Vampyre" bezeichnet wurde, was der Geschichte jedoch auch zu weit größerer Beachtung und Erfolg verhalf und wohl auch deshalb von John Polidori nicht reklamiert und richtiggestellt wurde.

Nach zahlreichen weiteren Vampirerzählungen (unter anderem von Edgar Allan Poe, Nikolai Gogol, Joseph Sheridan Le Fanu oder Leo Tolstoi) sorgte letztendlich Bram Stoker (1847-1912) mit seinem im Jahr 1897 erschienenen Welterfolg "Dracula" dafür, dass Polidoris Erzählung ziemlich in Vergessenheit geraten ist, obwohl gerade der uns allen bekannte Graf Dracula und alle seine Nachfolger ohne das Vorbild von Polidoris Gentleman-Vampir Lord Ruthven undenkbar wären.

Im Gegensatz zur literarischen Vorlage hat Marschners gut zweieinhalbstündige Oper in vier Akten übrigens ein Happyend.
Nach der Ouvertüre folgen 20 Musiknummern, die durch Dialoge miteinander verbunden sind.

Worum geht es?

Lord Ruthven ist zum Vampyr geworden, weil er einst meineidig geworden ist, also einen falschen Eid geleistet hat, bzw. weil er einen Eid gebrochen hatte. Diese schwere Sünde hat ihn zu einem Diener der Hölle gemacht und er muss seitdem ruhelos umherziehen und seinen Opfern, die ihm aufgrund seines fast schon als hypnotisch zu bezeichnenden Wesens als Vampyr willenlos verfallen sind, das Blut aussaugen. So hat er auch seine Familie, Frau und Kinder töten müssen, ohne sich diesem inneren, teuflischen Drang nach dem Blut anderer Menschen entziehen zu können - dies ist die Strafe, die er zu tragen hat. Anders als spätere Vampirfiguren ist er nicht darauf beschränkt, sich nur in der Nacht draußen umherbewegen zu können, jedoch besitzt das Mondlicht für ihn magische, heilende und auch verjüngende Fähigkeiten.

Er hat vor Beginn der Opernhandlung dem jungen, mittellosen Adligen Edgar Aubry das Leben gerettet und dieser steht seitdem in seiner Schuld.

Zu Beginn der Oper trifft der Zuschauer auf eine Szenerie, die er bereits aus der Wolfsschluchtszene aus Webers Freischütz bestens kennt:
Eine unheimliche, nächtliche Schlucht in fast unzugänglicher Wildnis, bevölkert von allerlei übernatürlichen Geistererscheinungen.
Marschners Oper - das muss man leider sagen - erweckt leider häufiger den Eindruck, dass sie eine Art "Freischütz-Reloaded" darstellt, so ähnlich sind sich manche Szenen, Personenkonstellationen und musikalische Nummern.

Vielleicht hat diese Tatsache dazu beigetragen dass sich der Vampyr im Vergleich zum Freischütz nie wirklich dauerhaft im Repertoire hat halten können - im Zweifel hat man halt das Original diesem Nachzügler vorgezogen (auch wenn das ungerecht erscheinen mag).

In diese gruselige Atmosphäre (Weber schafft es jedoch meiner Meinung nach eindeutig, in seiner Wolfsschlucht musikalisch eine wesentlich gelungenere Spukatmosphäre hervorzuzaubern) tritt nun Lord Ruthven, der Vampyr, der hier eine Verabredung mit dem Vampyrmeister hat.
Ihm wird ein weiteres Erdenjahr vergönnt, wenn er es schafft, innerhalb von 24 Stunden drei "zarte, reine Bräute" als Opfer darzubringen. Freischütz-Kennern wird diese Bedingung bekannt vorkommen - der finstere Jagdgeselle Kaspar muss Samiel, dem schwarzen Jäger (im Übrigen genau wie der Vampyrmeister eine reine Sprechrolle) ein ähnliches Opfer darbringen, um ein weiteres Jahr des Überlebens zu erhalten.

Lord Ruthven willigt jedenfalls ein (was bleibt ihm auch anderes übrig?), zumal er bereits Vorbereitungen für zumindest zwei Opfer getroffen hat:

Zuerst läuft ihm die schwärmerische Janthe, Tochter des noblen Sir Berkley, noch direkt vor Ort in die Arme. Sie hat sich Hals über Kopf in den sie unwiderstehlich anziehenden jungen Lord verliebt und das väterliche Schloss kopfüber in der Nacht vor ihrer Hochzeit verlassen, um mit dem heimlichen Geliebten durchzubrennen. Lord Ruthven fackelt nicht lange und nach einem kurzen Duett zieht er die junge Dame in die berüchtigte Vampyrhöhle, aus der schon kurze Zeit später die sie mittlerweile suchenden Diener und Landleute ihre verzweifelten Todesschreie vernehmen.

In seiner triumphierenden Arie (die dieser Szene vorausgeht) hat Ruthven mit finsterer Bariton-Stimmlage bereits seine "Visitenkarte" als schurkisch-skrupelloser, jedoch auch sehr anziehender Bösewicht (womit er Mozarts Don Giovanni als weiterem Vorbild ebenfalls recht nahekommt) abgegeben:
Ha! welche Lust, aus schönen Augen
An blühender Brust
Neues Leben
In wonnigem Beben
Mit einem Kusse in sich zu saugen!
Ha! welche Lust
In liebendem Kosen
Mit lüsternem Mut
Das süßeste Blut
Wie Saft der Rosen
Von purpurnen Lippen
Schmeichelnd zu nippen!
Und wenn der brennende Durst sich stillt,
Und wenn das Blut dem Herzen entquillt,
Und wenn sie stöhnen voll Entsetzen,
Haha! Welch Ergötzen! Welche Lust!
Mit neuem Mut
Durchglüht mich ihr Blut;
Ihr Todesbeben ist frisches Leben!
Armes Liebchen, bleich wie Schnee,
Tat dir wohl im Herzen weh!
Ach, einst fühlt' ich selbst die Schmerzen
Ihrer Angst im warmen Herzen,
Das der Himmel fühlend schuf.

Nachdem der Vampyr nun also sein erstes Opfer gefunden hat, wird er vom rasenden Vater Janthes, der sich ebenfalls auf der Suche nach der Verschwundenen eingefunden hat, gestellt und tödlich verwundet. Man lässt ihn sterbend zurück, als klar wird, dass man sich unmittelbar vor der verrufenen Vampyrhöhle befindet.

Nun tritt mit Edgar Aubry der jugendliche Held der Oper auf (ein Tenor natürlich, was sonst?) und erkennt in dem Sterbenden Lord Ruthven, der ihm einst das Leben rettete.
Ruthven nutzt diese Tatsache für seine Zwecke, in dem er Edgar schwören lässt, alles, was dieser von ihm weiß, bzw. noch erfahren oder auch nur erahnen wird, 24 Stunden lang zu verschweigen. Der edelmütige Edgar schwört dies feierlich, wenn auch mit Grausen (man hat ihm in London über seinen Lebensretter erzählt, dass dieser vermutlich ein Vampyr sei) und schleppt den verwundeten Ruthven auf eine Anhöhe, wo er ihn, mit dem Gesicht zum Mond liegend, schaudernd zurücklässt.
Die Strahlen des Mondlichts heilen den Vampyr nahezu augenblicklich und dieser erhebt sich und schreitet seinem nächsten Opfer entgegen. Marschner findet für diese Szene eine eindringliche Musik, die das Ganze untermalt!

Nun entwickelt sich im 2. Akt zunächst eine recht typische Opernhandlung:
Reiches Mädchen aus gutem Hause (Malwina) liebt mittellosen Jüngling (den uns bereits bekannten Edgar) - ihr gestrenger Herr Papa (Sir Humphrey, Lord von Davenaut), hat jedoch bereits einen anderen (wohlhabenden) Heiratskandidaten ausgeguckt: Den in der Nachbarschaft ansässigen Earl von Marsden, der es mit der Hochzeit auch noch ziemlich eilig hat, da er als Gesandter nach Madrid bestellt wurde und am selbigen Tag - nach vollzogener Trauung - noch abreisen muss. Natürlich verbirgt sich hinter diesem Earl niemand anderes als Lord Ruthven, der sich als der seit Jahren im Ausland umhergereiste Bruder des jüngst verstorbenen Earl (und damit jetzt als der Erbe seines Titels) ausgibt und sich auf dessen Stammsitz eingenistet hat.

Als Edgar erkennt, welchem Bräutigam seine geliebte Malwina da am selben Tage noch zugeführt werden soll, ist er entsetzt, lässt sich aber mehrfach von Ruthven unter dem Verweis auf den von ihm geleisteten Schwur davon abhalten, Malwina oder deren Vater zu warnen.

Malwina selbst ist natürlich auch nicht gerade begeistert, diesen unheimlichen bleichen Mann heiraten zu müssen, da sie auf ihren Edgar ebenfalls nicht verzichten will.
Ihr Vater zeigt sich natürlich stur und beharrt auf dem von ihm als Ehrenmann gegebenen Wort.
Malwina wird - eine weitere Parallele zum Freischütz - quasi als Ebenbild Agathes gezeichnet: Rein, standhaft, von zuversichtlichem Gottvertrauen gestärkt. Allein schon ihre große Auftrittsarie "Heiter lacht die goldne Frühlingssonne", die einen wirkungsvollen Gegensatz zur Düsternis der unmittelbar vorangegangenen Szene an der Vampyrhöhle darstellt, erinnert in ihrem Aufbau schon sehr an Agathes Szene "Wie nahte mir der Schlummer" aus dem 2. Akt des Freischütz.

Und auch Edgar Aubry lässt sich - zumindest in Teilen - gut mit Max aus dem Freischütz vergleichen - seine Arie "Wie ein schöner Frühlingsmorgen" mit ihrem Schwanken zwischen lyrischer Liebessehnsucht und dem Schrecken vor der dunklen Bedrohung korrespondiert mit Maxens ungleich berühmterer, im Aufbau ähnlicher Arie "Durch die Wälder, durch die Auen" - das Unglück will es, dass es Weber bei bisher jedem der aufgezeigten Beispiele deutlich besser gelingt, sowohl die jeweiligen Stimmungen prägnanter auszudrücken, wie auch die eingängigeren Melodien zu finden…!

In einer eindrucksvollen Szene schildert Lord Ruthven dem entsetzten Edgar, wie er selbst zum Vampyr wurde und wie Edgar dasselbe Schicksal droht, wenn er seinen Eid bricht und Malwina vor ihm warnt:

“Reue sühnet Meineid nicht;
Kehre du zurück mit Graus
In das kaum verlassne Haus.“
Nun gehst du, ein grausiger Leichnam, einher,
Bestimmt, dich vom Blute derer zu nähren,
Die dich am meisten lieben und ehren.
Im Innern trägst du verzehrende Glut,
Bei deinem Leben hast du's geschworen:
Was durch dich lebt, ist durch dich verloren;
Der Gattin, der Söhne, der Töchter Blut,
Es stillet zuerst deine scheußliche Wut,
Und vor ihrem Ende erkennen sie dich
Und fluchen dir und verfluchen sich!
Doch was dir auf Erden das Teuerste war,
Ein liebliches Mädchen mit lockigem Haar,
Schmiegt bittend die kleinen Handchen um dich.
Die Tränen ins helle Äuglein ihr treten.
Sie lallet: “Vater, verschone mich,
Ich will auf Erden für dich beten!“
Du siehst ihr ins unschuldig fromme Gesicht,
Du möchtest gern schonen und kannst es doch nicht!
Es reizt dich der Teufel, es treibt dich die Wut!
Du musst es saugen, das teure Blut!
So lebst du, bis du zur Holle fährst,
Der du auf ewig nun angehörst;
Selbst dort noch weichet vor deinem Blick
Die Schar der Verworfnen mit Schaudern zurück:
Denn gegen dich sind sie engelsrein,
Und der Verdammte bist du allein!

Diese, zwischen Arioso und orchesterbegleitetem Rezitativ hin und her changierende "Große Szene" weist schon voraus auf Richard Wagner, der sich von Marschners Opern durchaus inspirieren und beeinflussen ließ und in seinem 1843 uraufgeführten Fliegenden Holländer einige Elemente aus dem Vampyr wieder aufgreifen wird. Der Zuschauer erfährt hier durchaus Tragisches über den ruhelosen Vampyr und man fühlt schon fast Mitleid für ihn, was diese Figur wiederum zu einem ausgesprochen vielschichtigen Charakter macht (zumindest an dieser Stelle des Stücks), der sich nicht so einfach in die klassische Schublade des "nur" bösen Schurken einordnen lässt!

Im 3. Akt feiern die Landleute auf dem Schloss des Earl of Marsden die bevorstehende Hochzeit von Emmy Perth, der Tochter des Gutsverwalters des Earls, mit George Dibdin, der wiederum Bediensteter von Sir Humphrey ist.

In der naiven und hübschen jungen Emmy findet Lord Ruthven (hier natürlich in seiner Rolle als Earl of Marsden auftretend) dann sein zweites Opfer - das Mädchen kann sich dem Reiz des weltmännisch und galant auftretenden Edelmanns nicht entziehen und folgt ihm willenlos nach kurzer Verführung ins Verderben. Hier drängt sich nun natürlich der Vergleich mit Mozarts Don Giovanni auf - und zwar mit der Szene, wo dieser das Bauernmädchen Zerlina von ihrer Hochzeitsgesellschaft weglockt und verführt und diese Tat mit dem berühmten Duett "La ci darem la mano" einleitet.
Das entsprechende Verführungsduett im Vampyr ("Leise dort zur fernen Laube") durchzieht im Gegensatz zur lyrischen Stimmung bei Mozart jedoch ein konsequent bedrohlich-nervöser Unterton in den tiefen Orchesterstimmen, was die Spannung dieser Szene natürlich entsprechend steigert.

Um den Gegensatz zu dieser Bedrohung besonders wirkungsvoll zu gestalten, enthält der 3. Akt mit den zahlreichen Trink- und Tanzgesängen der feiernden Landleute eine biedermeierlich-fröhliche Atmosphäre, die jedoch trügerisch ist, da der Tod Emmys nicht mehr verhindert werden kann und der Vampyr seinen Verfolgern entwischt. Der kurze Trauergesang aller Anwesenden, die erschüttert vor der getöteten Braut stehen, bildet dann auch einen dramaturgisch eindringlichen Kontrast zum unmittelbar vorangegangenen ausgelassenen Trinkgelage.

Im 4. Akt wird es nun spannend - wird Edgar es schaffen, die drohende Hochzeit seiner geliebten Malwina so lange hinauszuzögern, bis die 24 Stunden verstrichen sind und er nicht mehr an den geleisteten Schwur gebunden ist? Die Zeit für Lord Ruthven, diese dritte Braut noch rechtzeitig auszusaugen, wird nämlich allmählich knapp…

Das Finale, dass diese Szenen schildert, ist Marschner wirklich ziemlich packend gelungen - und auch hier erinnert wieder einiges an das Finale des Freischütz (z. B. wenn der Vampyrmeister wie Samiel aus der Tiefe emporsteigt, um sein Opfer unter Donner und Blitz mit in die Hölle zu nehmen oder der abschließend gemeinschaftlich gesungene Lobpreis an die rettenden Himmelsmächte), wenngleich Marschner sich hier deutlich knapper fasst als Weber (und wieder einmal bei Weitem nicht so "knackige" Melodien findet wie dieser)…

Nachdem es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr ruhig um diese Oper geworden war, sorgte der Komponist (und Bewunderer Marschners) Hans Pfitzner (1869-1949) mit seiner revidierten Fassung aus dem Jahr 1924 dafür, dass sie zumindest zeitweise wieder ins Repertoire zurückfand.
Pfitzner kürzte hierfür einige Nummern (vor allem Ensembles), die sich zum Teil etwas langatmig gestalten, ohne dass sie die Handlung weiterbringen.
Außerdem fasste er die vier zu zwei Akten zusammen und platzierte die Ouvertüre als Überleitung zwischen erstem und zweitem Bild um. Die Wiederentdeckung des Vampyrs für die Opernbühne fiel passenderweise in die Zeit des deutschen Expressionismus, wo man sich erneut für Übernatürliches und Schauriges begeisterte - der auch heute noch bekannte Vampir-Stummfilmklassiker Nosferatu von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahr 1922 fällt zum Beispiel genau in diese Zeit…

So gesehen eigentlich eine gute Gelegenheit, auch einmal über eine Wiederentdeckung dieser Oper in der heutigen Zeit nachzudenken, die Voraussetzungen scheinen mir im Moment geradezu ideal zu sein!

Leider sieht es in puncto verfügbarer Aufnahmen dieser Oper im Moment ziemlich düster aus.

Ich habe eine Einspielung, die im August 1999 in Köln entstanden und beim Label CAPRICCIO erschienen ist und die unter anderem mit folgenden Mitwirkenden aufwarten kann:

Edgar Aubry: Jonas Kaufmann
Lord Ruthven: Franz Hawlata
Malwina: Regina Klepper
Janthe/ Emmy: Anke Hoffmann
George Dibdin: Thomas Dewald
Sir Humphrey: Markus Marquardt
WDR Rundfunkchor und - orchester Köln
Dirigent: Helmuth Froschauer


Leider enthält die Aufnahme keine Dialoge und einige Nummern (vor allem die Ensembles im 2. Akt) wurden leicht gekürzt - es könnte sich hierbei um die von Hans Pfitzner vorgenommenen Eingriffe handeln, wozu im Booklet leider nichts erwähnt wird.

Ansonsten ist der Klang der Aufnahme tadellos, die Damen überzeugen durch gute Gesangsleistungen, Franz Hawlata in der Titelrolle hat einen grimmig-fordernden Unterton in seinem markanten Bariton, was seiner Rolle ganz gut ansteht (aber manchmal auch etwas stört) und der damals noch völlig unbekannte Tenor Jonas Kaufmann brilliert als wirklich schönstimmiger und kraftvoller jugendlicher Held Edgar.

Auch Chor und Orchester können überzeugen (auch wenn ich mir an manchen Stellen doch noch etwas mehr Dramatik gewünscht hätte, statt "soliden" aber irgendwie recht "gezähmt" wirkenden Musizierens!), so dass diese doch recht neue Aufnahme eigentlich zu empfehlen wäre - allerdings bin ich nicht sicher, ob sie momentan noch auf dem Markt ist.
Aber das ändert sich ja sowieso bestimmt demnächst wieder - CAPRICCIO bringt zurzeit einige ältere Opernaufnahmen wieder in neuer Aufmachung heraus und hier könnte man jetzt ja mit dem zwischenzeitlich berühmt gewordenen Jonas Kaufmann in einer Hauptrolle werben!

Eine etwas sonderbare Produktion, die seit einigen Jahren schon auf dem Markt ist (und die ich vor einiger Zeit zu einem wahren "Ramschpreis" erstanden habe), stellt eine Aufnahme aus dem Januar 1980 dar, die in Italien entstanden ist:

Edgar Aubry: Josef Protschka
Lord Ruthven: Siegmund Nimsgern
Malwina: Carol Farley
Janthe: Galina Pisarenko
Emmy: Anastasia Tomaszewska Schepis
George Dibdin: Oslavio Di Credico
Sir Humphrey: Martin Engel
Orchestra Sinfonica e Coro della Radiotelevisione Italiana
Dirigent: Günter Neuhold


Abgesehen davon, dass ich die Klangqualität dieser Aufnahme nicht besonders gut finde (mein CD-Player produziert ein häufiges Knacken, so als ob er eine verkratzte LP abspielen würde), kämpfen einige Darsteller hörbar mit den Tücken der deutschen Sprache - der Chor ist überhaupt nicht zu verstehen, so undeutlich ist hier die Aussprache. Und das sind Faktoren, die mich schon ziemlich stören!

Siegmund Nimsgern als Vampyr klingt deutlich eleganter als Franz Hawlata und auch Josef Protschka als Edgar finde ich wirklich gut!

Auch diese Aufnahme verzichtet leider auf die Dialoge und auch hier wurden einige Kürzungen in der Partitur vorgenommen.

Ich bin nach wie vor überrascht, dass man eine bei uns fast nie aufgeführte Oper dann ausgerechnet in Italien produziert hat - hätte man das nicht hierzulande wesentlich einfacher haben können?
Im Übrigen habe ich den Eindruck, als hätte man bei den CD-Ausgaben des Vampyrs einen heimlichen Wettbewerb gestartet, wem es gelungen ist, das seltsamste Cover dafür zu entwerfen…

Mir ist noch eine Aufnahme unter der Leitung von Fritz Rieger mit Nikolaus Hillebrand und Arleen Augér (aus dem Jahr 1974) bekannt, hierzu kann ich aber nichts weiter sagen.

Ich finde, es wäre an der Zeit, sich sowohl auf der Bühne wie auch auf Tonträgern dieser nicht uninteressanten Vampiroper einmal in aller Sorgfalt anzunehmen - ich bin sicher, sie verfehlt ihre Wirkung nicht, wenn man die Gelegenheit nutzt, ihr mit guten Sängern, moderner Bühnentechnik und den entsprechenden Effekten neues Leben einzuhauchen! Immerhin hat man mit dieser Marschner-Oper die wirklich seltene Chance, mit der Figur des Lord Ruthven den ersten "richtigen" Vampir der Weltliteratur zu erleben - der Urvater für alle nachfolgenden Draculas, Nosferatus, Lestats, Krolocks und wie sie sonst noch alle heißen mögen.

Daher an dieser Stelle auch der Hinweis, dass es Marschners Vampyr derzeit immerhin in einer "kammermusikalischen Version" in der Hamburger Kammeroper zu erleben gibt, wie eine kurze Recherche aktuell ergeben hat. Wer da in der Gegend wohnt, möge sich das ruhig mal anschauen - es lohnt sich bestimmt!

Und dann gibt es noch eine gekürzte, "familienfreundliche" Version am Theater Lübeck. Leider auch wieder "nur" eine stark bearbeitete Fassung, aber immerhin doch schon mal etwas (bevor man die Oper gar nicht auf der Bühne erleben kann) - bezeichnend, dass sich aktuell der Norden als besonders opernvampirfreundlich hervortut... :-)

Abschließend wünsche ich allen damit ein schön gruseliges Halloween und schließe mit dem Text der von Emmy und dem Chor dargebotenen Romanze aus dem 3. Akt (meiner Lieblingsnummer aus dem Vampyr) - ein wirklich stimmungsvolles Stück, das mit fahlen, nervös zitternden Streicher- und Bläserklängen eine angenehme Schauerstimmung aufkommen lässt (und zweifellos Vorbild war z. B. für Wagners Senta-Ballade aus dem Holländer oder auch dem Lied vom verfluchten Jäger Herne aus Nicolais Lustigen Weibern von Windsor):

Sieh, Mutter, dort den bleichen Mann
Mit seelenlosem Blick.
Kind, sieh den bleichen Mann nicht an,
Sonst ist es bald um dich getan,
Weich schnell von ihm zurück!
Schon manches Mägdlein, jung und schön,
Tat ihm zu tief ins Auge sehn,
Musst' es mit bittern Qualen
Und seinem Blut bezahlen!
Denn still und heimlich sag' ich's dir:
Der bleiche Mann ist ein Vampyr!
Bewahr' uns Gott auf Erden,
Ihm jemals gleich zu werden.

Was, Mutter, tat der bleiche Mann?
Mir graust vor seinem Blick!
Kind, sieh den bleichen Mann nicht an,
Viel Böses hat er schon getan,
Drum traf ihn solch' Geschick!
Und ob er längst gestorben nun,
Kann er im Grabe doch nicht ruhn,
Er geht herum als bleiche,
Lebend'ge grause Leiche!
Denn still und heimlich sag' ich's dir:
Der bleiche Mann ist ein Vampyr!
Bewahr' uns Gott auf Erden,
Ihm jemals gleich zu werden.

Wie dauert mich der bleiche Mann,
Wie traurig ist sein Blick!
Kind, sieh den bleichen Mann nicht an,
Sonst ist es bald um dich getan,
Weich schnell von ihm zurück!
Er geht herum von Haus zu Haus,
Sucht sich die schönsten Bräute aus,
Zeigt eine sich gewogen,
So wird sie ausgesogen!
Denn still und heimlich sag' ich's dir:
Der bleiche Mann ist ein Vampyr!
Bewahr' uns Gott auf Erden,
Ihm jemals gleich zu werden.

Es lacht mich an der bleiche Mann
Und heitrer wird sein Blick.
Kind, siehst du ihn noch immer an?
Weh mir, es ist um dich getan,
Weich schnell von ihm zurück!
Sein erster Blick, mit Todesschmerz
Durchzuckte er dein frommes Herz,
Ach, lass dadurch dich warnen,
Sonst wird er dich umgarnen!
Denn still und heimlich sag' ich's dir:
Der bleiche Mann ist ein Vampyr!
Bewahr' uns Gott auf Erden,
Ihm jemals gleich zu werden.

Das Mägdlein folgt dem bleichen Mann,
Es lockte sie sein Blick;
Hört nicht der Mutter Warnen an,
Und bald war es um sie getan,
Nie kehrte sie zurück!
Ein Opfer ward sie seiner Lust,
Mit blut'ger Spur an Hals und Brust
Fand man den Leichnam wieder;
Sie fuhr zur Hölle nieder!
Nun geht sie selber, glaubt es mir,
Umher als grausiger Vampyr!
Bewahr' uns Gott auf Erden,
Ihr jemals gleich zu werden!


Lord Ruthven (kommt in einen großen Mantel gehüllt, langsam und unbemerkt während der letzten Takte von links hinten und tritt unter die Leute): Guten Abend, ihr schönen Kinder!

Die Mädchen fahren mit einem Ausruf des Schreckens auseinander

… jaja - das sind so klassische Bilder, die man bei dieser Szene automatisch vor Augen hat, die hätte man in einer deutschsprachigen Oper aus dem Jahr 1828 so gar nicht erwartet, oder?

Happy Halloween!!!

Donnerstag, 27. Oktober 2011

Ein Abend in der Oper - "La clemenza di Tito" in Köln

Köln ist infolge verheerender Zerstörungen während des Zweiten Weltkriegs leider nicht besonders reich gesegnet an viel interessanter historischer Bausubstanz (von einigen Kirchen einmal abgesehen), ein wilhelminischer Prunkbau wie das Oberlandesgericht am Reichenspergerplatz fällt daher bei uns in der Stadt dann schon besonders auf (das aus derselben Epoche stammende Kölner Opernhaus existiert leider nicht mehr…).

Beim Oberlandesgericht handelt es sich aber auch um ein wirklich beeindruckendes Gebäude mit einem repräsentativen Treppenhaus, das sich in der weitläufigen und hohen Eingangshalle befindet, die sich über insgesamt vier Etagen erstreckt. Beginnend mit einer großen Freitreppe teilt sich diese auf halber Höhe zwischen Erdgeschoss und erstem Stock ausgehend von einem großen Treppenabsatz in drei Richtungen auf - das Ganze ein Traum in Marmor!

Quelle: Oper Köln - Foto: Paul Leclaire

Wenn man bedenkt, dass im nahe bei Köln gelegenen Schloss Augustusburg schon seit Jahren Konzerte im üppig-barocken Treppenhaus stattfinden, lag die Idee ja eigentlich nahe, auch einmal diesen prachtvollen hohen Raum im genau vor 100 Jahren eröffneten OLG für eine Opernaufführung zu nutzen.

Und da die Kölner Oper seit über einem Jahr ja immer wieder mal in ungewöhnlichen Ausweichquartieren zu Gast ist, war es nun in dieser Saison soweit, dass dieser Gedanke in die Tat umgesetzt wurde:
Mozarts letzte Oper "La clemenza di Tito" wird aktuell in einer Inszenierung des Kölner Opernintendanten Uwe Eric Laufenberg im großen Treppenhaus des Kölner Oberlandesgericht aufgeführt - ich habe die ausverkaufte, gut zweieinhalbstündige Vorstellung am vergangenen Freitag (21.10.2011) besucht. Weitere Infos und Bilder siehe auch hier.

Die Ausführenden waren:

Tito: Rainer Trost
Sesto: Franziska Gottwald
Vitellia: Adina Aaron
Servilia: Anna Palimina
Annio: Adriana Bastidas Gamboa
Publio: Matias Tosi
Lentulus: Sam Gaddala Haitham
Soloklarinette: Ekkehardt Feldmann
Hammerklavier: Theresia Renelt
Chor und Statisterie der Oper Köln
Gürzenich-Orchester Köln
Dirigent: Konrad Junghänel


Ich bin extra früh am Aufführungsort gewesen, um mir die Örtlichkeit (ich kannte dieses Gebäude bisher lediglich von außen) in aller Ruhe vor Aufführungsbeginn noch etwas genauer ansehen zu können. Es war übrigens das erste Mal, dass ich im Vorfeld einer Kölner Opernaufführung vor dem Gebäude tatsächlich Leute stehen sah, die Zettel mit der Aufschrift "Karten gesucht" hochhielten - so was kannte ich bislang nur aus Berichten über Bayreuth, Berlin, Mailand oder London…! Ich stelle fest: Köln als Opernstandort macht sich ;-)

Und damit sind wir auch schon bei der Hauptschwierigkeit dieser Opernproduktion: Das doch arg begrenzte Platzangebot (alle angebotenen Aufführungstermine sind seit Wochen ausverkauft!) und die auf vielen Plätzen zum Teil ziemlich eingeschränkte Sicht aufs Geschehen.
Schätzungsweise an die 400 Zuschauer können im mehrstöckigen Treppenhaus des Oberlandesgerichts untergebracht werden (eine reine Schätzung meinerseits - das ganze auf alle 4 Etagen verteilte Platzangebot war nicht zu überblicken, so dass es ohne Weiteres sein kann, das mehr oder aber auch deutlich weniger Plätze zur Verfügung standen) - das eigentliche Kölner Opernhaus bietet Platz für mehr als dreimal so viele Zuschauer!
Bei meinem Rundgang vor Aufführungsbeginn durch die verschiedenen Stockwerke habe ich an mehreren Stellen probeweise auch mal Platz genommen und musste feststellen, dass die Zuschauer, die in den galerieartigen Umgängen rund um die große Eingangshalle Platz nehmen mussten, aufgrund der doch recht hohen und massiven steinernen Geländer kaum die Chance hatten, in den Raum hinabzublicken, wo sich das eigentliche Bühnengeschehen abspielen würde. Man musste wohl oder übel an die Brüstungen herantreten und die Aufführung dann so im Stehen erleben, wenn man auch sehen und nicht nur etwas von der Musik hören wollte…

Ich hatte mir noch einen Platz im "Parkett" (also im Erdgeschoss unmittelbar vor der Freitreppe) sichern können und selbst von hier aus nicht alles, was sich auf der "Bühne" abspielte, mitbekommen können. Während der Vorstellung konnte man dann tatsächlich viele Zuschauer der oberen Etagen beobachten, wie sie die Aufführung an den Brüstungen stehend verfolgten.
Nach der im Februar dieses Jahres in der Trinitatiskirche stattfindenden Aufführung von Brittens "Turn of the screw" war dies übrigens für mich nun schon das zweite Mal, dass man als Opernbesucher an der Garderobe freundlich darauf hingewiesen wurde, dass man wohl besser mal die Jacken und Mäntel anbehalten solle, da es während des längeren Sitzens in der großen, steinernen Halle doch eventuell etwas kühl werden könne - ein guter Hinweis, wie ich etwas später feststellen konnte.

Naja - für eine ungewöhnliche Opernproduktion ist man ja gerne bereit, auch mal gewisse Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Immerhin: So viele unterschiedliche Blickperspektiven auf das Bühnengeschehen wie beim aktuellen Kölner "Titus" hat man als Zuschauer auch selten.

Da man es in dieser Räumlichkeit offenbar beim besten Willen nicht schaffte, hier auch noch Projektionsflächen für die mittlerweile zumindest bei fremdsprachigen Opern ja zum Standard gehörenden mitlaufenden Übertitel einzurichten (die überdies auch noch von allen Zuschaueretagen aus gut einsehbar gewesen wären), verzichtete man gleich ganz auf irgendwelche technischen Experimente und legte stattdessen auf jeden Platz das komplette zweisprachige Libretto dieser Oper aus - kostenlos!
Dass man hier einen derartigen Aufwand betreibt, habe ich auch noch nicht erlebt! Ich war ja zunächst skeptisch, ob überhaupt irgendjemand den ganzen Text während der Vorstellung mitlesen würde, aber da es zum einen hell genug im Zuschauerraum blieb und wie erwähnt zum anderen ja nicht jeder Opernbesucher auch alle Aktionen auf der "Bühne" sehen konnte, erwies sich diese parallele Textlektüre für nicht wenige Zuschauer als durchaus sinnvolle Alternative…
Seltsam nur, dass man hier nicht nur den Text abgedruckt hatte, der dann tatsächlich auch gesungen wurde (jawohl - die Secco-Rezitative wurden wieder einmal kräftig gekürzt!), sondern zunächst den gesamten Text des Librettos, wobei dann wiederum alle Passagen, die in der Aufführung weggelassen wurden, dort wieder sorgfältig durchgestrichen waren - sehr bizarr!

Überhaupt war der technische Aufwand, der für diese Produktion, die sich ja nun buchstäblich auf mehreren Ebenen abspielte, betrieben wurde, recht groß: Es gab vier (allerdings nicht allzu große) Bildschirme, die man in den Ecken der Halle auf Höhe des 1. Stocks platziert hatte und mit deren Hilfe man zumindest ansatzweise einen Blick auf die sich im Treppenhaus bewegenden Akteure erspähen konnte, wenn einem mal wieder eine Säule oder ein Geländer den Blick verwehrte. Zusätzlich gab es weitere (deutlich kleinere) Monitore, die es wiederum den Solisten ermöglichten, den Dirigenten im Auge zu behalten - sicherlich eine höchst ungewohnte und hohe zusätzliche Konzentration erfordernde Situation für alle Beteiligten!

Das recht klein besetzte Gürzenich-Orchester hatte man übrigens in der Mitte der Galerie im zweiten Stock auf der Stirnseite des Treppenhauses platziert; Dirigent Konrad Junghänel (der sich in den letzten Jahren in der Kölner Oper zum gern gesehenen und regelmäßig eingesetzten Spezialisten für das Repertoire des 18. Jahrhunderts erwiesen hat!) stand hierbei direkt an der Brüstung und versuchte, das musikalische Geschehen auf den verschiedenen Etagen zusammenzuhalten, was - großes Lob an die Ausführenden - abgesehen von ein paar winzigen Ungenauigkeiten bei ein paar Einsätzen dann doch wirklich erstaunlich gut gelang!

Die Akustik in diesem großen Saal war natürlich mit einem gewissen Hall verbunden (der Situation in einer Kirche nicht unähnlich), der aber zum Glück nicht überhand nahm oder den Klang verschwimmen ließ, sondern eher noch zur feierlichen Atmosphäre in diesem imposanten Raum beitrug!

Das exzellent aufspielende Orchester war - trotz seiner ungewöhnlichen Positionierung weit über und hinter den Solisten - erfreulich gut zu hören und spielte schon die Ouvertüre mit einem runden, nicht überladenen aber auch nicht zu dünnen Gesamtklang, so dass für meinen Geschmack eine gewisse repräsentative und festliche "akustische Grundausstattung" des Ganzen schon mal gegeben war. Über meine persönlichen musikalischen Präferenzen bei dieser Oper habe ich kürzlich ja schon etwas geschrieben.

Konrad Junghänel gab ein meist nicht allzu rasches Tempo vor (was mir auch viel lieber war als zu große Hektik!), variierte aber auch innerhalb einzelner Nummern gern mal die Geschwindigkeit, um hier eine größere Flexibilität zu erzielen und ließ überdies den Sängerinnen und Sängern gern auch mal die Gelegenheit, eine kleinere vokale Verzierung anzubringen oder einen Eingang vor dem Wiedereinstieg in das Hauptthema einer Arie zu improvisieren - an diesen Stellen, wo dem Orchester dann jeweils für einen kurzen Moment Einhalt geboten wurde, konnte man besonders eindrucksvoll miterleben, wie gut die Kommunikation zwischen Dirigent und Solist auch trotz der räumlichen Distanz dennoch funktionierte!

Der Chor und vor allem die sechs Solisten waren durch die Bank wirklich exzellent:
Rainer Trost in der Titelrolle verfügt über einen wirklich schönen, schlanken und dennoch raumfüllenden Tenor.
Adina Aaron überzeugte nicht nur mit ihrer Bühnenpräsenz als launische Vitellia, die mit dem ihr hörigen Sesto nach Belieben umspringt, sondern konnte auch mit ihrer beeindruckenden Stimme den großen Raum (den sie scheinbar mühelos füllen konnte) in ihren Bann schlagen. Ich hätte mir vielleicht an einigen Stellen ein bisschen weniger Vibrato von ihr gewünscht (und hatte manchmal die Befürchtung, dass ihre Stimme vielleicht doch etwas zu mächtig für diese Mozart-Partie war), aber das ist jetzt wirklich Jammern auf höchstem Niveau - sie blieb ihrer Rolle nichts schuldig und wurde am Ende völlig zu Recht vom Publikum bejubelt.

Nicht nur mir sondern offensichtlich auch dem Rest der Zuhörerschaft gefiel jedoch Franziska Gottwald in der Rolle des Sesto am besten: Ein wundervoller Mezzosopran - kraftvoll, lyrisch, leuchtend - ihre großen Soloszenen waren für mich definitiv der Höhepunkt des ganzen Abends! Eine schöne Idee der Regie war es, den Klarinettisten, der einen Solopart in Sestos Arie "Parto, ma tu ben mio" zu bestreiten hat, mit "auf die Treppe" zu schicken, wo er mit der Sängerin wunderbar interagieren konnte und man sein virtuoses Spiel nicht nur aus den Orchesterreihen heraus sondern ganz prominent "an vorderster Front" mitbekam. Schade, dass dieser Effekt bei der Vitellia-Arie im zweiten Akt (wo ein Bassetthorn in ähnlicher Manier zum Einsatz kommt) nicht wiederholt wurde - das hätte man auch da sehr schön umsetzen können, finde ich.

Quelle: Oper Köln - Foto: Paul Leclaire

Die beiden Kölner Ensemblemitglieder Anna Palimina als zarte und mädchenhafte Servilia und Adriana Bastidas Gamboa in der Hosenrolle des Annio überzeugten ebenfalls sängerisch wie darstellerisch in diesen kleineren Rollen, genau wie Matias Tosi als Publio, dessen heller und markanter Bass gut ins Ohr ging.

Die vom Hammerklavier begleiteten Secco-Rezitative (ein Cembalo hätte ich schöner gefunden!) waren - wie erwähnt - leider recht gründlich zusammengekürzt worden, für Aufführungen ist so etwas aber wohl eher zu entschuldigen, als bei CD-Aufnahmen, wo man dies ja allerdings ebenfalls gerne praktiziert…! Um hier die räumliche Trennung zwischen diesem Tasteninstrument und den Sängern so gering wie möglich zu halten, hatte man das Hammerklavier denn auch nicht im Orchester sondern dezent an eine Seite des obersten Treppenabsatzes des mittleren Aufgangs platziert. Diese Lösung funktionierte - auch unter akustischen Aspekten, denn ein Hammerklavier ist kein sehr kräftiges Instrument - erfreulich gut!

Und die eigentliche Inszenierung?

Nun - in einer schon vorgegebenen Kulisse wie dieser muss man eigentlich nicht wirklich mehr etwas "inszenieren", der Regisseur Uwe Eric Laufenberg konnte sich hier ganz auf eine möglichst einfallsreiche Personenführung konzentrieren - und er nutzte den gesamten Raum inklusive der Zuschauerreihen im Erdgeschoss sowie der Galerien in den drei darüberliegenden Stockwerken, in dem er die Akteure immer wieder mal durch die geräumige Szenerie schickte und so dem auf allen Etagen verteilten Publikum auch hier die Möglichkeit gab, stets neue Blickperspektiven auf die Solisten werfen zu können.

Ansonsten war bühnenbildnerisch nicht viel zu tun - es wurde mal ein roter Teppich aus- und wieder zusammengerollt und vor den Auftritten des Titus trugen Statisten kleine, schmucke Bäumchen in Töpfen herbei (die mich frappant an die groteske Festszene aus der TV-Sendung zu Loriots 60. Geburtstag erinnerten!), die dekorativ auf den Stufen drapiert und alsbald ebenfalls wieder entfernt wurden. Völlig überflüssige Aktionen, wie ich finde - der Raum an sich genügte völlig als Kulisse!

Die Idee, gerade eine Oper wie diese, in der es permanent um Fragen wie Schuld, Verantwortung, Urteilsfindung und Gerechtigkeit geht, in einem Gerichtsgebäude aufzuführen, ist an sich ja schon naheliegend - gut, dass also auf allzuviel weiteres "Brimborium" verzichtet wurde.

Bei der Kostümfrage entschied man sich für eine nicht näher zu bestimmende Jetzt-Zeit:
Die Herren tragen Anzüge (das bezieht jetzt auch die Damen mit ein, die die beiden Hosenrollen verkörpern und die in ihren Kostümen als "junge Männer" gar kein schlechtes Bild abgaben), Titus in einigen Szenen zusätzlich auch noch einen bodenlangen Herrschermantel und am Ende gar einen goldenen Lorbeerkanz, Servilia wurde mit einem recht schlichten Kleidchen ausgestattet, während die Vitellia in einem eleganten und edlen Abendkleid eine beeindruckende, mondäne Erscheinung abgab.

Quelle: Oper Köln - Foto: Paul Leclaire

Statisten und Chor waren in unauffälligem, fast durchweg grauem Bürolook gekleidet und sollten wohl so etwas wie die Bedienten des kaiserlichen Palasts darstellen - schon während der Ouvertüre herrscht zeitweise geschäftiges Kommen und Gehen im Treppenhaus, wenn die "grauen Büromäuse", mit Papieren, Kladden und Aktenordnern bewaffnet, über die Stufen eilen.

Titus wird als ein eher unsicherer und von (Selbst-)Zweifeln geplagter Herrscher gezeichnet ("Macht macht einsam") - in der Szene mit Servilia, die er zwar zunächst als künftige Gattin erwählt hat, die ihm aber direkt ihre so freundliche wie bestimmte Zurückweisung zur Kenntnis gibt, wirkt er fast verzweifelt darüber, dass ihm auch diese Figur keine menschliche Nähe wird geben können - er mag sie am Ende gar nicht mehr loslassen, hat man den Eindruck und Servilia ist dieses Verhalten dann auch sichtlich unangenehm. Das war interessant gemacht.
Dass Titus am Ende, wenn er sein Gnadenurteil fällt und sich alles in Wohlgefallen auflöst, wie ein Gott von der obersten Etage (mit goldenem Lorbeer auf dem Kopf und in einer entsprechend strahlenden Beleuchtung dastehend) auf seine Untertanen herabsingt, lässt ihn nur einmal mehr unnahbar und über allem Irdischen stehend erscheinen (und wirkt auch wie ein kleiner ironischer Seitenhieb auf entsprechende barocke Herrscher- und Götterdarstellungen). Erstaunlich und erfreulich gleichermaßen, dass es akustisch selbst aus dieser Höhe keine Probleme gab, die Tenorstimme von Rainer Trost hier gut und deutlich zu verstehen!

Dass es am Hofe des Titus vielleicht nicht ganz so gnädig und gerecht zugehen mag, wie es zunächst nach außen den Anschein hat, zeigten vor allem einige kleine Regie-Einfälle, die vor allem auf der Idee basierten, den im Libretto lediglich erwähnten, aber nie persönlich in Erscheinung tretenden Mit-Verschwörer Lentulus ein paar Mal auftreten zu lassen: So wird er im zweiten Akt zum Beispiel - nachdem man hinter den Kulissen bereits seine Schreie gehört hat - nach offensichtlich erlittener Folter im Verlauf eines "peinlichen" Verhörs mit blutigen Striemen auf dem nackten Oberkörper einmal quer über die Szene getrieben.
Und auch die Figur des Publius, der ja in seiner Funktion als "Sicherheitschef" am kaiserlichen Hof ganz handfest für Recht und Ordnung zu sorgen hat, ist etwas zwiespältiger angelegt, als es aus dem Libretto eigentlich hervorgeht: Man hat permanent den Eindruck, dass er gern viel härter durchgreifen würde, als es ihm erlaubt wird und dass ihm am Ende der Gnadenspruch seines Herrn missfällt, wird auch ziemlich deutlich. Hier hätte jemand viel lieber Blut fließen sehen…

Etwas unnötig fand ich die Idee, Vitellia im Verlauf ihrer großen Soloszene kurz vor Schluss noch Gift zu sich nehmen zu lassen - mit dem Effekt, dass sie dann in der Schlusszene, an Titus' Seite stehend, tot zusammenbricht. Das war relativ überflüssig, da die Figur der Vitellia eigentlich eine solche dramatische Zuspitzung ihrer persönlichen Tragödie gar nicht nötig hat (und dies auch vom Textdichter gar nicht vorgesehen war!) - einen solchen operntypischen "Knalleffekt" hätte es nicht gebraucht und gehört irgendwie auch erst in die Epoche der Rossinis, Donizettis & Co. ins 19. Jahrhundert, wo man Opern gern mit derartigen "dramatischen Ausrufezeichen" abzuschließen pflegte!

Alles in allem also ein musikalisch sehr gelungener Opernabend in einer - gerade für Kölner Verhältnisse - wunderbar beeindruckenden architektonischen Kulisse! Abstriche muss man bei der Tatsache machen, dass die Räumlichkeiten nicht wirklich für ein großes Publikum geeignet sind und die wenigen, die Platz finden, zum Teil erhebliche Sichteinschränkungen hinnehmen müssen. Das hatte man im letzten Jahr bei der Krönung der Poppea dann doch besser gelöst.

Ach ja - auf die wie gewohnt gut geschriebene Kritik im OMM möchte ich an dieser Stelle auch noch verweisen!

Mittwoch, 26. Oktober 2011

Heute in der Lunch-Time-Orgel

Wolfgang Abendroth spielte heute drei Stücke aus Barock und Romantik für uns:

Johann Jacob Froberger (1616-67)
Fantasia sopra Ut.Re.Mi.Fa.Sol.La, FbWV 201

Johann Sebastian Bach (1685-1750)
Triosonate Nr. 1 Es-Dur BWV 525

Louis Vierne (1870-1937)
aus den "Pièces de fantaisie":
Carillon de Westminster


Die Triosonate und das "Carillon de Westminster" sind gerne gespielte Orgel-Klassiker, die auch heute wieder ihre Wirkung nicht verfehlten.
Die Froberger-Fantasie kannte ich noch gar nicht - aufgrund des frappierend einfachen Tonleiter-Themas war das ein wirklich originelles Stück!

Freitag, 21. Oktober 2011

Franz Liszt - 200. Geburtstag

Morgen ist es nun soweit:
Der schon im Vorfeld wohl am meisten beachtete runde Komponistengeburtstag des Jahres 2011 steht an - am 22. Oktober vor genau 200 Jahren wurde Franz Liszt in Raiding (heute Burgenland, Österreich) geboren (er starb 1886 in Bayreuth).

Es fällt mir schwer, etwas Persönliches über diese schillernde Künstlergestalt zu schreiben, da ich bis heute nicht wirklich den richtigen Zugang zu den meisten seiner Kompositionen finden konnte.

Das Problem liegt hierbei sicher auch darin begründet, dass ein großer Teil des doch recht umfangreichen Gesamtwerks dieses Komponisten bis heute ausgesprochen selten oder gar nicht gespielt und aufgeführt wird und man es schwer hat, sich einen persönlichen Pfad durch einen fast unüberschaubar erscheinenden Musikdschungel zu bahnen und sich dabei das herauszusuchen, was einem am ehesten zusagt.

Faszinierend an Liszt finde ich natürlich vor allem sein ereignisreiches Leben, das so reich an rauschenden Erfolgen, alle gesellschaftlichen Konventionen sprengenden leidenschaftlichen Affären und dramatischen Wendepunkten war, dass man damit ohne Probleme mehrere Filme füllen könnte (ich bin mir in dem Zusammenhang gar nicht sicher, ob es überhaupt schon mal erwähnenswerte Verfilmungen seiner Biographie gegeben hat)!

Entsprechend umfangreich sind immerhin die Bücher, die man über Liszt geschrieben hat; allein in diesem Jahr sind schon zahlreiche neue Titel erschienen, wobei es neben klassischen Biographien auch Bücher gibt, die sich speziell mit verschiedenen Abschnitten und Aspekten seines Lebens genauer befassen.

Keine Frage: Auch der heutigen Sensationspresse hätte Franz Liszt jede Menge skandalträchtigen Klatsch geliefert - gerade als die Massen begeisternder (und entsprechend leidenschaftlich verehrter) Klaviervirtuose kann man den gutaussehenden jungen Mann wohl tatsächlich als den ersten "Superstar" bezeichnen. Er liebte die großen Auftritte und verstand es, sich entsprechend in Szene zu setzen.
Diese Virtuosen-Attitüde hat sich der junge Liszt beim legendären "Teufelsgeiger" Niccolò Paganini (1782-1840) abgeguckt, der ihn sehr beeindruckte.
Anders als der eineinhalb Jahre ältere Frédéric Chopin, der große Auftritte zunehmend verabscheute und lieber in intimeren Kreisen im Rahmen eleganter Gesellschaften in Pariser Salons konzertierte, kann man Franz Liszt wohl als den Prototypen einer "Rampensau" bezeichnen - ich glaube, er brauchte zumindest zeitweise dieses Gefühl, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen und hier mit seiner Kunst glänzen zu können.

Während sich Chopin künstlerisch allein auf das Klavier konzentrierte, entwickelte sich Liszt nach mehreren Jahren reiner Pianistentätigkeit allmählich Schritt für Schritt weiter, offenbar weil er sich nicht nur auf ein Instrument beschränken wollte - er "eroberte" für sich die Orchester-, später auch die Chormusik und schuf auch hier zahlreiche, vielbeachtete, heute aber ebenfalls - von einigen wenigen Werken abgesehen - eher selten gespielten Werke.

In diesem Punkt gibt es die interessante Parallele zum ein Jahr älteren Robert Schumann (1810-56), der auch zunächst ausschließlich für das Klavier komponierte und sich ebenfalls erst nach einigen Jahren von hier aus auch die Welt der Orchester- und Kammermusik erschloss. Im Gegensatz zu Liszt ist Schumann aber dem "klassischen" Erbe treu geblieben und pflegte die verschiedensten, aus der Epoche der Wiener Klassik stammenden Gattungen, wie Sinfonie, Solokonzert, Streichquartett, etc.

Liszt hingegen war in diesem Punkt ein echter Visionär, der nicht viel auf althergebrachte Traditionen gab (und sich vom weiten Feld der Kammermusik gleich ganz fernhielt), wenn es galt, sich künstlerisch zu verwirklichen - ein Punkt, in dem er dem 8 Jahre älteren Franzosen Hector Berlioz (1803-69) sehr ähnlich war, der ebenfalls sehr radikale und neuartige Ideen und Auffassungen von dem hatte, was und wie er etwas mit seiner Musik ausdrücken wollte. So überrascht es nicht, dass Liszt mit Berlioz befreundet war und sich vor allem während seiner Zeit als Kapellmeister in Weimar (1848-1861) für die dortige Aufführung seiner von vielen Zeitgenossen verkannten Kompositionen einzusetzen.

So gesehen muss man also auch Liszts Rolle als Förderer (z. B. seinen späteren Schwiegersohn Richard Wagner) und Lehrer (z. B. seinen späteren Schwiegersohn Hans von Bülow) würdigen, dass er auf dem Gebiet des Klavierspiels allein schon in technischer Hinsicht nachfolgenden Generationen ganz neue Horizonte eröffnete, kommt noch hinzu.

Im Gegensatz zu Berlioz, der als ein Meister der Kunst der Instrumentierung bezeichnet werden kann, tat sich Liszt auf dem Gebiet der Orchestermusik doch etwas schwerer - er hatte sich das hierfür erforderliche Wissen erst relativ spät angeeignet und ist für die Instrumentierung seiner großen Orchesterwerke häufiger kritisiert (oder belächelt) worden.

Es fällt auf, dass es in diesem Jubiläumsjahr keine Gesamtaufnahme der Liszt'schen gegeben hat (so etwas ist in den vergangenen Jahren bei vielen anderen Jubilaren ja schon fast üblich geworden) - vielleicht liegt es am Umfang dieses Gesamtwerks, vielleicht aber auch an der Tatsache, dass viele Kompositionen Liszts offenbar noch nie auf Tonträger aufgenommen wurden - was ich schon sehr bezeichnend finde in Bezug auf den Umgang mit diesem Künstler!

Eigentlich schade um einige verpasste Chancen, hier eine Reihe von Weltersteinspielungen veröffentlichen zu können!

Von einigen wenigen interessanten Ausnahmen mal abgesehen, sind bislang in diesem Jahr hauptsächlich CDs herausgebracht worden, auf denen ältere und jüngere Pianisten sich in der Regel mit den eh hinlänglich bekannten und regelmäßig gespielten Klavierklassikern (wie z. B. die h-moll-Sonate, der Liebestraum Nr. 3, La Campanella oder die Tarantella) auseinandersetzen.

Listzs umfangreiches Klavierwerk ist bis heute meines Wissens tatsächlich nur einmal komplett eingespielt worden und zwar vom Australier Leslie Howard, der hierfür mehrere Jahre benötigte. Das Endergebnis umfasst immerhin 99 (!) CDs - was für eine Mammutleistung!

Viele der betont virtuosen Klavierstücke Liszts verlieren - so finde ich - auf CD einen Großteil ihrer eigentlichen Wirkung. Sie sind für einen Live-Vortrag konzipiert und man muss neben den erklingenden Tönen unbedingt auch das optische Element erleben können, wie sich der Pianist/ die Pianistin mit einem enormen körperlichen Einsatz das jeweils zu spielende Stück quasi "erkämpfen" muss! Das ist wirklich ein beeindruckendes Erlebnis und von Liszt wohl auch ganz bewusst als wichtiger Teil seiner Konzertperformance so mit einkalkuliert.

Ich hatte vor ein paar Jahren im Rahmen einer in relativ kleinem Kreise stattfindenden Veranstaltung die Gelegenheit, einen jungen osteuropäischen Pianisten (dessen Namen ich mir leider nicht gemerkt habe) aus nächster Nähe erleben zu können, wie er die "Don Juan-Reminiszenzen" dem Flügel quasi abrang - das war ausgesprochen spannend und begeisternd und seitdem sehe ich diese für Liszt so typischen Virtuosenstücke mit ganz anderen Augen (und mag mir diese auf CD eigentlich gar nicht mehr anhören)!

Zuvor hatten mich Stücke wie dieses, nur auf CD angehört, nämlich immer recht unbeeindruckt gelassen. Seitdem versuche ich, diese Art von Klaviermusik wenn möglich nur live im Konzert zu erleben - das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht!
In der Folge möchte ich noch ein paar Kompositionen Liszts aufzählen, die ich erwähnens- und durchaus hörenswert finde:

Für mich als Orgelmusik-Fan gibt es von Liszt tatsächlich auch ein paar ausgesprochen hörenswerte Kompositionen - allen voran die halbstündige (!) Fantasie und Fuge über den Choral "Ad nos, ad salutarem undam", die in ihren Ausmaßen und der hierfür erforderlichen Virtuosität ganz neue Maßstäbe für kommende Orgelkompositionen setzte. Besonders beachtlich finde ich die Tatsache, dass es sich bei diesem 1850 entstandenen Werk um Liszts erste Komposition für die Orgel überhaupt handelte! Auch das 1856 uraufgeführte Präludium und Fuge über B-A-C-H, ein Zeugnis der Verehrung Liszts für den großen Thomaskantor, dürfte nachfolgende Komponisten, ich denke da z. B. an Max Reger (1873-1916), beeinflusst haben. Außer diesen beiden wohl bekanntesten Werken, hat Liszt noch einige weitere Orgelkompositionen geschrieben, ähnlich wie im Klavierbereich finden sich hier dann auch einige Transkriptionen, also Stücke, die ursprünglich für andere Instrumente, bzw. für ein ganzes Orchester gedacht waren.

"Transkriptionen" ist ein gutes Stichwort - ich finde z. B. Liszts Übertragungen der 9 Beethoven-Symphonien für Klavier sehr gelungen. Zeugt von großem Geschick, dem Klavier den Klangreichtum eines ganzen Orchesters in überzeugender Manier übertragen zu können. Da nicht mit der erwähnten Virtuosität überladen, gehören diese Transkriptionen tatsächlich zu meinen liebsten Liszt-Klavierstücken!


Dann sind da natürlich noch die zum Teil sehr populär gewordenen Ungarischen Rhapsodien (Nr. 1 - 15 herausgegeben in den Jahren 1851 und 1853; Nr. 16 bis 19 in den Jahren 1882 bis 1886), die eigentlich gar nicht auf ungarischer Folklore beruhen, wie spätere Forschung auf diesem Gebiet ergeben hat. Besonders die Ungarische Rhapsodie Nr. 2 dürfte wohl zu den populärsten Melodien Liszts bzw. gleich der gesamten Klavierliteratur gehören (und die auch eine erstaunliche Beliebtheit bei den Machern US-amerikanischer Cartoons der 1930er bis 1950er Jahre erlangt hat - ich habe beim Anhören dieses Stücks immer Bugs Bunny vor Augen, wie er dieses Stück auf seine Weise am Flügel darbietet…).


Ansonsten kann ich sowohl den Klavierzyklus "Années de pèlerinage" (entstanden Mitte und Ende der 1830er Jahre), wie auch die berühmte h-moll-Sonate (Liszts wohl ambitioniertestes Klavierwerk, das - typisch für ihn - die altehrwürdige Bezeichnung "Sonate" wirklich nur als Titel trägt!) aus dem reichhaltigen Klavierwerk noch empfehlen.

Als Chorsänger mag ich Liszts im Jahr 1865 (dem Jahr, in dem er in Rom die "niederen Weihen" empfing und sich fortan Abbé nennen durfte) entstandene Missa choralis für gemischten Chor und Orgel sehr gern - der Komponist verwendet hier gregorianische Zitate und kombiniert diese mit neuen kompositorischen Elementen und einer kühnen Harmonik zu einer gelungenen Synthese aus Neuem und Altem. Auch hier steht er wieder im Gegensatz zu seinen komponierenden Zeitgenossen, die sich - aus seiner Sicht - ausschließlich mit Althergebrachtem auseinandersetzten. Die sogenannte Bewegung der "Cäcilianer" orientierte sich zur damaligen Zeit bei der Komposition geistlicher Musik nämlich gerade an einem an Palestrina (ca. 1514-1594) orientierten Stil. Liszts Drang, stets Neuerungen schaffen zu wollen, in denen bereits Bestehendes wenn überhaupt lediglich als Ausgangspunkt dient, setzte sich auch hier wieder einmal durch.

Seine populärsten Orchesterkompositionen dürften bis heute wohl die beiden Klavierkonzerte Nr. 1 Es-Dur (UA 1855 mit Liszt als Solist und Berlioz als Dirigenten) und Nr. 2 A-Dur (UA 1857) sein.
Auch der düster-bizarre Totentanz, eine Paraphrase über das gregorianische Dies irae für Klavier und Orchester (UA 1865), erklingt in diesem Zusammenhang häufiger - gerne auch in Kombination mit den beiden Konzerten, die (erstaunlich für Konzerte des 19. Jahrhunderts) beide jeweils nur ca. 20 Minuten dauern.

Das erste Klavierkonzert (das häufiger zu hören ist als das zweite) dürfte in puncto "markanter Beginn" gleichberechtigt neben anderen großen Klavierkonzerten der Romantik stehen - man vergleiche mal die jeweils ersten Takte bei Schumann, Grieg oder Tschaikowsky: Ich liebe diese "knackigen" Einstiege!

Donnerstag, 20. Oktober 2011

W. A. Mozarts "La clemenza di Tito" - Gedanken und CD-Kritiken

La clemenza di Tito kennt man heute eigentlich nur noch aufgrund der Tatsache, dass auch Wolfgang Amadé Mozart diesen Opernstoff in seinem Todesjahr 1791 vertont hat.

Im 18. Jahrhundert sah das allerdings noch ganz anders aus - damals gehörte La clemenza di Tito zu den beliebtesten und am häufigsten vertonten Opernlibretti überhaupt.

Den Autor, Pietro Metastasio (1698-1782), kann man durchaus als "Librettisten-Legende" betiteln - sein Einfluss auf die italienische Opera seria, die große, ernste Oper des 18. Jahrhunderts, kann nicht groß genug eingeschätzt werden.
In einem Zeitraum von ungefähr 50 Jahren (ca. 1725 bis 1765) waren die von ihm geschriebenen Libretti quasi das Maß aller Dinge und wurden entsprechend oft vertont. Und andere Librettisten, die sich auch im Bereich der Opera seria betätigen wollten, nahmen seine raffiniert gestalteten und elegant gedichteten Stücke als Vorbilder und verfassten ihre Texte im selben Stil.

Vor allem Metastasios Operntexte, die er in den 1720er und 1730er Jahren gedichtet hatte, tauchen im restlichen 18. Jahrhundert in immer wieder neuen Vertonungen auf den Spielplänen der europäischen Opernhäuser auf (außer in Frankreich), man stößt hier häufig auf Titel wie "Didone abbandonata", "Alessandro nell'Indie", "Ezio", "Semiramide", "Artaserse" oder eben auch auf die "Clemenza di Tito", die unter anderem von Antonio Caldara (1734), Leonardo Leo sowie Johann Adolf Hasse (1735), Christoph Willibald Gluck (1752) und Niccolò Jommelli (1753) vertont wurde.
Ein großer Vorteil dieser Libretti war die Tatsache, dass die meist recht allgemein gehaltenen Arien-Texte fast beliebig austauschbar waren und man so jeweils vor Ort Arien streichen bzw. gegen andere Kompositionen aus völlig anderen Opern austauschen konnte, wenn z. B. ein berühmter Solist als Gaststar auftrat und ein persönliches Paradestück mitbrachte, das im Rahmen der gerade anstehenden Opernaufführung dargeboten werden sollte.

Aus heutiger Sicht erscheint diese Beliebigkeit bzw. auch die Tatsache, dass viele Operntexte -zigfach vertont wurden, ohne dass dies irgendjemanden störte, sehr gewöhnungsbedürftig - aber Opern im 18. Jahrhundert waren in der Regel keine als solitäre Kunstwerke geschaffenen Kompositionen, die quasi singulär und für die Ewigkeit kreiert wurden, sondern für konkrete Anlässe repräsentativer oder unterhaltender Art produzierte Gebrauchsmusik, die normalerweise zu keiner späteren Gelegenheit wiederholt wurde und wenn, dann höchstens in modifizierter und an die neuen aufführungstechnischen Gegebenheiten vor Ort angepasster Form.
Diese Einstellung Opern als eigenständigen Kunstwerken gegenüber änderte sich wirklich grundlegend erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts - dann mussten sich die Ausführenden an eine schon bestehende Partitur anpassen, nicht umgekehrt.

Als Komponist, der von frühester Jugend an auch mit Opernmusik befasst war, hatte natürlich auch Mozart bereits reichlich Erfahrungen mit Metastasio-Texten machen können, bzw. müssen. An seinen Texten kam man - wie erwähnt - in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts einfach nicht vorbei, auch wenn die Machart seiner Libretti spätestens nach Glucks sehr einflussreichen "Reformopern" ab 1762 doch zunehmend als nicht mehr ganz zeitgemäß betrachtet wurde.
Die Tatsache, dass z. B. der Chor nahezu keine Rolle in den Metastasio-Opern spielte und die Solo-Arie fast ausnahmslos die einzige musikalische Gesangsdarbietung darstellte, wurde immer mehr als Manko empfunden, zumal zeitgleich der Siegeszug der italienischen Opera buffa mit ihren lebensnäheren Figuren und den zahlreichen Ensemblenummern eingesetzt hatte und die Publikumsgunst quasi im Sturm eroberte.

Schon Mozarts allererste Konzertarien sind auf Operntexte Metastasios komponiert worden und in den Folgejahren vertonte er mit Il sogno di Scipione (KV 126), Betulia liberata (KV 118) und Il rè pastore (KV 208) dann auch noch drei abendfüllende Libretti des berühmten kaiserlichen Hofdichters.
Und auch seine in Italien uraufgeführten Opern Mitridate (KV 87) und Lucio Silla (KV 135) sind von zwei anderen Poeten - natürlich! - "à la Metastasio" konzipiert und verfasst worden.

Mit dem Idomeneo (KV 366), der im Jahre 1781 in München uraufgeführt wurde, legte Mozart seine bis dahin ambitionierteste Opera seria vor - in ihr versuchte er alles das umzusetzen, was für ihn unverzichtbarer Bestandteil einer großen, ernsten Oper war: Ensembleszenen, Chöre, Tanzeinlagen und durchkomponierte, oft mehrere Szenen zu größeren Komplexen zusammenfassende Musik.
Hier erkennt man die Einflüsse Glucks, der französischen Oper und der Opera buffa, die im Idomeneo allesamt von Mozart zu einer meiner Meinung nach sehr gelungenen Mischung vereinigt wurden und als Ergebnis ein Werk ergeben, das wohl seiner Auffassung von einer zeitgemäßen Opera seria entsprochen haben dürfte (Mozart hielt große Stücke auf seinen Idomeneo).
In diesem Zusammenhang ist es interessant zu verfolgen, wie und in welch großem Umfang er Einfluss auf seinen Librettisten nahm, um hier tatsächlich das für ihn dramaturgisch und textlich bestmögliche Ergebnis zur Vertonung vorgelegt zu bekommen. Mit einem klassischen Metastasio-Libretto hat das Textbuch des Idomeneo dann auch nicht mehr allzu viel zu tun…

So gesehen überrascht es dann, dass Mozart 10 Jahre später mit der Clemenza di Tito tatsächlich noch einmal einen echten "Metastasio-Klassiker" zu vertonen hatte - das wirkt zunächst anachronistisch, aber wenn man näher hinsieht, kommen ein paar Punkte zum Vorschein, die das Ganze etwas relativieren:
Zum einen konnte Mozart es sich nicht leisten, einen derart gut dotierten (und ehrenvollen) Opernauftrag, der ihn im Sommer 1791 aus Prag erreichte, abzulehnen, da er sich seit Längerem schon in ziemlichen Geldnöten befand.
Man hatte sich anlässlich der Krönung von Kaiser Leopold II. zum böhmischen König für das altbewährte Textbuch der Clemenza di Tito entschieden (Krönungsfeierlichkeiten sind ja eigentlich nie besonders fortschrittliche Zeremonien, sondern man setzt hier im Gegenteil ja immer besonders auf Kontinuität und Tradition), wohl nicht zuletzt deshalb, weil der in diesem Stück als wahrer Ausbund an Güte, Weisheit und Milde gerühmte römische Kaiser Titus (der von 79 bis 81 n. Chr. herrschte) ein wunderbares Abbild des zu huldigenden Herrschers abgab - eine solche Figur musste dem jeweiligen fürstlichen Auftraggeber bzw. Widmungsträger ja schmeicheln…!

Ich kann mir gut vorstellen, dass Mozart diesen Auftrag, wäre er ca. 6 Jahre früher gekommen, wohl abgelehnt hätte, da er sich Mitte der 1780er Jahre gerade auf dem - leider viel zu kurzen! - Höhepunkt (auch in finanzieller Hinsicht) seines Erfolges in Wien befand und wohl auch gar keine Zeit gehabt hätte, parallel zu seinen zahlreichen Konzertverpflichtungen vor Ort extra für diese Aufführung nach Prag zu reisen.

Zum anderen spricht es aber für Mozarts Künstlerpersönlichkeit, dass er sich, trotz der finanziellen Notwendigkeit, die ihn zur Annahme dieses Kompositionsauftrags zwang, dennoch nicht mehr in der Lage fühlte, ein zu dem Zeitpunkt fast 60 Jahre altes Metastasio-Libretto "mit Haut und Haaren" zu vertonen (wie er es in seiner Jugendzeit noch getan hatte), sondern sich vorab der Möglichkeit versicherte, Modifikationen an diesem Textbuch vornehmen lassen zu dürfen, um das Ganze zumindest ein wenig quasi auf die "Höhe der Zeit" zu bringen.

Und hier kommt nun Caterino Mazzolà (1745-1806) ins Spiel. Der als kurfürstlich-sächsischer Hofpoet tätige Italiener hielt sich im Sommer 1791 in Wien auf und bekam die Aufgabe übertragen, das 1734 entstandene Libretto Metastasios etwas umzuarbeiten und "aufzupeppen", wobei ihm Mozart wahrscheinlich schon ziemlich genau mitgeteilt haben dürfte, was für Erwartungen und Vorstellungen er an ein solches "modernisiertes" Libretto hatte.

Das Ganze ist wieder mal ein Vorgang, den ich ausgesprochen spannend finde und ein Vergleich zwischen der Original-Version der "Clemenza di Tito" und der von Mazzolà vorgelegten Umarbeitung ist wirklich sehr aufschlussreich:

Mazzolà hat die ursprünglich dreiaktige Oper (das ist bei Metastasio die übliche Aktanzahl) auf zwei Akte verkürzt und kommt damit einer zu der Zeit wohl üblichen Tendenz nach - allein Mozarts vier letzte Opern ab dem Don Giovanni sind allesamt Zweiakter.

Die Handlung kürzt Mazzolà vor allem innerhalb des zweiten Akts des Originals:
Dieser beginnt mit Sestos Auftritt, während im Hintergrund das Kapitol zu brennen beginnt. Dem schließen sich nun zahlreiche Auftritte und Abgänge der übrigen Personen (außer Titus natürlich) an, mehrere Arien wären hier zu singen und Mazzolà strafft das Ganze nun sehr wirkungsvoll und integriert das alles in die neu geschaffene Finalszene des ersten Aktes, während der - völlig untypisch für eine Opera seria - sogar ansatzweise so etwas wie Spannung aufkommt, die sogar dadurch noch gesteigert wird, dass der Akt mit der gemeinschaftlichen Klage von Chor und Solisten um den vermeintlich dahingemeuchelten Imperator endet und man erst nach der Pause im zweiten Akt erfährt, dass die Titelfigur der Oper den Anschlag unverletzt überlebt hat.

Außerdem entfällt der ganze Szenenkomplex innerhalb des zweiten Akts des Originals, während dem Annius und Sextus ihre Mäntel tauschen (damit Letzterer sich unbehelligt in der Stadt bewegen kann) und Annius - natürlich! - aufgrund des verräterischen Mantels von Titus fälschlicherweise als der Attentäter identifiziert wird, was wiederum Anlass gibt für ein paar Verzweiflungs-, Wut- und Entrüstungsarien (nämlich von Annius, Titus und Servilia), bevor sich die ganze Sache dann doch aufklärt, weil der Mitverschwörer Lentulus gestanden hat, dass Sextus (und nicht Annius) in die Verschwörung involviert war.
Diese, den eigentlichen Fortgang der Handlung doch etwas ungeschickt retardierende Episode, die zudem durch das sonst meist nur in Komödien vorkommende Verwechslungselement aufgrund vertauschter Kleidungsstücke enthält, was in diesem Rahmen dann doch etwas deplatziert wirkt, machte Mazzolà als Bearbeiter die Entscheidung, gerade hier den Rotstift anzusetzen, wahrscheinlich recht leicht.

Und so tritt, sobald Sextus seinem Freund Annius zu Beginn des bearbeiteten zweiten Aktes grade eben seine Mittäterschaft gestanden hat, dann auch schon Publius mit der Nachricht auf, dass er Sextus festnehmen und dem Senat zum Verhör vorführen müsse.

Ebenfalls gelungen finde ich die Einbindung mehrerer Ensembleszenen (Duette, Terzette, etc.), deren Gesangstexte Mazzolà fast ausschließlich aus den Rezitativ-Dialogen Metastasios gewonnen hat und die er geschickt erweitert bzw. im Versmaß angepasst hat.
Das schöne Duett zwischen Annius und Servilia im ersten Akt hat Mazzolà z. B. aus zwei aufeinanderfolgenden Arien dieser beiden Figuren gewonnen, in dem er beide Texte leicht modifiziert einfach in ein Duett zusammengelegt hat und somit die Liebenden nun mit- statt nacheinander singen lässt, was ja auch viel naheliegender ist, wenn man es mal so betrachtet - der Mann verstand sein dichterisches Handwerk, das muss man sagen!

Gestrichen wurden im Gegenzug eine ganze Reihe von Arien (Metastasios Libretti sehen bis auf ganz wenige Ausnahmen sowieso nur einen Wechsel zwischen Rezitativen und Solo-Arien vor, immerhin gibt es in der "Clemenza" auch zwei Chorauftritte, die Mazzolà dann auch prompt beibehält), wobei vor allem die Figur der Servilia eine ganz neue Gewichtung erhält - hat sie im Original noch ganze 5 Arien zu singen (genau so viel wie die beiden Hauptfiguren Sextus und Vitellia), bleibt ihr in der Neufassung gerade mal noch eine einzige Solonummer, während Sextus und Vitellia immerhin noch jeweils 2 Arien für sich verbuchen können.

Hatte Titelheld Titus im Original immerhin 4 Soloarien, kommt er mit 3 ihm jetzt verbleibenden Arien noch am besten weg - er ist in der Neufassung die Figur mit den meisten Solonummern - seine beiden zusätzlichen ausdrucksvollen orchesterbegleiteten Rezitative sowie die Solostelle in der Chornummer in der Mitte des zweiten Aktes mal gar nicht mitgerechnet (das alles überrascht natürlich schon deshalb nicht, weil die Figur des römischen Kaisers ja die eigentliche Huldigung an den frisch gekrönten Leopold darstellte, für den der ganze Aufwand ja betrieben wurde)!
Dass alle Figuren der Oper quasi als Ersatz für ihre gestrichenen Arien nun mehrfach an Ensemblenummern beteiligt sind, wertet deren Rollen aber natürlich auch wieder auf.

Das fertig bearbeitete Libretto bietet nun einen relativ bunten Wechsel von Solo- und Ensemblenummern und dürfte somit den Anforderungen Mozarts an ein wenigstens ansatzweise zeitgemäßes Libretto für eine Opera seria entsprochen haben, denn er vermerkt in seinem eigenhändig seit 1784 geführten Werkverzeichnis, dass Mazzolà den Titus erst zu einer "wahren Oper" gemacht habe - ein Lob, das für einen musikdramatisch so ungemein talentierten Künstler wie Mozart nicht hoch genug eingeschätzt werden kann!

Die Musik, die Mozart für diese Oper nun innerhalb recht kurzer Zeit (die aber für seine Verhältnisse gar nicht mal so knapp bemessen war) komponiert hat, ist in seinem typischen "Spätstil" verfasst (so tragisch es ist, bei einem gerade mal 35-Jährigen von "Spätstil" sprechen zu müssen) - der von größter Dichte und Knappheit und einer oft mitschwingenden melancholisch-abgeklärten Note durchzogen ist.

Dass Mozarts Schüler Franz Xaver Süßmayr (1766-1803), der später auch das Requiem-Fragment vollendete, ihm aller Wahrscheinlichkeit nach bei der Komposition der Secco-Rezitative geholfen hat, ist sicherlich für Mozart ungewöhnlich, zeigt für mich aber, welches Vertrauen er in Süßmayrs Fähigkeiten hatte (was man bei der Bewertung von dessen gerne gescholtener Requiem-Vervollständigung auch einmal berücksichtigen sollte).

Mir fällt beim Anhören der Titus-Musik immer wieder die teilweise geradezu frappante Kürze einiger Musiknummern auf (in der zeitgleich entstandenen Zauberflöte gibt es aber auch ein paar dieser ganz knapp gefassten Nummern) - man muss wirklich bewundern, dass Mozart es fertigbringt, auf allerkürzestem Raum den Kern der Aussage, die er musikalisch rüberbringen möchte, zu treffen und es nicht nötig hat, sich auf einem einmal gefundenen schönen melodischen Gedanken durch Wiederholungen und zahllose Abwandlungen "auszuruhen", wie es sicher so mancher andere Komponist getan hätte...

Das ist an all dem meiner Meinung nach eigentlich die größte Kunst: Dieses souveräne Beherrschen des epigrammatisch Kurzen und die künstlerische Selbstbeschränkung auch nur darauf - nicht mehr und nicht weniger! Das ist wie bei einem Maler, der mit ein paar wie nebenbei hingeworfenen Strichen eine skizzenartige Szene aufs Papier wirft, die bereits alles Notwendige enthält und für die keine weitere Ausmalung und Hinzufügung mehr erforderlich ist - auch, weil dann womöglich der Charakter des Spontanen und zielsicher Treffenden wieder verloren ginge!

Dieses Charakteristikum teilweise ganz erstaunlicher Knappheit bezieht sich in der Titus-Partitur vor allem auf zahlreiche Ensemblenummern und auch auf die Arien der Nebenfiguren Servilia, Annio und Publio.

Der Figur des Titus hat Mozart eher repräsentative Arien zugewiesen - diese klingen denn von allen auch am ehesten der Konvention verhaftet, manchmal kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Mozart hier auch ein bisschen mit dem Stilmittel der Parodie arbeitet und sich - ganz subtil - über typische Seria-Arien nobler Herrscherfiguren lustig macht. Die Titus-Arie "Se all'impero" im zweiten Akt mit ihren ausgiebigen Koloraturen und ihrer typischen Dreiteiligkeit scheint mir dafür ein besonders gutes Beispiel zu sein - so schön und nobel dieses Musikstück auch rüberkommt, Mozarts Souveränität erlaubte ihm, sich selbst hier auf ganz unterschwellige Art und Weise ein wenig lustig zu machen über die üblichen "Zutaten", die für eine Arie wie diese im Allgemeinen erwartet wurden und die anzuwenden er eigentlich nicht (mehr) nötig hatte.

Richtig aus sich herausgehen konnte Mozart - und das hört man auch - bei den großen Arien der beiden Hauptfiguren Vitellia und Sesto:
Hier nimmt er sich Zeit und verzichtet auf die sonst in dieser Oper quasi allgegenwärtige Knappheit der Form. Die beiden Rondos im zweiten Akt und Sestos "Parto, ma tu ben mio" im ersten Akt sind definitiv die musikalischen Höhepunkte der ganzen Oper - in zwei Fällen zusätzlich geadelt durch den Einsatz der Soloklarinette, bzw. des Bassetthorns (eine Klarinette, deren tiefer Tonumfang erweitert wurde), die dort mit der jeweiligen Gesangsstimme konzertieren. Beide Stücke sind Mozarts Freundschaft mit dem Klarinettisten Anton Stadler (1753-1812) zu verdanken, dem er diese Soli quasi ins Rohrblatt schrieb und der ihn für die Aufführung der Oper nach Prag begleitete. Man merkt dem Tonfall gerade dieser Klarinetten-Arien die zeitliche Nähe zum ebenfalls für Anton Stadler komponierten berühmten Klarinettenkonzert (KV 622) deutlich an - ganz großartige Musik!

Mit ihrer abgeklärten, durch und durch schönen Musik, die fern von allen Extremen scheint, ist Mozarts Titus für mich - neben einigen Opern des späten Gluck oder auch einigen, etwas später um die Wende zum 19. Jahrhundert entstandenen Werken Cherubinis - der ideale Ausdruck dessen, was man als "musikalischen Klassizismus" bezeichnen könnte!

Obwohl die Clemenza di Tito (KV 621) (6. September) dreieinhalb Wochen vor der Zauberflöte (KV 620) (30. September) ihre Uraufführung erlebte, trägt sie im chronologischen Köchel-Verzeichnis die höhere Nummer - das hat mich lange irritiert, aber ich vermute mal, dass es ganz einfach damit zusammenhängt, dass Mozart die Arbeit an der Zauberflöte schon fast beendet hatte, als ihn der ja relativ kurzfristige Auftrag für den Titus erreichte, das dürfte für die Nummerierung in der heute bekannten Weise dann wohl den Ausschlag gegeben haben.


Nun aber noch zu den Aufnahmen dieser Oper, mit denen ich mich etwas eingehender beschäftigt habe:

Tito: Anthony Rolfe Johnson
Sesto: Anne Sofie von Otter
Vitellia: Julia Varady
Servilia: Sylvia McNair
Annio: Catherine Robbin
Publio: Cornelius Hauptmann
The Monteverdi Choir
The English Baroque Soloists
Dir.: John Eliot Gardiner

Aufnahmedatum: Juni 1990


Zunächst - Orchester und Solisten dieser Aufnahme sind tadellos; exzellente Stimmen, ein akkurat aufspielendes Instrumentalensemble, da gibt es nichts zu bemängeln!

Aaaaber:
Die Interpretation Gardiners gefällt mir persönlich überhaupt nicht!
La Clemenza di Tito ist eine Krönungsoper, komponiert für einen festlichen Anlass.
Schon beim Anhören der Ouvertüre vermisse ich beim sehr transparenten, fast schon kammermusikalischen Klang der English Baroque Soloists ein bisschen die "sinfonische Substanz" des Ganzen.
Ein großes Manko scheint mir vor allem das gewählte, sehr schnelle Grundtempo dieser Opernaufnahme.
Es ist ein Charakteristikum vieler im Geiste der historisch informierten Aufführungspraxis entstandenen Aufnahmen der 1980er und zum Teil auch noch der 1990er Jahre, teilweise schon überzogen schnelle Tempi zu wählen - man hat fast den Eindruck, das dies vor gut 20 Jahren eine Art Hauptkriterium gewesen zu sein scheint: "Spielt möglichst so flott, wie es bisher noch niemand zuvor fertiggebracht hat, dann ist das Ganze schon mal historisch-authentisch und erhält auf jeden Fall die marketingtechnisch erforderliche Aufmerksamkeit, die für gute Verkaufszahlen der neuen Aufnahme erforderlich ist!" - das scheint, etwas überspitzt formuliert, für viele Ensembles seinerzeit - neben der Verwendung historischer Instrumente - das oberste Gestaltungsprinzip gewesen zu sein und John Eliot Gardiner stand hierbei durchaus mit mehreren Produktionen mit an der Spitze dieser stets einander überbieten wollenden "Geschwindigkeitsrekorde" (ich hatte zeitweise wirklich den Eindruck, das Ganze artet in einer Art "Wer schafft's noch schneller?"-Wettbewerb aus), ich erinnere mich z. B. an seine Aufnahmen der Bach-Passionen, die mich in diesem Punkt doch sehr enttäuscht haben, weil alles so fix "durchgehechelt" wurde.

Die vorliegende Aufnahme der "Clemenza di Tito" erfüllt leider genau diese Kriterien.
Vieles klingt hier zu leichtfüßig, ja fast nebensächlich oder beiläufig (z. B. der Marsch im ersten Akt), manches wirkt dadurch für mein Empfinden etwas zu routiniert und lieblos.
Irgendwie kommt bei dem Ganzen wenig Festlichkeit oder Theatralik auf, was eventuell auch der Tatsache geschuldet sein mag, dass diese Einspielung im Rahmen einer konzertanten Live-Aufnahme entstanden ist und die bühnentechnischen Aspekte dadurch etwas auf der Strecke geblieben sind (man höre z. B. nur einmal Sestos orchesterbegleitetes Rezitativ am Ende des ersten Aktes an - da fehlt mir einfach die hier ja eigentlich reichlich vorhandene Dramatik).
Die Soloklarinette in Sestos Arie "Parto, ma tu ben mio" kommt aufgrund des hohen Tempos kaum mit, die Wirkung verblasst dadurch fast ganz, zumal die Tonregie es nicht fertiggebracht hat, die Klarinette ein wenig in den Vordergrund zu stellen, sie "gurgelt" verzweifelt ihre rasenden Passagen irgendwo verloren im Hintergrund.

Ich bin froh, dass man offenbar nun schon seit einigen Jahren erkannt hat, dass eine übertriebene Geschwindigkeit vielleicht doch nicht das alleinige "Allheilmittel" ist, mit dem man sich - neben der Verwendung alter Instrumente - von traditionelleren Interpretationen abheben kann. Die hier rezensierte Titus-Aufnahme fällt aber leider noch in genau diese Zeit.

Leider sind auch die Seccorezitative erheblich gekürzt worden (was evtl. auch der Konzertsituation geschuldet war?), wobei ich leider anmerken muss, dass mir keine Aufnahme bekannt ist, wo hier keine - mehr oder weniger umfangreichen - Kürzungen vorgenommen wurden! Keine Ahnung, warum man es nicht für nötig empfindet, dem Zuhörer zur Abwechslung einmal die ungekürzten Rezitative darzubieten; im Theater kann man da ja immer noch Striche anbringen, aber für eine exemplarische Einspielung könnte man sich ja vielleicht diese Mühe mal machen. Außerdem stört mich das in dieser Aufnahme eingesetzte Hammerklavier - ein Cembalo klingt einfach eleganter und geht klanglich auch an den wenigen Stellen, in denen es mit dem Orchester zusammen zum Einsatz kommt, nicht einfach im Streicherklang unter.

Tito: Peter Schreier
Sesto: Teresa Berganza
Vitellia: Julia Varady
Servilia: Edith Mathis
Annio: Marga Schiml
Publio: Theo Adam
Rundfunkchor Leipzig
Staatskapelle Dresden
Dir.: Karl Böhm

Aufnahmedatum: Januar 1979


Was für ein Gegensatz liegt zwischen dieser und der zuvor erwähnten Gardiner-Einspielung!
Erstaunlich, dass es sich in beiden Fällen um dieselben Noten handelt - aber gerade diese großen Unterschiede zwischen Aufnahme A und B machen das Ganze ja auch so spannend!
Karl Böhm geht diese Einspielung mit deutlich langsamerem Grundtempo an (noch schneller als Gardiner wäre auch schlecht möglich) und die Staatskapelle Dresden trägt ihren Teil dazu bei, dass das Ganze eher sinfonisch und festlich klingt - teilweise nicht nach Oper, sondern mehr nach Oratorium, was mir persönlich aber vom Gesamtergebnis her doch deutlich besser gefällt, als die vorher beschriebene Interpretation.

Gerade die Chorszenen geraten bei Böhm sehr beeindruckend, weil er sich genügend Zeit lässt, z. B. den Chor, der im zweiten Akt von Vitellias großer Soloszene zum Schlussbild überleitet, auch seine feierliche Wirkung voll entfalten zu lassen: Das Ganze klingt hier tatsächlich nach einem Huldigungsmarsch (was im gesungenen Text des Chores ja auch angelegt ist), bei dem auch die eingesetzten Pauken schön zur Wirkung kommen können.
Mich erinnert dieser Chor immer an einen Satz aus einer Mozart-Messe, aber genau diese Assoziation trifft die Stimmung dieser Szene ja eigentlich sehr genau. Bei Gardiner wird dieser Chor in knapp 2 Minuten durchgepeitscht und wirkt auf mich eher wie eine Art Geschwindmarsch, wobei die festliche Wirkung hier natürlich komplett auf der Strecke bleibt; Böhm braucht hingegen fast dreieinhalb Minuten für denselben Satz - wirklich interessant, wie unterschiedlich man ein und dasselbe Musikstück interpretieren kann!

Auch die oben erwähnte Arie "Parto, ma tu ben mio" wird beim von Karl Böhm gewählten, deutlich moderateren Tempo ein wirklicher Ohrenschmaus: Wenn man der Soloklarinette die Zeit lässt, kann sie ihren Beitrag zu dieser Arie wunderbar entfalten. Die Wirkung ist - verglichen mit der Gardiner-Interpretation - plötzlich eine komplett andere.

Auch der aus drei einzelnen Nummern bestehende, sich effektvoll aufbauende Szenenkomplex am Ende des ersten Aktes kommt bei Böhm deutlich spannungsgeladener rüber (sofern man bei dieser Oper überhaupt von "Spannung" sprechen kann!), als es die Gardiner-Interpretation vermag.
Der den ersten Akt dann beschließende Trauergesang wirkt ebenfalls wie aus einer Messvertonung Mozarts exportiert - das mag so nicht jedermanns Sache sein, aber wenn man sich den Hintergrund der "Clemenza di Tito" als Huldigungs- und Krönungsoper ins Gedächtnis ruft, dann passt diese weihevolle, quasi-religiöse Atmosphäre eigentlich ganz gut.

Die auch hier wieder (zumindest ein wenig) gekürzten Seccorezitative wirken in dieser Aufnahme leider etwas hölzern und statisch - man hat das Gefühl, dass hier eine eher unliebsame "Pflichtübung" zelebriert wird, so uninspiriert klingt das. Als ob man hier demonstrieren wollte, dass die von Herrn Süßmayr komponierten Rezitative von ihrer Qualität her im Vergleich zur übrigen Mozart-Musik deutlich abfallen. Walter Taussig am Cembalo kann anscheinend nur schlichte Akkorde vorgeben, da gibt es weitaus raffiniertere Continuospieler am Tasteninstrument. Schade!

Die Solisten dieser Aufnahme sind gut, vor allem Julia Varady als Vitellia gefällt mir ausgesprochen, aber auch Teresa Berganza als Sesto. Marga Schiml als Annio hingegen enttäuscht etwas: Sie klingt etwas gouvernantenhaft und bringt auch manch überflüssiges Vibrato mit.
Peter Schreier in der Titelrolle mag nicht jedermanns Geschmack sein (bei ihm scheiden sich ja offensichtlich häufig die Geister), aber wie ich schon bei meiner Vorstellung der legendären Freischütz-Aufnahme unter der Leitung von Carlos Kleiber angemerkt habe, mag ich Peter Schreiers Tenor eigentlich ganz gerne und auch hier als Titus kann er sich durchaus hören lassen, wenn mir zugegebenermaßen Interpreten wie Anthony Rolfe Johnson oder Stuart Burrows dann doch noch etwas mehr zusagen.

Tito: Stuart Burrows
Sesto: Yvonne Minton
Vitellia: Janet Baker
Servilia: Lucia Popp
Annio: Frederica von Stade
Publio: Robert Lloyd
Chorus & Orchestra of the Royal Opera House, Covent Garden
Dir: Sir Colin Davis

Aufnahmedatum: Juli 1976


Wie Karl Böhm wählt auch Sir Colin Davis ein eher moderates, tendenziell jedoch ein klein wenig schnelleres Tempo für seine Titus-Aufnahme.
Auch sein Orchester besitzt einen vollen, sinfonischen Klang und der zum Einsatz kommende Chor scheint sogar groß besetzt zu sein, was natürlich den entsprechenden Szenen klanglich zu einem besonders voluminösen Klang verhilft.
Immerhin wird das Ganze dadurch nicht zäh oder langatmig. Allerdings vermisst man gerade am Ende des ersten Aktes die deutlich zupackendere Attitüde, die der Chor in der Böhm-Aufnahme an dieser Stelle hatte - hier klingt der Chor vor allem elegant und wie mit einem "Weichzeichner" aufgenommen.

Janet Baker als Vitellia mag nicht jedermanns Sache sein, sie kommt teilweise etwas scharfstimmig rüber (was ihrer sängerischen Gesamtleistung jedoch keinen Abbruch tut), wirkt aber nicht zuletzt in den Rezitativen wunderbar dramatisch, bzw. zum Teil geradezu wutschäumend, was ihre Interpretation dieser Rolle natürlich besonders eindrücklich macht!
Yvonne Minton verleiht ihrem Sesto eine recht helle (und damit sehr weiblich wirkende) Stimme, was ich etwas ungewohnt fand, da die meisten Interpretinnen dieser Rolle doch eher dem Mezzo-Fach zuzurechnen sein dürften. Stuart Burrows als Titus wirkt in dieser Aufnahme ganz besonders nobel und herrschaftlich.

Die auch hier leider wieder ein wenig gekürzten Seccorezitative werden sehr lebendig vorgetragen, wozu auch eine entsprechend flexible Begleitung durch das Cembalo (John Constable) kommt. Im Vergleich zu den hölzern interpretierten Rezitativen der Böhm-Aufnahme hat man den Eindruck, dass man hier völlig anderen Dialog-Gesang zu hören bekommt - es geht also doch!

Tito: Philip Langridge
Sesto: Ann Murray
Vitellia: Lucia Popp
Servilia: Ruth Ziesak
Annio: Delores Ziegler
Publio: László Polgár
Chor und Orchester der Oper Zürich
Dir.: Nikolaus Harnoncourt

Aufnahmedatum: März 1993


Von der Harnoncourt-Aufnahme aus Zürich besitze ich nur einen immerhin recht umfangreichen Querschnitt, der einen ganz guten Eindruck vermittelt.

Typisch für Herrn Harnoncourt ist das zwar transparent, aber längst nicht so dünn wie bei Gardiner klingende Orchester, dem der Dirigent die von ihm so bevorzugten, teils recht drastischen und abrupten Tempo- und Dynamikwechsel auferlegt.
So beginnt zum Beispiel das erste Duett der Oper in fast Böhm'schem Tempo (also betont langsam), nur um dann im zweiten Teil in eine schon fast übertriebene Geschwindigkeit auszubrechen - muss man diesen Gegensatz denn so drastisch ausdrücken? Ich finde das etwas übertrieben.
Der Marsch im ersten Akt kommt in einem derartigen Tempo daher, dass man diese Interpretation fast schon als parodistisch auffassen könnte - keine Ahnung, was das soll…
Etwas störend finde ich auch die zuweilen wie grelle Blitzschläge eingesetzten, "knatternd" dreinfahrenden Blechbläser an verschiedenen Stellen der Partitur!

Zum Glück lässt sich Harnoncourt für gefühlvolle Nummern wie dem Duett zwischen Annio und Servilia im ersten Akt oder Sestos "Parto, ma tu ben mio" deutlich mehr Zeit als Gardiner, was die Wirkung dieser Stücke sehr erhöht.

Leider wirkt der Chor ziemlich dröge (und auch etwas dumpf) - gerade am Ende des ersten Aktes bleibt die Wirkung seiner Einbeziehung in die Handlung total auf der Strecke, so trocken und teilnahmslos klingt er hier.

Ungewohnt finde ich Lucia Popp als Vitellia - sie klingt viel zu rein, zu wenig dämonisch, dramatisch und rachsüchtig (gerade auch im Vergleich zu den Damen Varady und Baker!). Frau Popp als Servilia zu besetzen (wie bei Davis) halte ich für die glücklichere Wahl.

Philip Langridge als Tito kommt leider ziemlich kurzatmig bis heiser rüber, ihm fehlt außerdem ein wenig die herrschaftliche Noblesse.

Persönlich würde ich die Aufnahme von Sir Colin Davis den anderen hier vorgestellten vorziehen, einige Sätze sind jedoch meiner Meinung nach in der Einspielung von Karl Böhm noch besser gelungen!


Tito: Eric Tappy
Sesto: Tatiana Troyanos
Vitellia: Carol Neblett
Servilia: Catherine Malfitano
Annio: Anne Howells
Publio: Kurt Rydl
Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor
Wiener Philharmoniker
Dir.: James Levine

Aufnahmedatum: Mai - Juni 1980


Zum Abschluss noch eine Empfehlung für eine wirklich gelungene Verfilmung der "Clemenza":
Die im Jahr 1980 unter der Regie des legendären Jean-Pierre Ponnelle (1932-88) entstandene Produktion, die die Darsteller in Kostümen der Mozartzeit in den Ruinen der Caracallathermen, auf dem Forum Romanum und am Titusbogen in Rom - als quasi an den "Originalschauplätzen" agieren lässt.

Bewusst künstlich gehalten (und damit mit dem an sich ja schon artifiziellen, gleichnishaften Libretto korrespondierend) kann man sich hier an wunderschönen Bildern und Kostümen erfreuen und die unvergleichliche, ganz spezielle Personenführung des genialen, viel zu früh verstorbenen Ponnelle genießen. Sehr beeindruckend und oft mit ganz einfachen Gesten und Interaktionen gestaltet.

Einer meiner liebsten Opernfilme überhaupt!